The Last Of A Melting Snow
Tim Klück
Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der britischen Polizei. Eben kamen sie, trotz der Glätte, noch zügig voran. Jetzt brachte eine Bombendrohung die Eincheckprozedur vor dem Eurotunnel völlig aus dem Lot und Mark in höchste Verzweiflung. Er wollte nur noch heim vor dem Reisechaos, Mitte Dezember. Mark steckte sich eine Gauloises an. Der Tabak machte ihn ein wenig schwindelig, doch das war beruhigend und verrückte ihn angenehm. Sein Kumpel und Nasentrinker Cedric wippte geistesabwesend auf dem Beifahrersitz, i-phonebestöpselt und kaute Smarties. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen der ungeduldig Reisenden dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.
Ein Wesen mit rosigem Gesicht blickte ihn unerwartet aus dem Nachbarauto an. Ihr Antlitz schimmerte hinter einem feinen Vorhang orangefarbener Flocken. Die dunkle Haarlocke umrahmte ihr Lächeln. Mark spürte in seiner Mitte eine Wärme, die eine Ahnung von Vertrautheit erzeugte. Er blies den Rauch gegen die beschlagene Scheibe und lächelte zurück. Die Liebe zerriss Seelen, wie niemand anders.
Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als er Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Kurz vor Weihnachten lieh er sich bei ihr den Ordner für Musikdidaktik aus, für die Prüfung, wie er vorgab, nur um sie zu sehen und wenige Tage später im Kino, ganz vorsichtig, ihre Hand zu streicheln. Neun Jahre! Was darauf folgte, wurde die Liebe seines Lebens. Es war so unzweifelhaft.
Mark wich zurück. Der Schädel eines wutentbrannt dreinblickenden Glatzkopfes hatte sich vor seine Gedanken geschoben. Das Leben war eine Fratze. Der Kerl im Auto glotzte finster, drückte den Kiefer vor und das Gaspedal durch. Mark senkte den Blick. Die Faust dieses eifersüchtigen Typen wollte er jedenfalls nicht riskieren. In seiner Hosentasche begann es zu vibrieren. Eine SMS von Anna. Die Hitze durchflutete ihn bis unter die Haarwurzeln. Hastig wühlte er das Handy heraus und starrte auf die Bremslichter des Volvos davor.
Mit der einen Hand hielt er das Lenkrad, mit der anderen öffnete er zitternd das Display, auf dem ein Viereckchen blinkte.
Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir
leid. Anna
Sein Innerstes flatterte, ihm war plötzlich glühend heiß. Er hatte den ganzen Tag auf Annas Antwort gewartet, jetzt schienen sich in seinem Herzen tausende Knoten zusammen zu ziehen. Der Wagen vor ihnen stoppte abrupt. Mark trat auf die Bremse, ihr Peugeot machte einen Satz und der Nasentrinker landete mit der Stirn auf der Scheibe.
"Hey, Mann, ich hätt mir fast…spinnst du?"
"Scheiße, hier geht nichts voran. Anna war`s.“
„Dachte, das wäre gegessen." Cedric rieb sich die Stirn.
"Verdammt!" Mark hämmerte aufs Lenkrad. Genau das wollte er nicht hören.
Fuck! Die Gefühle stülpten sich über den Verstand.
Die Heizung blies auf Hochtouren, unter seinem Pulli war Schweiß, er öffnete das Fenster und kalte Luft schmierte herein. Handbremse lockern, anfahren, bremsen. Der Blechwurm zwängte sich durch die Polizeikontrolle, wie die Verzweiflung in sein Herz.
So bräuchten sie noch Stunden für die ansonsten halbstündige Zugfahrt unter dem Ärmelkanal hindurch bis nach Calais und von dort über die Route National bis nach Aachen. Stunden, die diese Liebe nicht mehr hatte. Bin ab morgen 6 Wochen weg!
Mark steckte eine neue Kippe an und inhalierte, bis er den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?
Vor Monaten begann das Zweifeln. Wenn er in ihrer Nähe stand, zuckte sie unmerklich zusammen oder wurde hektisch, fing an, ihr Handy abzuschalten und war peinlich darauf bedacht, den Verlauf in ihrem Skype und Facebook zu löschen. Nachdem sie in den folgenden Wochen x-mal abends länger proben musste, er alleine zuhause das Abendbrot aß, hat er sich getraut zu fragen, was los sei. Er bemerkte das Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Die Enttäuschung darüber säte weiteren Zweifel. Er, der Luftikus und Musiker, sie, die zielstrebige und erfolgreichere. Genügte er ihr nicht mehr? Er hatte viel Raum zum Nachdenken. Wenn er nicht aufpasste, liefen seine schlechten Gedanken Amok.
Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last of a melting Snow, der Song, den er für sie geschrieben hatte, summte in seinem Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für ihn war diese Tour der erste Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch Mark wusste, dass er diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte. Neun Jahre. Er wollte nicht, dass die Gefühle jetzt hoch schwappten und ihn unter einer Welle aus Angst und Trostlosigkeit begruben. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in seiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in seinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?
Neben ihnen hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte ihn an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Sie gaffte immer noch. Zuerst sah er schnell weg, dann kehrte sein Blick zurück und blieb haften. Was wollte die bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie ihm zu und schon knallte es. Mark spürte den Schmerz der einschneidenden Gurte an seiner Brust, sein Kopf wurde zurückgerissen. Cedric schrie ein überraschtes „Fuck“ aus.
Mark rieb sich den Nacken.
Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand, schob die Brille zurecht und stapfte eilig durch den Schnee auf sie zu.
Auch das noch. Mark sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Schnee lagen. Der kalte Wind schlug ihm entgegen. Flocken dampften im Lichtkegel der Scheinwerfer. Die Stoßstange war eingedrückt.
„Verdammet, kannest du nischt aufpasse?“ Der bullige Behaarte baute sich vor ihm auf. Seine um mindestens drei Oktaven zu hohe Fistelstimme krächzte die Worte wie ein abgeschnürter Hahn hervor. Mark unterdrückte einen aufkommenden Husten.
„Tut mir wirklich leid. Ich habe einen Moment ...“, beschwichtigte er und räusperte sich in seine Hand.
Hektisch suchte er nach den Versicherungspapieren im Handschuhfach, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Nummern auf einen Zettel und reichte ihn dem Araber. Der notierte noch Marks Namen.
Im Volvo bewegten sich Kopftücher.
„Wahrscheinlich das Harem“, gluckste Cedric leise. Als er ihnen zunickte, schoben sie ihre Köpfe zusammen und kicherten.
Hinter ihnen hupten fluchend die wartenden Autos und bahnten sich einen Kreis um das Malheur. Nach einer Viertelstunde reihten sie sich wieder ein.
Neben ihm stopfte sich Cedric Chips in den Mund, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella. Wenn er ihn damit auf bessere Gedanken bringen wollte, gelang das nicht. Mark hing der Song aus den Ohren. Sein Denken kreiste um Anna.
"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine OK-Ich-Weiß-Dir-Geht’s-Scheiße-Mimik und verstummte. Verzweifelt bemerkte er, wie das letzte Quäntchen Zuversicht dahin schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe. Er wollte noch einmal in ihre Augen sehen. Sie bitten, bei ihm zu bleiben. Es konnte doch nicht einfach so vorbei sein. Der Rauch stach in seiner Lunge und er stieß ihn gegen die Armaturen. Er musste sich beeilen!
Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase.
Mark stützte sich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus. "Verdammt, pass doch auf."
Er schlug auf die Hupe. Dachte sie überhaupt noch an ihn? Ich liebe dich Anna, und du tust mir weh! Hat sie ihn je so geliebt, wie er sie liebte? Tränen juckten.
Im Wagen dampfte es, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands. Wieder ging es einige Meter vorwärts. Mark lies den Motor aufheulen.
"Scheiße, macht hinne!" Er zog die Nase hoch.
An der Kontrollstelle mussten sie ihre Pässe vorzeigen, der britische Bulle war eine extrem übergewichtige Frau mit eng anliegender Uniform, üppigem Oberbau und dick geschminkten, roten Lippen. Mit sonorem Ton hieß sie sie barsch auszusteigen. Wenn es denn unbedingt sein musste.
Ihr Kollege schickte den aufgeregt schnüffelnden Schäferhund mit Maulkorb um ihren Wagen. Sie deutete ihm, den Kofferraum des Transporters zu öffnen und blendete mit der Taschenlampe. Zwei andere Polizisten schoben Detektoren unter den Wagenboden.
"What's this?" Sie klopfte auf die Cases?
"Instruments. This is an electric guitar. And this a receiver. Drums."
"Open this."
"Be careful, please!" Scheiße, jetzt wollte die, dass Mark alle Instrumentencases öffnete. Bei dem Scheißwetter zogen die doch Feuchtigkeit.
Mark klappte vor der Policewoman den schwarzen Koffer seiner Gibson SG auf.
"This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany."
Das gepuderte Kinn der Politesse wabbelte. Dann verharrte ihr strenger Blick auf einer Plastikschatulle.
„What´s this?“
Mark zögerte. Er hatte keine Ahnung, was sich darin befinden könnte und blickte schulterzuckend zu Cedric. Doch der reagierte nicht.
„Sorry, don´t know.“
„Please open it!“
Sie mussten ihre Personalien aufnehmen lassen.
Cedric konnte Abgrund tief albern sein. Dildos mit Gesichtern der Königsfamilie als Souvenirs. Und Prinz Charles als Penis, war wirklich alles andere als ein schöner Anblick für eine britische Zollbeamtin.
Bei dem anschließenden ausführlichem Körpercheck, bei dem die Politesse genüsslich ihrem Kollegen zur Seite stand, griff der nicht allzu zimperlich auch zweimal zwischen Marks Schritt. Schließlich setzte sie ihre Terriermaske auf und bedeutete ihnen weiterzufahren.
„Boah, ist das widerlich! Wenn jemand schlecht gelaunt sein darf, dann bin ja wohl ich das! Von wegen schnelle Kanalüberquerung, Sauhaufen!"
Die Dicke zögerte einen Augenblick. Verstand sie etwa deutsch? Mark hielt die Klappe.
Cedric schlürfte an einer Dose Red Bull und grinste sich einen ab, als sie endlich wieder in ihren Sitzen saßen und der Motor jaulte.
"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er mampfend.
"Shit, du nervst einfach!" Mark hatte keinen Bock auf dieses Allerweltsgelaber. Doch insgeheim taten diese lapidare Kommentare seines Freundes gut. Er hatte Angst vor der Einsamkeit. Sie waren gut, um die wühlende Unruhe in Schach zu halten.
Ein in neongelb gekleideter Typ winkte sie auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Seine Gedanken zerfaserten, wie der Dunst in diesem trostlosen Verladebahnhof. Die grauen, bauchigen Waggons verschluckten sie. Rumpelnd über Eisenschwellen, folgten sie dem Vordermann und blieben nach einigen Metern auf ihrer Parkposition stehen.
Auf einer elektronischen Anzeigetafel an der Decke im Zugabteil lief ein Buchstabenband eine Schleife.
... Enjoy your Trip with Eurocitytrain!...
Cedric streckte sich und drückte dabei seine Handflächen gegen das Autodach.
„Ahhh, Alter, muss erst mal pissen.“ Mit diesen Worten war er schon ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für Mark die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen.
Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt verblasste sie zu einer Unwichtigkeit.
Mark lies das Fenster herunter und schnüffelte Waggonluft. Es roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich sah er in die blitzenden Augen der Alten. Sie starrte ihn an, lächelte, zeigte ihre krummen Zahnstümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink seine Aufmerksamkeit auf das Anzeigenband lenkte. Was wollte die bloß von ihm? Mark folgte ihrem Blick. Seltsamer Mensch.
Auf dem Band wanderten deutsche Worte von links nach rechts.
... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A .
Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich zwischen Mark und die sonderliche Frau. Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster. Er nahm mehrmals Anlauf bis das Ding endlich aufzischte, ihn von seiner Ungeschicklichkeit und den Blicken der Umherstehenden erlöste und in das Nebenabteil entließ.
Mark entdeckte zwei verschleierte Muslime, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Moslems hinten, Juden vorn. Ging doch! Irgendwie fand er diesen ganzen Religionsscheiß nervig. Wenn es einen Gott gäbe, dann ja wohl für alle der Gleiche. Deshalb musste man sich doch nicht so anstellen. Mark hätte sich gerne noch über allerlei solcher Unzulänglichkeiten lustig gemacht. Doch als er bemerkte, wie ein Pärchen weiter vorne sich umarmte, fiel ihm ein, dass das einzige Universelle und Grenzen überschreitende, wohl die Liebe sei.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Sein Blick stürmte die elektronische Anzeigetafel. Die Bestürzung nahm ihm den Atem. Bei allem, was ihm heilig war, das gab es doch nicht.
... Verbunden für immer! ...
ANNA ANNA ANNA ...
Adrenalin schoss durch seinen Körper. Konnte das Zufall sein? Das Band, dessen er sich stets bewusst war? Er versuchte sich wieder zu sammeln. Wo war die alte Frau? Marks Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden.
Cedrik kam zurück, reichte ihm eine Tüte Smarties und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand.
"Ehre den Gott der Juden, denn er ist auch mein Gott, ehre den Gott der Muslime, denn er ist auch mein Gott, ehre Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich einen vergessen?“
Mark blieb abwesend.
„Was ist denn mit dir los? Hast´ grad den Allmächtigen gesehen?“
„Schau!“, sagte er und deutete Richtung Anzeige.
Cedric Stand zuerst auf der Leitung.
„Och nee, Alterchen, ist es echt noch so schlimm! Cedric schaute zur Abwechslung mal ernst. Sie sahen sich stumm an. „Oh Mann, dich hats echt erwischt.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um.
... Wechseln Sie heute noch Ihren Telefonanbieter. Chose the Change! The European Company! NNAA ...
Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich Smarties in den Mund und hörte i-Phone. Mark dachte über die aufdringliche Oma, die Botschaft und Anna nach. Das konnte doch kein Zufall mehr sein. Denken. Seine Gedanken schlugen gegen einen elektrischen Zaun. Sein Kopf war wund vor lauter Denken.
Sie liebte Pflanzen über alles und lehrte ihn Elefantenohren, Strelitzien, Sukkulenten und Euphorbien zu unterscheiden. Die unzähligen Blumenkübel hatte sie nach dem ersten Nachtfrost mit hochgekrempelten Ärmeln und funkelnden Augen in die Wohnung geschleppt, Umsiedlung, Frostschutz, Spuren von Blumenerde und Tropfwasser nach sich ziehend. Hinter jeder Ecke lauerte fortan ein Farn.
Die grüne Zellulose war ihm gleichgültig, aber er liebte Anna, deshalb liebte er Zellulose. Was war dieses Zuhause? Sie war es. Sie machte ihn zu einem besseren Menschen. Er hatte Angst vor der Wahrheit.
Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Fünf Minuten ungefähr, dann spürten sie, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, wie konnte das sein?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Mark prustete auf.
Sie stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Mark spürte eine unheilvolle Beklemmung. Er wusste, es war reine Kopfsache, aber längst zuckte der Gedanke eines Anschlags unaufhörlich.
Es blieb dunkel, Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen, Mark schaute sich das ganze mit anderen Männern von nahem an. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Nichts ging mehr. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.
"Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach ihn von hinten an. Mark wirbelte herum.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Er blickte verwirrt in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau.
Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“
Ein Stück Metall krachte gegen die Scheibe. Sie zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt. Beeil dich!“
Langsam wurden ihm die seltsamen Worte unangenehm.
Das Geschrei eines Kindes, das mit seiner Mutter haderte, lenkte ihn ab.
Als er sich erneut umsah, war die Alte verschwunden. Er bahnte sich einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den er versehentlich anrempelte, strafte ihn mit Blicken. Er lief die nächsten drei Waggons ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergeblich, sie war wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen tanzte ihm Cedric entgegen.
„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“
Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab.
Mark wusste nicht mehr wo ihm der Kopf stand. Was er soeben gehört hatte berührte ihn. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Das gabs doch nicht! Woher wusste sie?
Das einzige, was er jetzt noch wollte, war Anna zu sehen! Und zwar so schnell wie möglich! Er musste sich beeilen.
Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an.
„Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Die Luft roch verbraucht. Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter.Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging eine Art Notbeleuchtung an.
Nach einer schier unendlich erscheinenden Zeit, ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Jude lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Moslem hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.
Unter normalen Umständen hätte er Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald sie aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um ihn genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf seiner Seele herumtrampelte? Dass sie ihn wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war er bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. Ein Bund für die Ewigkeit. Scheiße. Die Alte war total abgedreht.
Er kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen ihn.
Nachdem das Gedönse mit dem Zugdefekt gelöst schien, ging der Rest schnell.
Der Eurocity spuckte sie im Bahnhof von Calais aus. Auch hier schüttelte der Himmerl kräftig die eisigen Federn. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und schon waren sie auf offenem Land. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter ihnen hindurch. Vielleicht schafften sie es noch, vor zwei daheim zu sein. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete seine Lunge, als er sich die Kippe ansteckte.
Mark machte Cedric klar, dass er durchfahren würde, Klo und Getränkenachschub verkneifen musste.
Sollte er sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annes Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah Mark bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.
Mark sog die Luft ein, zitterte vor Kälte und Schiss, schnippte die Kippe weg.
Er stand um 3.23 Uhr unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden stierten herab.
Sie schliefen. Er klingelte. Die Sekunden dehnten sich und er klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Sein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Er zögerte!
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.
Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus seinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Er spürte, wie er all seine Hoffnung in diese beiden Worte legte und hörte, wie ihm die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"
Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an.
Sie stand vor ihm, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte er ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah den kleinen Sonnenfleck am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte ihn nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Er zog die Nase hoch und sagte:
"Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."
Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...
Er kramte aus einem Impuls heraus den Ring aus der Hose, ihren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Mark wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
„Mark, warum tust du dir das an?“ Ihre schönen Augen blickten auf seine Seele und aus seinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“
Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hört er nur das Rauschen des eisigen Windes.
Er konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte er sich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie ihm hinterher rief, doch sie blieb stumm, er lief die Straße weiter, um die nächste Ecke, bis er keuchend und weinend um Atem rang. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Er kickte gegen eine Tonne. Krachen. Er schrie! Die halbe Nacht irrte er durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte er, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an seiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, er weinte bitterlich, er fror und zitterte. Er suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!
In der kalten Wohnung zog er sich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch sich unter der Decke.
Er nahm die Gibson auf den Schoß und wischte sich mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Zuerst war es nur ein Akkord, dann wuchs die Strophe zu einer Melodie aus Tränen und Stolz, hingekritzelt auf einem Block und unzählige Male wiederholt und geschliffen. Er summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor seinem Fenster verdrängte.
Bis zwei Uhr schlief er. Danach rief er Cedric an. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Er deutete auf sein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“
„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte Mark auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Er begann sich zu häuten und streifte das Nachdenken ab.
Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Mark musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit - vorerst. Dann nahm er die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.
Tim Klück
Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der britischen Polizei. Eben kamen sie, trotz der Glätte, noch zügig voran. Jetzt brachte eine Bombendrohung die Eincheckprozedur vor dem Eurotunnel völlig aus dem Lot und Mark in höchste Verzweiflung. Er wollte nur noch heim vor dem Reisechaos, Mitte Dezember. Mark steckte sich eine Gauloises an. Der Tabak machte ihn ein wenig schwindelig, doch das war beruhigend und verrückte ihn angenehm. Sein Kumpel und Nasentrinker Cedric wippte geistesabwesend auf dem Beifahrersitz, i-phonebestöpselt und kaute Smarties. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen der ungeduldig Reisenden dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.
Ein Wesen mit rosigem Gesicht blickte ihn unerwartet aus dem Nachbarauto an. Ihr Antlitz schimmerte hinter einem feinen Vorhang orangefarbener Flocken. Die dunkle Haarlocke umrahmte ihr Lächeln. Mark spürte in seiner Mitte eine Wärme, die eine Ahnung von Vertrautheit erzeugte. Er blies den Rauch gegen die beschlagene Scheibe und lächelte zurück. Die Liebe zerriss Seelen, wie niemand anders.
Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als er Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Kurz vor Weihnachten lieh er sich bei ihr den Ordner für Musikdidaktik aus, für die Prüfung, wie er vorgab, nur um sie zu sehen und wenige Tage später im Kino, ganz vorsichtig, ihre Hand zu streicheln. Neun Jahre! Was darauf folgte, wurde die Liebe seines Lebens. Es war so unzweifelhaft.
Mark wich zurück. Der Schädel eines wutentbrannt dreinblickenden Glatzkopfes hatte sich vor seine Gedanken geschoben. Das Leben war eine Fratze. Der Kerl im Auto glotzte finster, drückte den Kiefer vor und das Gaspedal durch. Mark senkte den Blick. Die Faust dieses eifersüchtigen Typen wollte er jedenfalls nicht riskieren. In seiner Hosentasche begann es zu vibrieren. Eine SMS von Anna. Die Hitze durchflutete ihn bis unter die Haarwurzeln. Hastig wühlte er das Handy heraus und starrte auf die Bremslichter des Volvos davor.
Mit der einen Hand hielt er das Lenkrad, mit der anderen öffnete er zitternd das Display, auf dem ein Viereckchen blinkte.
Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir
leid. Anna
Sein Innerstes flatterte, ihm war plötzlich glühend heiß. Er hatte den ganzen Tag auf Annas Antwort gewartet, jetzt schienen sich in seinem Herzen tausende Knoten zusammen zu ziehen. Der Wagen vor ihnen stoppte abrupt. Mark trat auf die Bremse, ihr Peugeot machte einen Satz und der Nasentrinker landete mit der Stirn auf der Scheibe.
"Hey, Mann, ich hätt mir fast…spinnst du?"
"Scheiße, hier geht nichts voran. Anna war`s.“
„Dachte, das wäre gegessen." Cedric rieb sich die Stirn.
"Verdammt!" Mark hämmerte aufs Lenkrad. Genau das wollte er nicht hören.
Fuck! Die Gefühle stülpten sich über den Verstand.
Die Heizung blies auf Hochtouren, unter seinem Pulli war Schweiß, er öffnete das Fenster und kalte Luft schmierte herein. Handbremse lockern, anfahren, bremsen. Der Blechwurm zwängte sich durch die Polizeikontrolle, wie die Verzweiflung in sein Herz.
So bräuchten sie noch Stunden für die ansonsten halbstündige Zugfahrt unter dem Ärmelkanal hindurch bis nach Calais und von dort über die Route National bis nach Aachen. Stunden, die diese Liebe nicht mehr hatte. Bin ab morgen 6 Wochen weg!
Mark steckte eine neue Kippe an und inhalierte, bis er den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?
Vor Monaten begann das Zweifeln. Wenn er in ihrer Nähe stand, zuckte sie unmerklich zusammen oder wurde hektisch, fing an, ihr Handy abzuschalten und war peinlich darauf bedacht, den Verlauf in ihrem Skype und Facebook zu löschen. Nachdem sie in den folgenden Wochen x-mal abends länger proben musste, er alleine zuhause das Abendbrot aß, hat er sich getraut zu fragen, was los sei. Er bemerkte das Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Die Enttäuschung darüber säte weiteren Zweifel. Er, der Luftikus und Musiker, sie, die zielstrebige und erfolgreichere. Genügte er ihr nicht mehr? Er hatte viel Raum zum Nachdenken. Wenn er nicht aufpasste, liefen seine schlechten Gedanken Amok.
Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last of a melting Snow, der Song, den er für sie geschrieben hatte, summte in seinem Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für ihn war diese Tour der erste Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch Mark wusste, dass er diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte. Neun Jahre. Er wollte nicht, dass die Gefühle jetzt hoch schwappten und ihn unter einer Welle aus Angst und Trostlosigkeit begruben. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in seiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in seinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?
Neben ihnen hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte ihn an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Sie gaffte immer noch. Zuerst sah er schnell weg, dann kehrte sein Blick zurück und blieb haften. Was wollte die bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie ihm zu und schon knallte es. Mark spürte den Schmerz der einschneidenden Gurte an seiner Brust, sein Kopf wurde zurückgerissen. Cedric schrie ein überraschtes „Fuck“ aus.
Mark rieb sich den Nacken.
Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand, schob die Brille zurecht und stapfte eilig durch den Schnee auf sie zu.
Auch das noch. Mark sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Schnee lagen. Der kalte Wind schlug ihm entgegen. Flocken dampften im Lichtkegel der Scheinwerfer. Die Stoßstange war eingedrückt.
„Verdammet, kannest du nischt aufpasse?“ Der bullige Behaarte baute sich vor ihm auf. Seine um mindestens drei Oktaven zu hohe Fistelstimme krächzte die Worte wie ein abgeschnürter Hahn hervor. Mark unterdrückte einen aufkommenden Husten.
„Tut mir wirklich leid. Ich habe einen Moment ...“, beschwichtigte er und räusperte sich in seine Hand.
Hektisch suchte er nach den Versicherungspapieren im Handschuhfach, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Nummern auf einen Zettel und reichte ihn dem Araber. Der notierte noch Marks Namen.
Im Volvo bewegten sich Kopftücher.
„Wahrscheinlich das Harem“, gluckste Cedric leise. Als er ihnen zunickte, schoben sie ihre Köpfe zusammen und kicherten.
Hinter ihnen hupten fluchend die wartenden Autos und bahnten sich einen Kreis um das Malheur. Nach einer Viertelstunde reihten sie sich wieder ein.
Neben ihm stopfte sich Cedric Chips in den Mund, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella. Wenn er ihn damit auf bessere Gedanken bringen wollte, gelang das nicht. Mark hing der Song aus den Ohren. Sein Denken kreiste um Anna.
"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine OK-Ich-Weiß-Dir-Geht’s-Scheiße-Mimik und verstummte. Verzweifelt bemerkte er, wie das letzte Quäntchen Zuversicht dahin schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe. Er wollte noch einmal in ihre Augen sehen. Sie bitten, bei ihm zu bleiben. Es konnte doch nicht einfach so vorbei sein. Der Rauch stach in seiner Lunge und er stieß ihn gegen die Armaturen. Er musste sich beeilen!
Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase.
Mark stützte sich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus. "Verdammt, pass doch auf."
Er schlug auf die Hupe. Dachte sie überhaupt noch an ihn? Ich liebe dich Anna, und du tust mir weh! Hat sie ihn je so geliebt, wie er sie liebte? Tränen juckten.
Im Wagen dampfte es, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands. Wieder ging es einige Meter vorwärts. Mark lies den Motor aufheulen.
"Scheiße, macht hinne!" Er zog die Nase hoch.
An der Kontrollstelle mussten sie ihre Pässe vorzeigen, der britische Bulle war eine extrem übergewichtige Frau mit eng anliegender Uniform, üppigem Oberbau und dick geschminkten, roten Lippen. Mit sonorem Ton hieß sie sie barsch auszusteigen. Wenn es denn unbedingt sein musste.
Ihr Kollege schickte den aufgeregt schnüffelnden Schäferhund mit Maulkorb um ihren Wagen. Sie deutete ihm, den Kofferraum des Transporters zu öffnen und blendete mit der Taschenlampe. Zwei andere Polizisten schoben Detektoren unter den Wagenboden.
"What's this?" Sie klopfte auf die Cases?
"Instruments. This is an electric guitar. And this a receiver. Drums."
"Open this."
"Be careful, please!" Scheiße, jetzt wollte die, dass Mark alle Instrumentencases öffnete. Bei dem Scheißwetter zogen die doch Feuchtigkeit.
Mark klappte vor der Policewoman den schwarzen Koffer seiner Gibson SG auf.
"This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany."
Das gepuderte Kinn der Politesse wabbelte. Dann verharrte ihr strenger Blick auf einer Plastikschatulle.
„What´s this?“
Mark zögerte. Er hatte keine Ahnung, was sich darin befinden könnte und blickte schulterzuckend zu Cedric. Doch der reagierte nicht.
„Sorry, don´t know.“
„Please open it!“
Sie mussten ihre Personalien aufnehmen lassen.
Cedric konnte Abgrund tief albern sein. Dildos mit Gesichtern der Königsfamilie als Souvenirs. Und Prinz Charles als Penis, war wirklich alles andere als ein schöner Anblick für eine britische Zollbeamtin.
Bei dem anschließenden ausführlichem Körpercheck, bei dem die Politesse genüsslich ihrem Kollegen zur Seite stand, griff der nicht allzu zimperlich auch zweimal zwischen Marks Schritt. Schließlich setzte sie ihre Terriermaske auf und bedeutete ihnen weiterzufahren.
„Boah, ist das widerlich! Wenn jemand schlecht gelaunt sein darf, dann bin ja wohl ich das! Von wegen schnelle Kanalüberquerung, Sauhaufen!"
Die Dicke zögerte einen Augenblick. Verstand sie etwa deutsch? Mark hielt die Klappe.
Cedric schlürfte an einer Dose Red Bull und grinste sich einen ab, als sie endlich wieder in ihren Sitzen saßen und der Motor jaulte.
"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er mampfend.
"Shit, du nervst einfach!" Mark hatte keinen Bock auf dieses Allerweltsgelaber. Doch insgeheim taten diese lapidare Kommentare seines Freundes gut. Er hatte Angst vor der Einsamkeit. Sie waren gut, um die wühlende Unruhe in Schach zu halten.
Ein in neongelb gekleideter Typ winkte sie auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Seine Gedanken zerfaserten, wie der Dunst in diesem trostlosen Verladebahnhof. Die grauen, bauchigen Waggons verschluckten sie. Rumpelnd über Eisenschwellen, folgten sie dem Vordermann und blieben nach einigen Metern auf ihrer Parkposition stehen.
Auf einer elektronischen Anzeigetafel an der Decke im Zugabteil lief ein Buchstabenband eine Schleife.
... Enjoy your Trip with Eurocitytrain!...
Cedric streckte sich und drückte dabei seine Handflächen gegen das Autodach.
„Ahhh, Alter, muss erst mal pissen.“ Mit diesen Worten war er schon ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für Mark die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen.
Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt verblasste sie zu einer Unwichtigkeit.
Mark lies das Fenster herunter und schnüffelte Waggonluft. Es roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich sah er in die blitzenden Augen der Alten. Sie starrte ihn an, lächelte, zeigte ihre krummen Zahnstümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink seine Aufmerksamkeit auf das Anzeigenband lenkte. Was wollte die bloß von ihm? Mark folgte ihrem Blick. Seltsamer Mensch.
Auf dem Band wanderten deutsche Worte von links nach rechts.
... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A .
Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich zwischen Mark und die sonderliche Frau. Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster. Er nahm mehrmals Anlauf bis das Ding endlich aufzischte, ihn von seiner Ungeschicklichkeit und den Blicken der Umherstehenden erlöste und in das Nebenabteil entließ.
Mark entdeckte zwei verschleierte Muslime, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Moslems hinten, Juden vorn. Ging doch! Irgendwie fand er diesen ganzen Religionsscheiß nervig. Wenn es einen Gott gäbe, dann ja wohl für alle der Gleiche. Deshalb musste man sich doch nicht so anstellen. Mark hätte sich gerne noch über allerlei solcher Unzulänglichkeiten lustig gemacht. Doch als er bemerkte, wie ein Pärchen weiter vorne sich umarmte, fiel ihm ein, dass das einzige Universelle und Grenzen überschreitende, wohl die Liebe sei.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Sein Blick stürmte die elektronische Anzeigetafel. Die Bestürzung nahm ihm den Atem. Bei allem, was ihm heilig war, das gab es doch nicht.
... Verbunden für immer! ...
ANNA ANNA ANNA ...
Adrenalin schoss durch seinen Körper. Konnte das Zufall sein? Das Band, dessen er sich stets bewusst war? Er versuchte sich wieder zu sammeln. Wo war die alte Frau? Marks Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden.
Cedrik kam zurück, reichte ihm eine Tüte Smarties und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand.
"Ehre den Gott der Juden, denn er ist auch mein Gott, ehre den Gott der Muslime, denn er ist auch mein Gott, ehre Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich einen vergessen?“
Mark blieb abwesend.
„Was ist denn mit dir los? Hast´ grad den Allmächtigen gesehen?“
„Schau!“, sagte er und deutete Richtung Anzeige.
Cedric Stand zuerst auf der Leitung.
„Och nee, Alterchen, ist es echt noch so schlimm! Cedric schaute zur Abwechslung mal ernst. Sie sahen sich stumm an. „Oh Mann, dich hats echt erwischt.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um.
... Wechseln Sie heute noch Ihren Telefonanbieter. Chose the Change! The European Company! NNAA ...
Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich Smarties in den Mund und hörte i-Phone. Mark dachte über die aufdringliche Oma, die Botschaft und Anna nach. Das konnte doch kein Zufall mehr sein. Denken. Seine Gedanken schlugen gegen einen elektrischen Zaun. Sein Kopf war wund vor lauter Denken.
Sie liebte Pflanzen über alles und lehrte ihn Elefantenohren, Strelitzien, Sukkulenten und Euphorbien zu unterscheiden. Die unzähligen Blumenkübel hatte sie nach dem ersten Nachtfrost mit hochgekrempelten Ärmeln und funkelnden Augen in die Wohnung geschleppt, Umsiedlung, Frostschutz, Spuren von Blumenerde und Tropfwasser nach sich ziehend. Hinter jeder Ecke lauerte fortan ein Farn.
Die grüne Zellulose war ihm gleichgültig, aber er liebte Anna, deshalb liebte er Zellulose. Was war dieses Zuhause? Sie war es. Sie machte ihn zu einem besseren Menschen. Er hatte Angst vor der Wahrheit.
Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Fünf Minuten ungefähr, dann spürten sie, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, wie konnte das sein?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Mark prustete auf.
Sie stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Mark spürte eine unheilvolle Beklemmung. Er wusste, es war reine Kopfsache, aber längst zuckte der Gedanke eines Anschlags unaufhörlich.
Es blieb dunkel, Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen, Mark schaute sich das ganze mit anderen Männern von nahem an. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Nichts ging mehr. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.
"Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach ihn von hinten an. Mark wirbelte herum.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Er blickte verwirrt in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau.
Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“
Ein Stück Metall krachte gegen die Scheibe. Sie zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt. Beeil dich!“
Langsam wurden ihm die seltsamen Worte unangenehm.
Das Geschrei eines Kindes, das mit seiner Mutter haderte, lenkte ihn ab.
Als er sich erneut umsah, war die Alte verschwunden. Er bahnte sich einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den er versehentlich anrempelte, strafte ihn mit Blicken. Er lief die nächsten drei Waggons ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergeblich, sie war wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen tanzte ihm Cedric entgegen.
„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“
Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab.
Mark wusste nicht mehr wo ihm der Kopf stand. Was er soeben gehört hatte berührte ihn. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Das gabs doch nicht! Woher wusste sie?
Das einzige, was er jetzt noch wollte, war Anna zu sehen! Und zwar so schnell wie möglich! Er musste sich beeilen.
Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an.
„Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Die Luft roch verbraucht. Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter.Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging eine Art Notbeleuchtung an.
Nach einer schier unendlich erscheinenden Zeit, ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Jude lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Moslem hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.
Unter normalen Umständen hätte er Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald sie aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um ihn genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf seiner Seele herumtrampelte? Dass sie ihn wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war er bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. Ein Bund für die Ewigkeit. Scheiße. Die Alte war total abgedreht.
Er kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen ihn.
Nachdem das Gedönse mit dem Zugdefekt gelöst schien, ging der Rest schnell.
Der Eurocity spuckte sie im Bahnhof von Calais aus. Auch hier schüttelte der Himmerl kräftig die eisigen Federn. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und schon waren sie auf offenem Land. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter ihnen hindurch. Vielleicht schafften sie es noch, vor zwei daheim zu sein. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete seine Lunge, als er sich die Kippe ansteckte.
Mark machte Cedric klar, dass er durchfahren würde, Klo und Getränkenachschub verkneifen musste.
Sollte er sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annes Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah Mark bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.
Mark sog die Luft ein, zitterte vor Kälte und Schiss, schnippte die Kippe weg.
Er stand um 3.23 Uhr unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden stierten herab.
Sie schliefen. Er klingelte. Die Sekunden dehnten sich und er klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Sein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Er zögerte!
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.
Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus seinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Er spürte, wie er all seine Hoffnung in diese beiden Worte legte und hörte, wie ihm die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"
Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an.
Sie stand vor ihm, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte er ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah den kleinen Sonnenfleck am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte ihn nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Er zog die Nase hoch und sagte:
"Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."
Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...
Er kramte aus einem Impuls heraus den Ring aus der Hose, ihren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Mark wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
„Mark, warum tust du dir das an?“ Ihre schönen Augen blickten auf seine Seele und aus seinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“
Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hört er nur das Rauschen des eisigen Windes.
Er konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte er sich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie ihm hinterher rief, doch sie blieb stumm, er lief die Straße weiter, um die nächste Ecke, bis er keuchend und weinend um Atem rang. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Er kickte gegen eine Tonne. Krachen. Er schrie! Die halbe Nacht irrte er durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte er, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an seiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, er weinte bitterlich, er fror und zitterte. Er suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!
In der kalten Wohnung zog er sich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch sich unter der Decke.
Er nahm die Gibson auf den Schoß und wischte sich mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Zuerst war es nur ein Akkord, dann wuchs die Strophe zu einer Melodie aus Tränen und Stolz, hingekritzelt auf einem Block und unzählige Male wiederholt und geschliffen. Er summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor seinem Fenster verdrängte.
Bis zwei Uhr schlief er. Danach rief er Cedric an. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Er deutete auf sein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“
„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte Mark auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Er begann sich zu häuten und streifte das Nachdenken ab.
Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Mark musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit - vorerst. Dann nahm er die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.