The Last Of A Melting Snow

TimKlueck

Mitglied
The Last Of A Melting Snow
Tim Klück


Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der britischen Polizei. Eben kamen sie, trotz der Glätte, noch zügig voran. Jetzt brachte eine Bombendrohung die Eincheckprozedur vor dem Eurotunnel völlig aus dem Lot und Mark in höchste Verzweiflung. Er wollte nur noch heim vor dem Reisechaos, Mitte Dezember. Mark steckte sich eine Gauloises an. Der Tabak machte ihn ein wenig schwindelig, doch das war beruhigend und verrückte ihn angenehm. Sein Kumpel und Nasentrinker Cedric wippte geistesabwesend auf dem Beifahrersitz, i-phonebestöpselt und kaute Smarties. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen der ungeduldig Reisenden dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.

Ein Wesen mit rosigem Gesicht blickte ihn unerwartet aus dem Nachbarauto an. Ihr Antlitz schimmerte hinter einem feinen Vorhang orangefarbener Flocken. Die dunkle Haarlocke umrahmte ihr Lächeln. Mark spürte in seiner Mitte eine Wärme, die eine Ahnung von Vertrautheit erzeugte. Er blies den Rauch gegen die beschlagene Scheibe und lächelte zurück. Die Liebe zerriss Seelen, wie niemand anders.

Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als er Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Kurz vor Weihnachten lieh er sich bei ihr den Ordner für Musikdidaktik aus, für die Prüfung, wie er vorgab, nur um sie zu sehen und wenige Tage später im Kino, ganz vorsichtig, ihre Hand zu streicheln. Neun Jahre! Was darauf folgte, wurde die Liebe seines Lebens. Es war so unzweifelhaft.

Mark wich zurück. Der Schädel eines wutentbrannt dreinblickenden Glatzkopfes hatte sich vor seine Gedanken geschoben. Das Leben war eine Fratze. Der Kerl im Auto glotzte finster, drückte den Kiefer vor und das Gaspedal durch. Mark senkte den Blick. Die Faust dieses eifersüchtigen Typen wollte er jedenfalls nicht riskieren. In seiner Hosentasche begann es zu vibrieren. Eine SMS von Anna. Die Hitze durchflutete ihn bis unter die Haarwurzeln. Hastig wühlte er das Handy heraus und starrte auf die Bremslichter des Volvos davor.
Mit der einen Hand hielt er das Lenkrad, mit der anderen öffnete er zitternd das Display, auf dem ein Viereckchen blinkte.

Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir
leid. Anna


Sein Innerstes flatterte, ihm war plötzlich glühend heiß. Er hatte den ganzen Tag auf Annas Antwort gewartet, jetzt schienen sich in seinem Herzen tausende Knoten zusammen zu ziehen. Der Wagen vor ihnen stoppte abrupt. Mark trat auf die Bremse, ihr Peugeot machte einen Satz und der Nasentrinker landete mit der Stirn auf der Scheibe.
"Hey, Mann, ich hätt mir fast…spinnst du?"
"Scheiße, hier geht nichts voran. Anna war`s.“
„Dachte, das wäre gegessen." Cedric rieb sich die Stirn.
"Verdammt!" Mark hämmerte aufs Lenkrad. Genau das wollte er nicht hören.
Fuck! Die Gefühle stülpten sich über den Verstand.

Die Heizung blies auf Hochtouren, unter seinem Pulli war Schweiß, er öffnete das Fenster und kalte Luft schmierte herein. Handbremse lockern, anfahren, bremsen. Der Blechwurm zwängte sich durch die Polizeikontrolle, wie die Verzweiflung in sein Herz.
So bräuchten sie noch Stunden für die ansonsten halbstündige Zugfahrt unter dem Ärmelkanal hindurch bis nach Calais und von dort über die Route National bis nach Aachen. Stunden, die diese Liebe nicht mehr hatte. Bin ab morgen 6 Wochen weg!
Mark steckte eine neue Kippe an und inhalierte, bis er den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?

Vor Monaten begann das Zweifeln. Wenn er in ihrer Nähe stand, zuckte sie unmerklich zusammen oder wurde hektisch, fing an, ihr Handy abzuschalten und war peinlich darauf bedacht, den Verlauf in ihrem Skype und Facebook zu löschen. Nachdem sie in den folgenden Wochen x-mal abends länger proben musste, er alleine zuhause das Abendbrot aß, hat er sich getraut zu fragen, was los sei. Er bemerkte das Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Die Enttäuschung darüber säte weiteren Zweifel. Er, der Luftikus und Musiker, sie, die zielstrebige und erfolgreichere. Genügte er ihr nicht mehr? Er hatte viel Raum zum Nachdenken. Wenn er nicht aufpasste, liefen seine schlechten Gedanken Amok.

Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last of a melting Snow, der Song, den er für sie geschrieben hatte, summte in seinem Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für ihn war diese Tour der erste Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch Mark wusste, dass er diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte. Neun Jahre. Er wollte nicht, dass die Gefühle jetzt hoch schwappten und ihn unter einer Welle aus Angst und Trostlosigkeit begruben. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in seiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in seinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?

Neben ihnen hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte ihn an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Sie gaffte immer noch. Zuerst sah er schnell weg, dann kehrte sein Blick zurück und blieb haften. Was wollte die bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie ihm zu und schon knallte es. Mark spürte den Schmerz der einschneidenden Gurte an seiner Brust, sein Kopf wurde zurückgerissen. Cedric schrie ein überraschtes „Fuck“ aus.
Mark rieb sich den Nacken.

Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand, schob die Brille zurecht und stapfte eilig durch den Schnee auf sie zu.
Auch das noch. Mark sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Schnee lagen. Der kalte Wind schlug ihm entgegen. Flocken dampften im Lichtkegel der Scheinwerfer. Die Stoßstange war eingedrückt.
„Verdammet, kannest du nischt aufpasse?“ Der bullige Behaarte baute sich vor ihm auf. Seine um mindestens drei Oktaven zu hohe Fistelstimme krächzte die Worte wie ein abgeschnürter Hahn hervor. Mark unterdrückte einen aufkommenden Husten.
„Tut mir wirklich leid. Ich habe einen Moment ...“, beschwichtigte er und räusperte sich in seine Hand.

Hektisch suchte er nach den Versicherungspapieren im Handschuhfach, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Nummern auf einen Zettel und reichte ihn dem Araber. Der notierte noch Marks Namen.
Im Volvo bewegten sich Kopftücher.
„Wahrscheinlich das Harem“, gluckste Cedric leise. Als er ihnen zunickte, schoben sie ihre Köpfe zusammen und kicherten.

Hinter ihnen hupten fluchend die wartenden Autos und bahnten sich einen Kreis um das Malheur. Nach einer Viertelstunde reihten sie sich wieder ein.


Neben ihm stopfte sich Cedric Chips in den Mund, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella. Wenn er ihn damit auf bessere Gedanken bringen wollte, gelang das nicht. Mark hing der Song aus den Ohren. Sein Denken kreiste um Anna.

"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine OK-Ich-Weiß-Dir-Geht’s-Scheiße-Mimik und verstummte. Verzweifelt bemerkte er, wie das letzte Quäntchen Zuversicht dahin schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe. Er wollte noch einmal in ihre Augen sehen. Sie bitten, bei ihm zu bleiben. Es konnte doch nicht einfach so vorbei sein. Der Rauch stach in seiner Lunge und er stieß ihn gegen die Armaturen. Er musste sich beeilen!

Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase.
Mark stützte sich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus. "Verdammt, pass doch auf."
Er schlug auf die Hupe. Dachte sie überhaupt noch an ihn? Ich liebe dich Anna, und du tust mir weh! Hat sie ihn je so geliebt, wie er sie liebte? Tränen juckten.

Im Wagen dampfte es, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands. Wieder ging es einige Meter vorwärts. Mark lies den Motor aufheulen.
"Scheiße, macht hinne!" Er zog die Nase hoch.

An der Kontrollstelle mussten sie ihre Pässe vorzeigen, der britische Bulle war eine extrem übergewichtige Frau mit eng anliegender Uniform, üppigem Oberbau und dick geschminkten, roten Lippen. Mit sonorem Ton hieß sie sie barsch auszusteigen. Wenn es denn unbedingt sein musste.
Ihr Kollege schickte den aufgeregt schnüffelnden Schäferhund mit Maulkorb um ihren Wagen. Sie deutete ihm, den Kofferraum des Transporters zu öffnen und blendete mit der Taschenlampe. Zwei andere Polizisten schoben Detektoren unter den Wagenboden.
"What's this?" Sie klopfte auf die Cases?
"Instruments. This is an electric guitar. And this a receiver. Drums."
"Open this."
"Be careful, please!" Scheiße, jetzt wollte die, dass Mark alle Instrumentencases öffnete. Bei dem Scheißwetter zogen die doch Feuchtigkeit.
Mark klappte vor der Policewoman den schwarzen Koffer seiner Gibson SG auf.
"This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany."
Das gepuderte Kinn der Politesse wabbelte. Dann verharrte ihr strenger Blick auf einer Plastikschatulle.
„What´s this?“
Mark zögerte. Er hatte keine Ahnung, was sich darin befinden könnte und blickte schulterzuckend zu Cedric. Doch der reagierte nicht.
„Sorry, don´t know.“
„Please open it!“

Sie mussten ihre Personalien aufnehmen lassen.
Cedric konnte Abgrund tief albern sein. Dildos mit Gesichtern der Königsfamilie als Souvenirs. Und Prinz Charles als Penis, war wirklich alles andere als ein schöner Anblick für eine britische Zollbeamtin.

Bei dem anschließenden ausführlichem Körpercheck, bei dem die Politesse genüsslich ihrem Kollegen zur Seite stand, griff der nicht allzu zimperlich auch zweimal zwischen Marks Schritt. Schließlich setzte sie ihre Terriermaske auf und bedeutete ihnen weiterzufahren.
„Boah, ist das widerlich! Wenn jemand schlecht gelaunt sein darf, dann bin ja wohl ich das! Von wegen schnelle Kanalüberquerung, Sauhaufen!"
Die Dicke zögerte einen Augenblick. Verstand sie etwa deutsch? Mark hielt die Klappe.
Cedric schlürfte an einer Dose Red Bull und grinste sich einen ab, als sie endlich wieder in ihren Sitzen saßen und der Motor jaulte.

"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er mampfend.
"Shit, du nervst einfach!" Mark hatte keinen Bock auf dieses Allerweltsgelaber. Doch insgeheim taten diese lapidare Kommentare seines Freundes gut. Er hatte Angst vor der Einsamkeit. Sie waren gut, um die wühlende Unruhe in Schach zu halten.

Ein in neongelb gekleideter Typ winkte sie auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Seine Gedanken zerfaserten, wie der Dunst in diesem trostlosen Verladebahnhof. Die grauen, bauchigen Waggons verschluckten sie. Rumpelnd über Eisenschwellen, folgten sie dem Vordermann und blieben nach einigen Metern auf ihrer Parkposition stehen.

Auf einer elektronischen Anzeigetafel an der Decke im Zugabteil lief ein Buchstabenband eine Schleife.
... Enjoy your Trip with Eurocitytrain!...

Cedric streckte sich und drückte dabei seine Handflächen gegen das Autodach.
„Ahhh, Alter, muss erst mal pissen.“ Mit diesen Worten war er schon ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für Mark die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen.
Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt verblasste sie zu einer Unwichtigkeit.

Mark lies das Fenster herunter und schnüffelte Waggonluft. Es roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich sah er in die blitzenden Augen der Alten. Sie starrte ihn an, lächelte, zeigte ihre krummen Zahnstümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink seine Aufmerksamkeit auf das Anzeigenband lenkte. Was wollte die bloß von ihm? Mark folgte ihrem Blick. Seltsamer Mensch.
Auf dem Band wanderten deutsche Worte von links nach rechts.
... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A .

Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich zwischen Mark und die sonderliche Frau. Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster. Er nahm mehrmals Anlauf bis das Ding endlich aufzischte, ihn von seiner Ungeschicklichkeit und den Blicken der Umherstehenden erlöste und in das Nebenabteil entließ.
Mark entdeckte zwei verschleierte Muslime, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Moslems hinten, Juden vorn. Ging doch! Irgendwie fand er diesen ganzen Religionsscheiß nervig. Wenn es einen Gott gäbe, dann ja wohl für alle der Gleiche. Deshalb musste man sich doch nicht so anstellen. Mark hätte sich gerne noch über allerlei solcher Unzulänglichkeiten lustig gemacht. Doch als er bemerkte, wie ein Pärchen weiter vorne sich umarmte, fiel ihm ein, dass das einzige Universelle und Grenzen überschreitende, wohl die Liebe sei.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Sein Blick stürmte die elektronische Anzeigetafel. Die Bestürzung nahm ihm den Atem. Bei allem, was ihm heilig war, das gab es doch nicht.
... Verbunden für immer! ...
ANNA ANNA ANNA ...

Adrenalin schoss durch seinen Körper. Konnte das Zufall sein? Das Band, dessen er sich stets bewusst war? Er versuchte sich wieder zu sammeln. Wo war die alte Frau? Marks Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden.
Cedrik kam zurück, reichte ihm eine Tüte Smarties und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand.
"Ehre den Gott der Juden, denn er ist auch mein Gott, ehre den Gott der Muslime, denn er ist auch mein Gott, ehre Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich einen vergessen?“
Mark blieb abwesend.
„Was ist denn mit dir los? Hast´ grad den Allmächtigen gesehen?“
„Schau!“, sagte er und deutete Richtung Anzeige.
Cedric Stand zuerst auf der Leitung.
„Och nee, Alterchen, ist es echt noch so schlimm! Cedric schaute zur Abwechslung mal ernst. Sie sahen sich stumm an. „Oh Mann, dich hats echt erwischt.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um.
... Wechseln Sie heute noch Ihren Telefonanbieter. Chose the Change! The European Company! NNAA ...


Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich Smarties in den Mund und hörte i-Phone. Mark dachte über die aufdringliche Oma, die Botschaft und Anna nach. Das konnte doch kein Zufall mehr sein. Denken. Seine Gedanken schlugen gegen einen elektrischen Zaun. Sein Kopf war wund vor lauter Denken.
Sie liebte Pflanzen über alles und lehrte ihn Elefantenohren, Strelitzien, Sukkulenten und Euphorbien zu unterscheiden. Die unzähligen Blumenkübel hatte sie nach dem ersten Nachtfrost mit hochgekrempelten Ärmeln und funkelnden Augen in die Wohnung geschleppt, Umsiedlung, Frostschutz, Spuren von Blumenerde und Tropfwasser nach sich ziehend. Hinter jeder Ecke lauerte fortan ein Farn.
Die grüne Zellulose war ihm gleichgültig, aber er liebte Anna, deshalb liebte er Zellulose. Was war dieses Zuhause? Sie war es. Sie machte ihn zu einem besseren Menschen. Er hatte Angst vor der Wahrheit.



Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Fünf Minuten ungefähr, dann spürten sie, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, wie konnte das sein?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Mark prustete auf.
Sie stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Mark spürte eine unheilvolle Beklemmung. Er wusste, es war reine Kopfsache, aber längst zuckte der Gedanke eines Anschlags unaufhörlich.

Es blieb dunkel, Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen, Mark schaute sich das ganze mit anderen Männern von nahem an. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Nichts ging mehr. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.

"Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach ihn von hinten an. Mark wirbelte herum.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Er blickte verwirrt in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau.
Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“

Ein Stück Metall krachte gegen die Scheibe. Sie zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.

„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt. Beeil dich!“
Langsam wurden ihm die seltsamen Worte unangenehm.
Das Geschrei eines Kindes, das mit seiner Mutter haderte, lenkte ihn ab.
Als er sich erneut umsah, war die Alte verschwunden. Er bahnte sich einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den er versehentlich anrempelte, strafte ihn mit Blicken. Er lief die nächsten drei Waggons ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergeblich, sie war wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen tanzte ihm Cedric entgegen.

„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“
Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab.
Mark wusste nicht mehr wo ihm der Kopf stand. Was er soeben gehört hatte berührte ihn. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Das gabs doch nicht! Woher wusste sie?
Das einzige, was er jetzt noch wollte, war Anna zu sehen! Und zwar so schnell wie möglich! Er musste sich beeilen.

Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an.
„Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Die Luft roch verbraucht. Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter.Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging eine Art Notbeleuchtung an.

Nach einer schier unendlich erscheinenden Zeit, ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Jude lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Moslem hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.

Unter normalen Umständen hätte er Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald sie aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um ihn genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf seiner Seele herumtrampelte? Dass sie ihn wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war er bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. Ein Bund für die Ewigkeit. Scheiße. Die Alte war total abgedreht.
Er kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen ihn.

Nachdem das Gedönse mit dem Zugdefekt gelöst schien, ging der Rest schnell.
Der Eurocity spuckte sie im Bahnhof von Calais aus. Auch hier schüttelte der Himmerl kräftig die eisigen Federn. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und schon waren sie auf offenem Land. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter ihnen hindurch. Vielleicht schafften sie es noch, vor zwei daheim zu sein. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete seine Lunge, als er sich die Kippe ansteckte.

Mark machte Cedric klar, dass er durchfahren würde, Klo und Getränkenachschub verkneifen musste.
Sollte er sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annes Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah Mark bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.

Mark sog die Luft ein, zitterte vor Kälte und Schiss, schnippte die Kippe weg.
Er stand um 3.23 Uhr unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden stierten herab.
Sie schliefen. Er klingelte. Die Sekunden dehnten sich und er klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Sein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Er zögerte!
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.

Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus seinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Er spürte, wie er all seine Hoffnung in diese beiden Worte legte und hörte, wie ihm die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"
Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an.

Sie stand vor ihm, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte er ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah den kleinen Sonnenfleck am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte ihn nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Er zog die Nase hoch und sagte:
"Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."

Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...
Er kramte aus einem Impuls heraus den Ring aus der Hose, ihren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Mark wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
„Mark, warum tust du dir das an?“ Ihre schönen Augen blickten auf seine Seele und aus seinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“

Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hört er nur das Rauschen des eisigen Windes.
Er konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte er sich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie ihm hinterher rief, doch sie blieb stumm, er lief die Straße weiter, um die nächste Ecke, bis er keuchend und weinend um Atem rang. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Er kickte gegen eine Tonne. Krachen. Er schrie! Die halbe Nacht irrte er durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte er, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an seiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, er weinte bitterlich, er fror und zitterte. Er suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!

In der kalten Wohnung zog er sich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch sich unter der Decke.
Er nahm die Gibson auf den Schoß und wischte sich mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Zuerst war es nur ein Akkord, dann wuchs die Strophe zu einer Melodie aus Tränen und Stolz, hingekritzelt auf einem Block und unzählige Male wiederholt und geschliffen. Er summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor seinem Fenster verdrängte.

Bis zwei Uhr schlief er. Danach rief er Cedric an. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Er deutete auf sein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“

„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte Mark auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Er begann sich zu häuten und streifte das Nachdenken ab.

Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Mark musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit - vorerst. Dann nahm er die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.
 

TimKlueck

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The Last Of The Melting Snow
Tim Klück


Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der britischen Polizei. Eben kamen sie, trotz der Glätte, noch zügig voran. Jetzt brachte eine Bombendrohung die Eincheckprozedur vor dem Eurotunnel völlig aus dem Lot und Mark in höchste Verzweiflung. Er wollte nur noch heim vor dem Reisechaos, Mitte Dezember. Mark steckte sich eine Gauloises an. Der Tabak machte ihn ein wenig schwindelig, doch das war beruhigend und verrückte ihn angenehm. Sein Kumpel und Nasentrinker Cedric wippte geistesabwesend auf dem Beifahrersitz, i-phonebestöpselt und kaute Smarties. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen der ungeduldig Reisenden dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.

Ein Wesen mit rosigem Gesicht blickte ihn unerwartet aus dem Nachbarauto an. Ihr Antlitz schimmerte hinter einem feinen Vorhang orangefarbener Flocken. Die dunkle Haarlocke umrahmte ihr Lächeln. Mark spürte in seiner Mitte eine Wärme, die eine Ahnung von Vertrautheit erzeugte. Er blies den Rauch gegen die beschlagene Scheibe und lächelte zurück. Die Liebe zerriss Seelen, wie niemand anders.

Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als er Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Kurz vor Weihnachten lieh er sich bei ihr den Ordner für Musikdidaktik aus, für die Prüfung, wie er vorgab, nur um sie zu sehen und wenige Tage später im Kino, ganz vorsichtig, ihre Hand zu streicheln. Neun Jahre! Was darauf folgte, wurde die Liebe seines Lebens. Es war so unzweifelhaft.

Mark wich zurück. Der Schädel eines wutentbrannt dreinblickenden Glatzkopfes hatte sich vor seine Gedanken geschoben. Das Leben war eine Fratze. Der Kerl im Auto glotzte finster, drückte den Kiefer vor und das Gaspedal durch. Mark senkte den Blick. Die Faust dieses eifersüchtigen Typen wollte er jedenfalls nicht riskieren. In seiner Hosentasche begann es zu vibrieren. Eine SMS von Anna. Die Hitze durchflutete ihn bis unter die Haarwurzeln. Hastig wühlte er das Handy heraus und starrte auf die Bremslichter des Volvos davor.
Mit der einen Hand hielt er das Lenkrad, mit der anderen öffnete er zitternd das Display, auf dem ein Viereckchen blinkte.

Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir
leid. Anna


Sein Innerstes flatterte, ihm war plötzlich glühend heiß. Er hatte den ganzen Tag auf Annas Antwort gewartet, jetzt schienen sich in seinem Herzen tausende Knoten zusammen zu ziehen. Der Wagen vor ihnen stoppte abrupt. Mark trat auf die Bremse, ihr Peugeot machte einen Satz und der Nasentrinker landete mit der Stirn auf der Scheibe.
"Hey, Mann, ich hätt mir fast…spinnst du?"
"Scheiße, hier geht nichts voran. Anna war`s.“
„Dachte, das wäre gegessen." Cedric rieb sich die Stirn.
"Verdammt!" Mark hämmerte aufs Lenkrad. Genau das wollte er nicht hören.
Fuck! Die Gefühle stülpten sich über den Verstand.

Die Heizung blies auf Hochtouren, unter seinem Pulli war Schweiß, er öffnete das Fenster und kalte Luft schmierte herein. Handbremse lockern, anfahren, bremsen. Der Blechwurm zwängte sich durch die Polizeikontrolle, wie die Verzweiflung in sein Herz.
So bräuchten sie noch Stunden für die ansonsten halbstündige Zugfahrt unter dem Ärmelkanal hindurch bis nach Calais und von dort über die Route National bis nach Aachen. Stunden, die diese Liebe nicht mehr hatte. Bin ab morgen 6 Wochen weg!
Mark steckte eine neue Kippe an und inhalierte, bis er den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?

Vor Monaten begann das Zweifeln. Wenn er in ihrer Nähe stand, zuckte sie unmerklich zusammen oder wurde hektisch, fing an, ihr Handy abzuschalten und war peinlich darauf bedacht, den Verlauf in ihrem Skype und Facebook zu löschen. Nachdem sie in den folgenden Wochen x-mal abends länger proben musste, er alleine zuhause das Abendbrot aß, hat er sich getraut zu fragen, was los sei. Er bemerkte das Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Die Enttäuschung darüber säte weiteren Zweifel. Er, der Luftikus und Musiker, sie, die zielstrebige und erfolgreichere. Genügte er ihr nicht mehr? Er hatte viel Raum zum Nachdenken. Wenn er nicht aufpasste, liefen seine schlechten Gedanken Amok.

Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last Of The Melting Snow, der Song, den er für sie geschrieben hatte, summte in seinem Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für ihn war diese Tour der erste Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch Mark wusste, dass er diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte. Neun Jahre. Er wollte nicht, dass die Gefühle jetzt hoch schwappten und ihn unter einer Welle aus Angst und Trostlosigkeit begruben. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in seiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in seinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?

Neben ihnen hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte ihn an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Sie gaffte immer noch. Zuerst sah er schnell weg, dann kehrte sein Blick zurück und blieb haften. Was wollte die bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie ihm zu und schon knallte es. Mark spürte den Schmerz der einschneidenden Gurte an seiner Brust, sein Kopf wurde zurückgerissen. Cedric schrie ein überraschtes „Fuck“ aus.
Mark rieb sich den Nacken.

Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand, schob die Brille zurecht und stapfte eilig durch den Schnee auf sie zu.
Auch das noch. Mark sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Schnee lagen. Der kalte Wind schlug ihm entgegen. Flocken dampften im Lichtkegel der Scheinwerfer. Die Stoßstange war eingedrückt.
„Verdammet, kannest du nischt aufpasse?“ Der bullige Behaarte baute sich vor ihm auf. Seine um mindestens drei Oktaven zu hohe Fistelstimme krächzte die Worte wie ein abgeschnürter Hahn hervor. Mark unterdrückte einen aufkommenden Husten.
„Tut mir wirklich leid. Ich habe einen Moment ...“, beschwichtigte er und räusperte sich in seine Hand.

Hektisch suchte er nach den Versicherungspapieren im Handschuhfach, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Nummern auf einen Zettel und reichte ihn dem Araber. Der notierte noch Marks Namen.
Im Volvo bewegten sich Kopftücher.
„Wahrscheinlich das Harem“, gluckste Cedric leise. Als er ihnen zunickte, schoben sie ihre Köpfe zusammen und kicherten.

Hinter ihnen hupten fluchend die wartenden Autos und bahnten sich einen Kreis um das Malheur. Nach einer Viertelstunde reihten sie sich wieder ein.


Neben ihm stopfte sich Cedric Chips in den Mund, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella. Wenn er ihn damit auf bessere Gedanken bringen wollte, gelang das nicht. Mark hing der Song aus den Ohren. Sein Denken kreiste um Anna.

"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine OK-Ich-Weiß-Dir-Geht’s-Scheiße-Mimik und verstummte. Verzweifelt bemerkte er, wie das letzte Quäntchen Zuversicht dahin schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe. Er wollte noch einmal in ihre Augen sehen. Sie bitten, bei ihm zu bleiben. Es konnte doch nicht einfach so vorbei sein. Der Rauch stach in seiner Lunge und er stieß ihn gegen die Armaturen. Er musste sich beeilen!

Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase.
Mark stützte sich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus. "Verdammt, pass doch auf."
Er schlug auf die Hupe. Dachte sie überhaupt noch an ihn? Ich liebe dich Anna, und du tust mir weh! Hat sie ihn je so geliebt, wie er sie liebte? Tränen juckten.

Im Wagen dampfte es, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands. Wieder ging es einige Meter vorwärts. Mark lies den Motor aufheulen.
"Scheiße, macht hinne!" Er zog die Nase hoch.

An der Kontrollstelle mussten sie ihre Pässe vorzeigen, der britische Bulle war eine extrem übergewichtige Frau mit eng anliegender Uniform, üppigem Oberbau und dick geschminkten, roten Lippen. Mit sonorem Ton hieß sie sie barsch auszusteigen. Wenn es denn unbedingt sein musste.
Ihr Kollege schickte den aufgeregt schnüffelnden Schäferhund mit Maulkorb um ihren Wagen. Sie deutete ihm, den Kofferraum des Transporters zu öffnen und blendete mit der Taschenlampe. Zwei andere Polizisten schoben Detektoren unter den Wagenboden.
"What's this?" Sie klopfte auf die Cases?
"Instruments. This is an electric guitar. And this a receiver. Drums."
"Open this."
"Be careful, please!" Scheiße, jetzt wollte die, dass Mark alle Instrumentencases öffnete. Bei dem Scheißwetter zogen die doch Feuchtigkeit.
Mark klappte vor der Policewoman den schwarzen Koffer seiner Gibson SG auf.
"This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany."
Das gepuderte Kinn der Politesse wabbelte. Dann verharrte ihr strenger Blick auf einer Plastikschatulle.
„What´s this?“
Mark zögerte. Er hatte keine Ahnung, was sich darin befinden könnte und blickte schulterzuckend zu Cedric. Doch der reagierte nicht.
„Sorry, don´t know.“
„Please open it!“

Sie mussten ihre Personalien aufnehmen lassen.
Cedric konnte Abgrund tief albern sein. Dildos mit Gesichtern der Königsfamilie als Souvenirs. Und Prinz Charles als Penis, war wirklich alles andere als ein schöner Anblick für eine britische Zollbeamtin.

Bei dem anschließenden ausführlichem Körpercheck, bei dem die Politesse genüsslich ihrem Kollegen zur Seite stand, griff der nicht allzu zimperlich auch zweimal zwischen Marks Schritt. Schließlich setzte sie ihre Terriermaske auf und bedeutete ihnen weiterzufahren.
„Boah, ist das widerlich! Wenn jemand schlecht gelaunt sein darf, dann bin ja wohl ich das! Von wegen schnelle Kanalüberquerung, Sauhaufen!"
Die Dicke zögerte einen Augenblick. Verstand sie etwa deutsch? Mark hielt die Klappe.
Cedric schlürfte an einer Dose Red Bull und grinste sich einen ab, als sie endlich wieder in ihren Sitzen saßen und der Motor jaulte.

"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er mampfend.
"Shit, du nervst einfach!" Mark hatte keinen Bock auf dieses Allerweltsgelaber. Doch insgeheim taten diese lapidare Kommentare seines Freundes gut. Er hatte Angst vor der Einsamkeit. Sie waren gut, um die wühlende Unruhe in Schach zu halten.

Ein in neongelb gekleideter Typ winkte sie auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Seine Gedanken zerfaserten, wie der Dunst in diesem trostlosen Verladebahnhof. Die grauen, bauchigen Waggons verschluckten sie. Rumpelnd über Eisenschwellen, folgten sie dem Vordermann und blieben nach einigen Metern auf ihrer Parkposition stehen.

Auf einer elektronischen Anzeigetafel an der Decke im Zugabteil lief ein Buchstabenband eine Schleife.
... Enjoy your Trip with Eurocitytrain!...

Cedric streckte sich und drückte dabei seine Handflächen gegen das Autodach.
„Ahhh, Alter, muss erst mal pissen.“ Mit diesen Worten war er schon ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für Mark die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen.
Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt verblasste sie zu einer Unwichtigkeit.

Mark lies das Fenster herunter und schnüffelte Waggonluft. Es roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich sah er in die blitzenden Augen der Alten. Sie starrte ihn an, lächelte, zeigte ihre krummen Zahnstümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink seine Aufmerksamkeit auf das Anzeigenband lenkte. Was wollte die bloß von ihm? Mark folgte ihrem Blick. Seltsamer Mensch.
Auf dem Band wanderten deutsche Worte von links nach rechts.
... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A .

Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich zwischen Mark und die sonderliche Frau. Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster. Er nahm mehrmals Anlauf bis das Ding endlich aufzischte, ihn von seiner Ungeschicklichkeit und den Blicken der Umherstehenden erlöste und in das Nebenabteil entließ.
Mark entdeckte zwei verschleierte Muslime, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Moslems hinten, Juden vorn. Ging doch! Irgendwie fand er diesen ganzen Religionsscheiß nervig. Wenn es einen Gott gäbe, dann ja wohl für alle der Gleiche. Deshalb musste man sich doch nicht so anstellen. Mark hätte sich gerne noch über allerlei solcher Unzulänglichkeiten lustig gemacht. Doch als er bemerkte, wie ein Pärchen weiter vorne sich umarmte, fiel ihm ein, dass das einzige Universelle und Grenzen überschreitende, wohl die Liebe sei.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Sein Blick stürmte die elektronische Anzeigetafel. Die Bestürzung nahm ihm den Atem. Bei allem, was ihm heilig war, das gab es doch nicht.
... Verbunden für immer! ...
ANNA ANNA ANNA ...

Adrenalin schoss durch seinen Körper. Konnte das Zufall sein? Das Band, dessen er sich stets bewusst war? Er versuchte sich wieder zu sammeln. Wo war die alte Frau? Marks Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden.
Cedrik kam zurück, reichte ihm eine Tüte Smarties und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand.
"Ehre den Gott der Juden, denn er ist auch mein Gott, ehre den Gott der Muslime, denn er ist auch mein Gott, ehre Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich einen vergessen?“
Mark blieb abwesend.
„Was ist denn mit dir los? Hast´ grad den Allmächtigen gesehen?“
„Schau!“, sagte er und deutete Richtung Anzeige.
Cedric Stand zuerst auf der Leitung.
„Och nee, Alterchen, ist es echt noch so schlimm! Cedric schaute zur Abwechslung mal ernst. Sie sahen sich stumm an. „Oh Mann, dich hats echt erwischt.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um.
... Wechseln Sie heute noch Ihren Telefonanbieter. Chose the Change! The European Company! NNAA ...


Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich Smarties in den Mund und hörte i-Phone. Mark dachte über die aufdringliche Oma, die Botschaft und Anna nach. Das konnte doch kein Zufall mehr sein. Denken. Seine Gedanken schlugen gegen einen elektrischen Zaun. Sein Kopf war wund vor lauter Denken.
Sie liebte Pflanzen über alles und lehrte ihn Elefantenohren, Strelitzien, Sukkulenten und Euphorbien zu unterscheiden. Die unzähligen Blumenkübel hatte sie nach dem ersten Nachtfrost mit hochgekrempelten Ärmeln und funkelnden Augen in die Wohnung geschleppt, Umsiedlung, Frostschutz, Spuren von Blumenerde und Tropfwasser nach sich ziehend. Hinter jeder Ecke lauerte fortan ein Farn.
Die grüne Zellulose war ihm gleichgültig, aber er liebte Anna, deshalb liebte er Zellulose. Was war dieses Zuhause? Sie war es. Sie machte ihn zu einem besseren Menschen. Er hatte Angst vor der Wahrheit.



Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Fünf Minuten ungefähr, dann spürten sie, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, wie konnte das sein?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Mark prustete auf.
Sie stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Mark spürte eine unheilvolle Beklemmung. Er wusste, es war reine Kopfsache, aber längst zuckte der Gedanke eines Anschlags unaufhörlich.

Es blieb dunkel, Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen, Mark schaute sich das ganze mit anderen Männern von nahem an. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Nichts ging mehr. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.

"Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach ihn von hinten an. Mark wirbelte herum.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Er blickte verwirrt in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau.
Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“

Ein Stück Metall krachte gegen die Scheibe. Sie zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.

„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt. Beeil dich!“
Langsam wurden ihm die seltsamen Worte unangenehm.
Das Geschrei eines Kindes, das mit seiner Mutter haderte, lenkte ihn ab.
Als er sich erneut umsah, war die Alte verschwunden. Er bahnte sich einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den er versehentlich anrempelte, strafte ihn mit Blicken. Er lief die nächsten drei Waggons ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergeblich, sie war wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen tanzte ihm Cedric entgegen.

„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“
Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab.
Mark wusste nicht mehr wo ihm der Kopf stand. Was er soeben gehört hatte berührte ihn. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Das gabs doch nicht! Woher wusste sie?
Das einzige, was er jetzt noch wollte, war Anna zu sehen! Und zwar so schnell wie möglich! Er musste sich beeilen.

Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an.
„Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Die Luft roch verbraucht. Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter.Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging eine Art Notbeleuchtung an.

Nach einer schier unendlich erscheinenden Zeit, ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Jude lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Moslem hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.

Unter normalen Umständen hätte er Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald sie aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um ihn genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf seiner Seele herumtrampelte? Dass sie ihn wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war er bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. Ein Bund für die Ewigkeit. Scheiße. Die Alte war total abgedreht.
Er kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen ihn.

Nachdem das Gedönse mit dem Zugdefekt gelöst schien, ging der Rest schnell.
Der Eurocity spuckte sie im Bahnhof von Calais aus. Auch hier schüttelte der Himmerl kräftig die eisigen Federn. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und schon waren sie auf offenem Land. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter ihnen hindurch. Vielleicht schafften sie es noch, vor zwei daheim zu sein. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete seine Lunge, als er sich die Kippe ansteckte.

Mark machte Cedric klar, dass er durchfahren würde, Klo und Getränkenachschub verkneifen musste.
Sollte er sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annes Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah Mark bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.

Mark sog die Luft ein, zitterte vor Kälte und Schiss, schnippte die Kippe weg.
Er stand um 3.23 Uhr unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden stierten herab.
Sie schliefen. Er klingelte. Die Sekunden dehnten sich und er klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Sein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Er zögerte!
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.

Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus seinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Er spürte, wie er all seine Hoffnung in diese beiden Worte legte und hörte, wie ihm die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"
Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an.

Sie stand vor ihm, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte er ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah den kleinen Sonnenfleck am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte ihn nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Er zog die Nase hoch und sagte:
"Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."

Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...
Er kramte aus einem Impuls heraus den Ring aus der Hose, ihren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Mark wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
„Mark, warum tust du dir das an?“ Ihre schönen Augen blickten auf seine Seele und aus seinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“

Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hört er nur das Rauschen des eisigen Windes.
Er konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte er sich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie ihm hinterher rief, doch sie blieb stumm, er lief die Straße weiter, um die nächste Ecke, bis er keuchend und weinend um Atem rang. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Er kickte gegen eine Tonne. Krachen. Er schrie! Die halbe Nacht irrte er durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte er, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an seiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, er weinte bitterlich, er fror und zitterte. Er suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!

In der kalten Wohnung zog er sich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch sich unter der Decke.
Er nahm die Gibson auf den Schoß und wischte sich mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Zuerst war es nur ein Akkord, dann wuchs die Strophe zu einer Melodie aus Tränen und Stolz, hingekritzelt auf einem Block und unzählige Male wiederholt und geschliffen. Er summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor seinem Fenster verdrängte.

Bis zwei Uhr schlief er. Danach rief er Cedric an. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Er deutete auf sein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“

„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte Mark auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Er begann sich zu häuten und streifte das Nachdenken ab.

Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Mark musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit - vorerst. Dann nahm er die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.
 

TimKlueck

Mitglied
The Last Of The Melting Snow

Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der Polizei. Eben kamen sie, trotz der Glätte, noch zügig voran. Jetzt brachte eine Bombendrohung die Eincheckprozedur vor dem Eurotunnel völlig aus dem Lot und Mark in höchste Verzweiflung. Er wollte nur noch heim vor dem Reisechaos, Mitte Dezember. Mark steckte sich eine Gauloises an. Der Tabak machte ihn ein wenig schwindelig, doch das war beruhigend und verrückte ihn angenehm. Sein Kumpel und Nasentrinker Cedric wippte geistesabwesend auf dem Beifahrersitz, i-phonebestöpselt und kaute Smarties. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen der ungeduldig Reisenden dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.
Ein Wesen mit rosigem Gesicht blickte ihn unerwartet aus dem Nachbarauto an. Ihr Antlitz schimmerte hinter einem feinen Vorhang orangefarbener Flocken. Die dunkle Haarlocke umrahmte ihr Lächeln. Mark spürte in seiner Mitte eine Wärme, die eine Ahnung von Vertrautheit erzeugte. Er blies den Rauch gegen die beschlagene Scheibe und lächelte zurück. Die Liebe zerriss Seelen, wie niemand anders.

Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als er Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Kurz vor Weihnachten lieh er sich bei ihr den Ordner für Musikdidaktik aus, für die Prüfung, wie er vorgab, nur um sie zu sehen und wenige Tage später im Kino, ganz vorsichtig, ihre Hand zu streicheln. Neun Jahre! Was darauf folgte, wurde die Liebe seines Lebens. Es war so unzweifelhaft.

Mark wich zurück. Der Schädel eines wutentbrannt dreinblickender Glatzkopfes hatte sich vor seine Gedanken geschoben. Das Leben war eine Fratze. Der Kerl im Auto glotzte finster, drückte den Kiefer vor und das Gaspedal durch. Mark senkte den Blick. Die Faust dieses eifersüchtigen Typen wollte er jedenfalls nicht riskieren. In seiner Hosentasche begann es zu vibrieren. Eine SMS von Anna. Die Hitze durchflutete ihn bis unter die Haarwurzeln. Hastig wühlte er das Handy heraus und starrte auf die Bremslichter des Volvos davor.
Mit der einen Hand hielt er das Lenkrad, mit der anderen öffnete er zitternd das Display, auf dem ein Viereckchen blinkte.

Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir
leid. Anna


Sein Innerstes flatterte, ihm war plötzlich glühend heiß. Er hatte den ganzen Tag auf Annas Antwort gewartet, jetzt schienen sich in seinem Herzen tausende Knoten zusammen zu ziehen. Der Wagen vor ihnen stoppte abrupt. Mark trat auf die Bremse, ihr Peugeot machte einen Satz und der Nasentrinker landete mit der Stirn auf der Scheibe.
"Hey, Mann, ich hätt mir fast…spinnst du?"
"Scheiße, hier geht nichts voran. Anna war`s.“
„Dachte, das wäre gegessen." Cedric rieb sich die Stirn.
"Verdammt!" Mark hämmerte aufs Lenkrad. Genau das wollte er nicht hören.
Fuck! Die Gefühle stülpten sich über den Verstand.

Die Heizung blies auf Hochtouren, unter seinem Pulli war Schweiß, er öffnete das Fenster und kalte Luft schmierte herein. Handbremse lockern, anfahren, bremsen. Der Blechwurm zwängte sich durch die Polizeikontrolle, wie die Verzweiflung in sein Herz.
So bräuchten sie noch Stunden für die ansonsten halbstündige Zugfahrt unter dem Ärmelkanal hindurch bis nach Calais und von dort über die Route National bis nach Aachen. Stunden, die diese Liebe nicht mehr hatte. Bin ab morgen 6 Wochen weg!

Mark steckte eine neue Kippe an und inhalierte, bis er den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?
Vor Monaten begann das Zweifeln. Wenn er in ihrer Nähe stand, zuckte sie unmerklich zusammen oder wurde hektisch, fing an, ihr Handy abzuschalten und war peinlich darauf bedacht, den Verlauf in ihrem Skype und Facebook zu löschen. Nachdem sie in den folgenden Wochen x-mal abends länger proben musste, er alleine zuhause das Abendbrot aß, hat er sich getraut zu fragen, was los sei. Er bemerkte das Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Die Enttäuschung darüber säte weiteren Zweifel. Er, der Luftikus und Musiker, sie, die zielstrebige und erfolgreichere. Genügte er ihr nicht mehr?
Er hatte viel Raum zum Nachdenken. Wenn er nicht aufpasste, liefen seine schlechten Gedanken Amok.

Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last of the melting Snow, der Song, den er für sie geschrieben hatte, summte in seinem Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für ihn war diese Tour der erste Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch Mark wusste, dass er diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte.
Neun Jahre. Er wollte nicht, dass die Gefühle jetzt hoch schwappten und ihn unter einer Welle aus Angst und Trostlosigkeit begruben. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in seiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in seinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?


Neben ihnen hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte ihn an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Sie gaffte immer noch. Zuerst sah er schnell weg, dann kehrte sein Blick zurück und blieb haften. Was wollte die bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie ihm zu und schon knallte es. Mark spürte den Schmerz der einschneidenden Gurte an seiner Brust, sein Kopf wurde zurückgerissen. Cedric schrie ein überraschtes „Fuck“ aus. Er rieb sich den Nacken.
Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand, schob die Brille zurecht und stapfte eilig durch den Schnee auf sie zu.
Auch das noch. Mark sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Weiß lagen. Der kalte Wind schlug ihm entgegen. Flocken dampften im Lichtkegel der Scheinwerfer. Die Stoßstange war eingedrückt. Der Bärtige baute sich vor ihm auf. Mark entschuldigte sich so gut es ging mit Händen und Füßen, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Versicherungsnummern auf einen Zettel und reichte ihn dem Besänftigten. Hinter ihnen hupten die wartenden Autos und bahnten sich einen Kreis um das Malheur.
Auf den Rücksitzen des Volvos bewegten sich Kopftücher.
„Wahrscheinlich das Harem“, gluckste Cedric leise. Als er ihnen zunickte, schoben sie ihre Köpfe zusammen und kicherten. Nach einer Viertelstunde reihten sie sich wieder ein.

Im Wagen dampfte es, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands.
Neben ihm stopfte Cedric Chips in den Mund, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella. Mark hing der Song, den er selbst geschrieben hatte, aus den Ohren. Der Rauch stach in seiner Lunge und er stieß ihn gegen die Armaturen.

"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine OK-Ich -Weiß-Dir-Geht’s-Scheiße-Mimik und verstummte. Verzweifelt bemerkte er, wie das letzte Quäntchen Zuversicht dahin schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe.
„Ich muss sie heut noch sehen.“
„Was meinst du?“
„Sie bitten, bei mir zu bleiben?“
„Ist das dein Ernst?“ Cedric hörte zu kauen auf.
„War ganz schön link von ihr, wie sie die Nummer durchgezogen hat.“ Er mampfte weiter.
„Glaubst du sie denkt noch an mich?“
Cedric zuckte mit den Schultern.
Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase.
Mark stützte sich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus. "Verdammt, pass doch auf."
Ich liebe dich Anna, und was tust du? Hat sie ihn je so geliebt, wie er sie liebte? Tränen juckten. Er schlug auf die Hupe, lies den Motor aufheulen. Cedric grinste herüber.
„Es kann nicht einfach so vorbei sein!
Er zog die Nase hoch.
„Scheiße, macht hinne!"

An der Kontrollstelle mussten sie ihre Pässe vorzeigen.
Mark klappte vor der Policewoman den schwarzen Koffer seiner Gibson SG auf. "This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany."
Das gepuderte Kinn der Politesse wabbelte. Schließlich setzte sie ihre Terriermaske auf und bedeutete ihnen weiterzufahren.

"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er mampfend.
"Shit, du nervst einfach!"
Insgeheim taten diese lapidaren Kommentare seines Freundes gut. Sie waren gut, um die wühlende Unruhe in Schach zu halten.
„Kennst du das?“
„Was?“
„Angst?“
„Vor was?“
„Alleine zu sein und es immer gewesen zu sein?“
„Hmm.“


Ein in neongelb gekleideter Typ winkte sie auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Seine Gedanken zerfaserten, wie der Dunst in diesem trostlosen Verladebahnhof. Die grauen, bauchigen Waggons verschluckten sie. Rumpelnd über Eisenschwellen, folgten sie dem Vordermann und blieben nach einigen Metern auf ihrer Parkposition stehen.

Auf einer elektronischen Anzeigetafel an der Decke im Zugabteil lief ein Buchstabenband eine Schleife.
... Enjoy your Trip with Eurocitytrain!...

"Ahhh, Alter, muss erst mal pissen.“ Mit diesen Worten war Cedric schon ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für Mark die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen.
Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt verblasste sie zu einer Unwichtigkeit.

Mark lies das Fenster herunter und schnüffelte Waggonluft. Es roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich sah er in die blitzenden Augen der Alten. Sie starrte ihn an, lächelte, zeigte ihre krummen Zahnstümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink seine Aufmerksamkeit auf das Anzeigenband lenkte. Was wollte die bloß von ihm? Mark folgte ihrem Blick.
Auf dem Band wanderten deutsche Worte von links nach rechts.
... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A
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Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich zwischen Mark und die sonderliche Frau. Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster, bis sie endlich aufzischte. Mark entdeckte zwei verschleierte Muslime, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Moslems hinten, Juden vorn. Ging doch! Irgendwie fand er diesen ganzen Religionsscheiß nervig. Mark hätte sich gerne noch über allerlei solcher Unzulänglichkeiten lustig gemacht. Doch als er bemerkte, wie ein Pärchen weiter vorne sich umarmte, fiel ihm ein, dass das einzige Universelle und Grenzen überschreitende, wohl die Liebe sei.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Sein Blick stürmte die elektronische Anzeigetafel. Das gab es doch nicht!
... Verbunden für immer!
ANNA ANNA ANNA ...

Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er glühte. Konnte das Zufall sein? Das Band, dessen er sich stets bewusst war? Wo war die alte Frau? Marks Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden. Er versuchte sich wieder zu sammeln.
Cedrik kam zurück, reichte ihm eine Tüte Smarties und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand. "Ehre den Gott der Juden, denn er ist auch mein Gott, ehre den Gott der Muslime, denn er ist auch mein Gott, ehre Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich eine vergessen?“
Mark lehnte ab.
„Was ist denn mit dir los? Hast grad den Allmächtigen gesehen?“
Er deutete Richtung Anzeige.
Cedric Stand zuerst auf der Leitung.
„Och nee, Alterchen, ist es echt noch so schlimm! Er schaute zur Abwechslung mal ernst.
„Oh Mann, dich hats echt erwischt.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um. ... Wechseln Sie heute noch Ihren Telefonanbieter. Chose the Change! The European Company! NNAA ...
Cedrics Grinsen fühlte sich an wie Hohn.

Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich Smarties in den Mund und hörte i-Phone. Mark dachte über die seltsame Oma, die Botschaft und Anna nach. Das konnte doch kein Zufall mehr sein. Denken. Seine Gedanken schlugen gegen einen elektrischen Zaun. Sein Kopf war wund vor lauter Denken.
Sie liebte Pflanzen über alles und lehrte ihn Elefantenohren, Strelitzien, Sukkulenten und Euphorbien zu unterscheiden. Die unzähligen Blumenkübel hatte sie nach dem ersten Nachtfrost mit hochgekrempelten Ärmeln und funkelnden Augen in die Wohnung geschleppt, Spuren von Blumenerde und Tropfwasser nach sich ziehend. Hinter jeder Ecke lauerte fortan ein Farn.
Die grüne Zellulose war ihm gleichgültig, aber er liebte Anna, deshalb liebte er grüne Zellulose. Was war dieses Zuhause? Sie war es. Sie machte ihn zu einem besseren Menschen.
Er hatte Angst vor der Wahrheit.

Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Zehn Minuten ungefähr, dann spürten sie, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, wie konnte das sein?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Mark prustete auf.
Sie stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Mark spürte eine unheilvolle Beklemmung. Er wusste, es war reine Kopfsache, aber längst zuckte der Gedanke eines Anschlags unaufhörlich.
Es blieb dunkel, Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen, Mark schaute sich das ganze mit anderen Männern von nahem an. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Nichts ging mehr. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.
„(*OB*Die Alte spricht ihn direkt an. Ihr seid Verbunden für die Ewigkeit, auch wenn jetzt Schmerz dazwischen steht. Suche sie.
Es knirscht, Marc sieht wie ein Stück Metall gegen die Scheibe kracht.
Zugwärter sichern die Scheibe. Als Marc sich wieder umblickt ist die Alte verschwunden. Er sucht sie vergeblich, stattdessen kommt ihm Cedrik wippend entgegen.*OB*)Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach ihn von hinten an. Mark wirbelte herum.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Er blickte verwirrt in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau.
Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“
Etwas krachte gegen die Scheibe. Sie zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt. Beeil dich!“ Langsam wurden ihm die seltsamen Worte unangenehm.
Das Geschrei eines Kindes, das mit seiner Mutter haderte, lenkte ihn ab.
Als er sich erneut umsah, war die Alte verschwunden. Er bahnte sich einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den er versehentlich anrempelte, strafte ihn mit Blicken. Er lief die nächsten drei Waggons ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergeblich, sie war wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen tanzte ihm Cedric entgegen.
„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab.

Mark wusste nicht mehr wo ihm der Kopf stand. Was er soeben gehört hatte berührte ihn. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Das gabs doch nicht! Woher wusste sie?
Das einzige, was er jetzt noch wollte, war Anna zu sehen! Und zwar so schnell wie möglich! Er musste sich beeilen.

Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an.
„Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Die Luft roch verbraucht. Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter.
Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging eine Art Notbeleuchtung an.

Nach einer schier unendlich erscheinenden Zeit, ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Jude lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Moslem hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.

Unter normalen Umständen hätte er Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald sie aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um ihn genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf seiner Seele herumtrampelte? Dass sie ihn wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war er bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. Ein Bund für die Ewigkeit. Scheiße. Suche sie, sonst bist du verloren? Die Alte war total abgedreht.
Er kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen ihn.

Nachdem das Gedönse mit dem Zugdefekt gelöst schien, ging der Rest schnell.
Der Eurocity spuckte sie im Bahnhof von Calais aus. Auch hier schüttelte der Himmerl kräftig die eisigen Federn. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und schon waren sie auf offenem Land. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter ihnen hindurch. Vielleicht schafften sie es noch, vor zwei daheim zu sein. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete seine Lunge, als er sich die Kippe ansteckte.

Mark machte Cedric klar, dass er durchfahren würde, Klo und Getränkenachschub verkneifen musste.
Sollte er sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annes Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah Mark bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.

Mark sog die Luft ein, zitterte vor Kälte und Schiss, schnippte die Kippe weg.
Er stand um 3.23 Uhr unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden stierten herab.
Sie schliefen. Er klingelte. Die Sekunden dehnten sich und er klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Sein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Er zögerte!
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.

Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus seinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Er spürte, wie er all seine Hoffnung in diese beiden Worte legte und hörte, wie ihm die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"
Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an. Sie stand vor ihm, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte er ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah den kleinen Sonnenfleck am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte ihn nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Er zog die Nase hoch und sagte:
"Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."

Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...
Er kramte aus einem Impuls heraus den Ring aus der Hose, ihren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Mark wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
„Mark, warum tust du dir das an?“ Ihre schönen Augen blickten auf seine Seele und aus seinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“
Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hört er nur das Rauschen des eisigen Windes.

Er konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte er sich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie ihm hinterher rief, doch sie blieb stumm, er lief die Straße weiter, um die nächste Ecke, bis er keuchend und weinend um Atem rang. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Er kickte gegen eine Tonne. Krachen. Er schrie! Die halbe Nacht irrte er durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte er, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an seiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, er weinte bitterlich, er fror und zitterte. Er suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!

In der kalten Wohnung zog er sich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch sich unter der Decke.
Er nahm die Gibson auf den Schoß und wischte sich mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Zuerst war es nur ein Akkord, dann wuchs die Strophe zu einer Melodie aus Tränen und Stolz, hingekritzelt auf einem Block und unzählige Male wiederholt und geschliffen. Er summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor seinem Fenster verdrängte.
Bis zwei Uhr schlief er. Danach rief er Cedric an. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Er deutete auf sein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“
„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte Mark auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Er begann sich zu häuten und streifte das Nachdenken ab.
Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Mark musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit - vorerst. Dann nahm er die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.
 

TimKlueck

Mitglied
The Last Of The Melting Snow

Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der Polizei. Eben kamen sie, trotz der Glätte, noch zügig voran. Jetzt brachte eine Bombendrohung die Eincheckprozedur vor dem Eurotunnel völlig aus dem Lot und Mark in höchste Verzweiflung. Er wollte nur noch heim vor dem Reisechaos, Mitte Dezember. Mark steckte sich eine Gauloises an. Der Tabak machte ihn ein wenig schwindelig, doch das war beruhigend und verrückte ihn angenehm. Sein Kumpel und Nasentrinker Cedric wippte geistesabwesend auf dem Beifahrersitz, i-phonebestöpselt und kaute Smarties. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen der ungeduldig Reisenden dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.
Ein Wesen mit rosigem Gesicht blickte ihn unerwartet aus dem Nachbarauto an. Ihr Antlitz schimmerte hinter einem feinen Vorhang orangefarbener Flocken. Die dunkle Haarlocke umrahmte ihr Lächeln. Mark spürte in seiner Mitte eine Wärme, die eine Ahnung von Vertrautheit erzeugte. Er blies den Rauch gegen die beschlagene Scheibe und lächelte zurück. Die Liebe zerriss Seelen, wie niemand anders.

Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als er Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Kurz vor Weihnachten lieh er sich bei ihr den Ordner für Musikdidaktik aus, für die Prüfung, wie er vorgab, nur um sie zu sehen und wenige Tage später im Kino, ganz vorsichtig, ihre Hand zu streicheln. Neun Jahre! Was darauf folgte, wurde die Liebe seines Lebens. Es war so unzweifelhaft.

Mark wich zurück. Der Schädel eines wutentbrannt dreinblickenden Glatzkopfes hatte sich vor seine Gedanken geschoben. Das Leben war eine Fratze. Der Kerl im Auto glotzte finster, drückte den Kiefer vor und das Gaspedal durch. Mark senkte den Blick. Die Faust dieses eifersüchtigen Typen wollte er jedenfalls nicht riskieren. In seiner Hosentasche begann es zu vibrieren. Eine SMS von Anna. Die Hitze durchflutete ihn bis unter die Haarwurzeln. Hastig wühlte er das Handy heraus und starrte auf die Bremslichter des Volvos davor.
Mit der einen Hand hielt er das Lenkrad, mit der anderen öffnete er zitternd das Display, auf dem ein Viereckchen blinkte.

Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir
leid. Anna


Sein Innerstes flatterte, ihm war plötzlich glühend heiß. Er hatte den ganzen Tag auf Annas Antwort gewartet, jetzt schienen sich in seinem Herzen tausende Knoten zusammen zu ziehen. Der Wagen vor ihnen stoppte abrupt. Mark trat auf die Bremse, ihr Peugeot machte einen Satz und der Nasentrinker landete mit der Stirn auf der Scheibe.
"Hey, Mann, ich hätt mir fast…spinnst du?"
"Scheiße, hier geht nichts voran. Anna war`s.“
„Dachte, das wäre gegessen." Cedric rieb sich die Stirn.
"Verdammt!" Mark hämmerte aufs Lenkrad. Genau das wollte er nicht hören.
Fuck! Die Gefühle stülpten sich über den Verstand.

Die Heizung blies auf Hochtouren, unter seinem Pulli war Schweiß, er öffnete das Fenster und kalte Luft schmierte herein. Handbremse lockern, anfahren, bremsen. Der Blechwurm zwängte sich durch die Polizeikontrolle, wie die Verzweiflung in sein Herz.
So bräuchten sie noch Stunden für die ansonsten halbstündige Zugfahrt unter dem Ärmelkanal hindurch bis nach Calais und von dort über die Route National bis nach Aachen. Stunden, die diese Liebe nicht mehr hatte. Bin ab morgen 6 Wochen weg!

Mark steckte eine neue Kippe an und inhalierte, bis er den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?
Vor Monaten begann das Zweifeln. Wenn er in ihrer Nähe stand, zuckte sie unmerklich zusammen oder wurde hektisch, fing an, ihr Handy abzuschalten und war peinlich darauf bedacht, den Verlauf in ihrem Skype und Facebook zu löschen. Nachdem sie in den folgenden Wochen x-mal abends länger proben musste, er alleine zuhause das Abendbrot aß, hat er sich getraut zu fragen, was los sei. Er bemerkte das Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Die Enttäuschung darüber säte weiteren Zweifel. Er, der Luftikus und Musiker, sie, die zielstrebige und erfolgreichere. Genügte er ihr nicht mehr?
Er hatte viel Raum zum Nachdenken. Wenn er nicht aufpasste, liefen seine schlechten Gedanken Amok.

Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last of the melting Snow, der Song, den er für sie geschrieben hatte, summte in seinem Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für ihn war diese Tour der erste Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch Mark wusste, dass er diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte.
Neun Jahre. Er wollte nicht, dass die Gefühle jetzt hoch schwappten und ihn unter einer Welle aus Angst und Trostlosigkeit begruben. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in seiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in seinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?


Neben ihnen hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte ihn an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Sie gaffte immer noch. Zuerst sah er schnell weg, dann kehrte sein Blick zurück und blieb haften. Was wollte die bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie ihm zu und schon knallte es. Mark spürte den Schmerz der einschneidenden Gurte an seiner Brust, sein Kopf wurde zurückgerissen. Cedric schrie ein überraschtes „Fuck“ aus. Er rieb sich den Nacken.
Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand, schob die Brille zurecht und stapfte eilig durch den Schnee auf sie zu.
Auch das noch. Mark sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Weiß lagen. Der kalte Wind schlug ihm entgegen. Flocken dampften im Lichtkegel der Scheinwerfer. Die Stoßstange war eingedrückt. Der Bärtige baute sich vor ihm auf. Mark entschuldigte sich so gut es ging mit Händen und Füßen, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Versicherungsnummern auf einen Zettel und reichte ihn dem Besänftigten. Hinter ihnen hupten die wartenden Autos und bahnten sich einen Kreis um das Malheur.
Auf den Rücksitzen des Volvos bewegten sich Kopftücher.
„Wahrscheinlich das Harem“, gluckste Cedric leise. Als er ihnen zunickte, schoben sie ihre Köpfe zusammen und kicherten. Nach einer Viertelstunde reihten sie sich wieder ein.

Im Wagen dampfte es, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands.
Neben ihm stopfte Cedric Chips in den Mund, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella. Mark hing der Song, den er selbst geschrieben hatte, aus den Ohren. Der Rauch stach in seiner Lunge und er stieß ihn gegen die Armaturen.

"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine OK-Ich -Weiß-Dir-Geht’s-Scheiße-Mimik und verstummte. Verzweifelt bemerkte er, wie das letzte Quäntchen Zuversicht dahin schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe.
„Ich muss sie heut noch sehen.“
„Was meinst du?“
„Sie bitten, bei mir zu bleiben?“
„Ist das dein Ernst?“ Cedric hörte zu kauen auf.
„War ganz schön link von ihr, wie sie die Nummer durchgezogen hat.“ Er mampfte weiter.
„Glaubst du sie denkt noch an mich?“
Cedric zuckte mit den Schultern.
Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase.
Mark stützte sich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus. "Verdammt, pass doch auf."
Ich liebe dich Anna, und was tust du? Hat sie ihn je so geliebt, wie er sie liebte? Tränen juckten. Er schlug auf die Hupe, lies den Motor aufheulen. Cedric grinste herüber.
„Es kann nicht einfach so vorbei sein!
Er zog die Nase hoch.
„Scheiße, macht hinne!"

An der Kontrollstelle mussten sie ihre Pässe vorzeigen.
Mark klappte vor der Policewoman den schwarzen Koffer seiner Gibson SG auf. "This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany."
Das gepuderte Kinn der Politesse wabbelte. Schließlich setzte sie ihre Terriermaske auf und bedeutete ihnen weiterzufahren.

"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er mampfend.
"Shit, du nervst einfach!"
Insgeheim taten diese lapidaren Kommentare seines Freundes gut. Sie waren gut, um die wühlende Unruhe in Schach zu halten.
„Kennst du das?“
„Was?“
„Angst?“
„Vor was?“
„Alleine zu sein und es immer gewesen zu sein?“
„Hmm.“


Ein in neongelb gekleideter Typ winkte sie auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Seine Gedanken zerfaserten, wie der Dunst in diesem trostlosen Verladebahnhof. Die grauen, bauchigen Waggons verschluckten sie. Rumpelnd über Eisenschwellen, folgten sie dem Vordermann und blieben nach einigen Metern auf ihrer Parkposition stehen.

Auf einer elektronischen Anzeigetafel an der Decke im Zugabteil lief ein Buchstabenband eine Schleife.
... Enjoy your Trip with Eurocitytrain!...

"Ahhh, Alter, muss erst mal pissen.“ Mit diesen Worten war Cedric schon ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für Mark die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen.
Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt verblasste sie zu einer Unwichtigkeit.

Mark lies das Fenster herunter und schnüffelte Waggonluft. Es roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich sah er in die blitzenden Augen der Alten. Sie starrte ihn an, lächelte, zeigte ihre krummen Zahnstümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink seine Aufmerksamkeit auf das Anzeigenband lenkte. Was wollte die bloß von ihm? Mark folgte ihrem Blick.
Auf dem Band wanderten deutsche Worte von links nach rechts.
... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A
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Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich zwischen Mark und die sonderliche Frau. Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster, bis sie endlich aufzischte. Mark entdeckte zwei verschleierte Muslime, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Moslems hinten, Juden vorn. Ging doch! Irgendwie fand er diesen ganzen Religionsscheiß nervig. Mark hätte sich gerne noch über allerlei solcher Unzulänglichkeiten lustig gemacht. Doch als er bemerkte, wie ein Pärchen weiter vorne sich umarmte, fiel ihm ein, dass das einzige Universelle und Grenzen überschreitende, wohl die Liebe sei.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Sein Blick stürmte die elektronische Anzeigetafel. Das gab es doch nicht!
... Verbunden für immer!
ANNA ANNA ANNA ...

Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er glühte. Konnte das Zufall sein? Das Band, dessen er sich stets bewusst war? Wo war die alte Frau? Marks Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden. Er versuchte sich wieder zu sammeln.
Cedrik kam zurück, reichte ihm eine Tüte Smarties und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand. "Ehre den Gott der Juden, denn er ist auch mein Gott, ehre den Gott der Muslime, denn er ist auch mein Gott, ehre Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich eine vergessen?“
Mark lehnte ab.
„Was ist denn mit dir los? Hast grad den Allmächtigen gesehen?“
Er deutete Richtung Anzeige.
Cedric Stand zuerst auf der Leitung.
„Och nee, Alterchen, ist es echt noch so schlimm! Er schaute zur Abwechslung mal ernst.
„Oh Mann, dich hats echt erwischt.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um. ... Wechseln Sie heute noch Ihren Telefonanbieter. Chose the Change! The European Company! NNAA ...
Cedrics Grinsen fühlte sich an wie Hohn.

Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich Smarties in den Mund und hörte i-Phone. Mark dachte über die seltsame Oma, die Botschaft und Anna nach. Das konnte doch kein Zufall mehr sein. Denken. Seine Gedanken schlugen gegen einen elektrischen Zaun. Sein Kopf war wund vor lauter Denken.
Sie liebte Pflanzen über alles und lehrte ihn Elefantenohren, Strelitzien, Sukkulenten und Euphorbien zu unterscheiden. Die unzähligen Blumenkübel hatte sie nach dem ersten Nachtfrost mit hochgekrempelten Ärmeln und funkelnden Augen in die Wohnung geschleppt, Spuren von Blumenerde und Tropfwasser nach sich ziehend. Hinter jeder Ecke lauerte fortan ein Farn.
Die grüne Zellulose war ihm gleichgültig, aber er liebte Anna, deshalb liebte er grüne Zellulose. Was war dieses Zuhause? Sie war es. Sie machte ihn zu einem besseren Menschen.
Er hatte Angst vor der Wahrheit.

Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Zehn Minuten ungefähr, dann spürten sie, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, wie konnte das sein?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Mark prustete auf.
Sie stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Mark spürte eine unheilvolle Beklemmung. Er wusste, es war reine Kopfsache, aber längst zuckte der Gedanke eines Anschlags unaufhörlich.
Es blieb dunkel, Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen, Mark schaute sich das ganze mit anderen Männern von nahem an. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Nichts ging mehr. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.
„(*OB*Die Alte spricht ihn direkt an. Ihr seid Verbunden für die Ewigkeit, auch wenn jetzt Schmerz dazwischen steht. Suche sie.
Es knirscht, Marc sieht wie ein Stück Metall gegen die Scheibe kracht.
Zugwärter sichern die Scheibe. Als Marc sich wieder umblickt ist die Alte verschwunden. Er sucht sie vergeblich, stattdessen kommt ihm Cedrik wippend entgegen.*OB*)Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach ihn von hinten an. Mark wirbelte herum.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Er blickte verwirrt in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau.
Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“
Etwas krachte gegen die Scheibe. Sie zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt. Beeil dich!“ Langsam wurden ihm die seltsamen Worte unangenehm.
Das Geschrei eines Kindes, das mit seiner Mutter haderte, lenkte ihn ab.
Als er sich erneut umsah, war die Alte verschwunden. Er bahnte sich einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den er versehentlich anrempelte, strafte ihn mit Blicken. Er lief die nächsten drei Waggons ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergeblich, sie war wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen tanzte ihm Cedric entgegen.
„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab.

Mark wusste nicht mehr wo ihm der Kopf stand. Was er soeben gehört hatte berührte ihn. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Das gabs doch nicht! Woher wusste sie?
Das einzige, was er jetzt noch wollte, war Anna zu sehen! Und zwar so schnell wie möglich! Er musste sich beeilen.

Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an.
„Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Die Luft roch verbraucht. Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter.
Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging eine Art Notbeleuchtung an.

Nach einer schier unendlich erscheinenden Zeit, ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Jude lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Moslem hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.

Unter normalen Umständen hätte er Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald sie aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um ihn genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf seiner Seele herumtrampelte? Dass sie ihn wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war er bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. Ein Bund für die Ewigkeit. Scheiße. Suche sie, sonst bist du verloren? Die Alte war total abgedreht.
Er kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen ihn.

Nachdem das Gedönse mit dem Zugdefekt gelöst schien, ging der Rest schnell.
Der Eurocity spuckte sie im Bahnhof von Calais aus. Auch hier schüttelte der Himmerl kräftig die eisigen Federn. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und schon waren sie auf offenem Land. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter ihnen hindurch. Vielleicht schafften sie es noch, vor zwei daheim zu sein. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete seine Lunge, als er sich die Kippe ansteckte.

Mark machte Cedric klar, dass er durchfahren würde, Klo und Getränkenachschub verkneifen musste.
Sollte er sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annes Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah Mark bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.

Mark sog die Luft ein, zitterte vor Kälte und Schiss, schnippte die Kippe weg.
Er stand um 3.23 Uhr unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden stierten herab.
Sie schliefen. Er klingelte. Die Sekunden dehnten sich und er klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Sein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Er zögerte!
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.

Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus seinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Er spürte, wie er all seine Hoffnung in diese beiden Worte legte und hörte, wie ihm die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"
Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an. Sie stand vor ihm, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte er ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah den kleinen Sonnenfleck am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte ihn nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Er zog die Nase hoch und sagte:
"Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."

Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...
Er kramte aus einem Impuls heraus den Ring aus der Hose, ihren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Mark wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
„Mark, warum tust du dir das an?“ Ihre schönen Augen blickten auf seine Seele und aus seinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“
Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hört er nur das Rauschen des eisigen Windes.

Er konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte er sich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie ihm hinterher rief, doch sie blieb stumm, er lief die Straße weiter, um die nächste Ecke, bis er keuchend und weinend um Atem rang. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Er kickte gegen eine Tonne. Krachen. Er schrie! Die halbe Nacht irrte er durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte er, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an seiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, er weinte bitterlich, er fror und zitterte. Er suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!

In der kalten Wohnung zog er sich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch sich unter der Decke.
Er nahm die Gibson auf den Schoß und wischte sich mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Zuerst war es nur ein Akkord, dann wuchs die Strophe zu einer Melodie aus Tränen und Stolz, hingekritzelt auf einem Block und unzählige Male wiederholt und geschliffen. Er summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor seinem Fenster verdrängte.
Bis zwei Uhr schlief er. Danach rief er Cedric an. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Er deutete auf sein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“
„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte Mark auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Er begann sich zu häuten und streifte das Nachdenken ab.
Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Mark musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit - vorerst. Dann nahm er die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.
 

TimKlueck

Mitglied
The Last Of The Melting Snow

Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der Polizei. Eben kamen sie, trotz der Glätte, noch zügig voran. Jetzt brachte eine Bombendrohung die Eincheckprozedur vor dem Eurotunnel völlig aus dem Lot und Mark in höchste Verzweiflung. Er wollte nur noch heim vor dem Reisechaos, Mitte Dezember. Mark steckte sich eine Gauloises an. Der Tabak machte ihn ein wenig schwindelig, doch das war beruhigend und verrückte ihn angenehm. Sein Kumpel und Nasentrinker Cedric wippte geistesabwesend auf dem Beifahrersitz, i-phonebestöpselt und kaute Smarties. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen der ungeduldig Reisenden dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.
Ein Wesen mit rosigem Gesicht blickte ihn unerwartet aus dem Nachbarauto an. Ihr Antlitz schimmerte hinter einem feinen Vorhang orangefarbener Flocken. Die dunkle Haarlocke umrahmte ihr Lächeln. Mark spürte in seiner Mitte eine Wärme, die eine Ahnung von Vertrautheit erzeugte. Er blies den Rauch gegen die beschlagene Scheibe und lächelte zurück. Die Liebe zerriss Seelen, wie niemand anders.

Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als er Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Kurz vor Weihnachten lieh er sich bei ihr den Ordner für Musikdidaktik aus, für die Prüfung, wie er vorgab, nur um sie zu sehen und wenige Tage später im Kino, ganz vorsichtig, ihre Hand zu streicheln. Neun Jahre! Was darauf folgte, wurde die Liebe seines Lebens. Es war so unzweifelhaft.

Mark wich zurück. Der Schädel eines wutentbrannt dreinblickenden Glatzkopfes hatte sich vor seine Gedanken geschoben. Das Leben war eine Fratze. Der Kerl im Auto glotzte finster, drückte den Kiefer vor und das Gaspedal durch. Mark senkte den Blick. Die Faust dieses eifersüchtigen Typen wollte er jedenfalls nicht riskieren. In seiner Hosentasche begann es zu vibrieren. Eine SMS von Anna. Die Hitze durchflutete ihn bis unter die Haarwurzeln. Hastig wühlte er das Handy heraus und starrte auf die Bremslichter des Volvos davor.
Mit der einen Hand hielt er das Lenkrad, mit der anderen öffnete er zitternd das Display, auf dem ein Viereckchen blinkte.

Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir
leid. Anna


Sein Innerstes flatterte, ihm war plötzlich glühend heiß. Er hatte den ganzen Tag auf Annas Antwort gewartet, jetzt schienen sich in seinem Herzen tausende Knoten zusammen zu ziehen. Der Wagen vor ihnen stoppte abrupt. Mark trat auf die Bremse, ihr Peugeot machte einen Satz und der Nasentrinker landete mit der Stirn auf der Scheibe.
"Hey, Mann, ich hätt mir fast…spinnst du?"
"Scheiße, hier geht nichts voran. Anna war`s.“
„Dachte, das wäre gegessen." Cedric rieb sich die Stirn.
"Verdammt!" Mark hämmerte aufs Lenkrad. Genau das wollte er nicht hören.
Fuck! Die Gefühle stülpten sich über den Verstand.

Die Heizung blies auf Hochtouren, unter seinem Pulli war Schweiß, er öffnete das Fenster und kalte Luft schmierte herein. Handbremse lockern, anfahren, bremsen. Der Blechwurm zwängte sich durch die Polizeikontrolle, wie die Verzweiflung in sein Herz.
So bräuchten sie noch Stunden für die ansonsten halbstündige Zugfahrt unter dem Ärmelkanal hindurch bis nach Calais und von dort über die Route National bis nach Aachen. Stunden, die diese Liebe nicht mehr hatte. Bin ab morgen 6 Wochen weg!

Mark steckte eine neue Kippe an und inhalierte, bis er den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?
Vor Monaten begann das Zweifeln. Wenn er in ihrer Nähe stand, zuckte sie unmerklich zusammen oder wurde hektisch, fing an, ihr Handy abzuschalten und war peinlich darauf bedacht, den Verlauf in ihrem Skype und Facebook zu löschen. Nachdem sie in den folgenden Wochen x-mal abends länger proben musste, er alleine zuhause das Abendbrot aß, hat er sich getraut zu fragen, was los sei. Er bemerkte das Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Die Enttäuschung darüber säte weiteren Zweifel. Er, der Luftikus und Musiker, sie, die zielstrebige und erfolgreichere. Genügte er ihr nicht mehr?
Er hatte viel Raum zum Nachdenken. Wenn er nicht aufpasste, liefen seine schlechten Gedanken Amok.

Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last of the melting Snow, der Song, den er für sie geschrieben hatte, summte in seinem Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für ihn war diese Tour der erste Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch Mark wusste, dass er diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte.
Neun Jahre. Er wollte nicht, dass die Gefühle jetzt hoch schwappten und ihn unter einer Welle aus Angst und Trostlosigkeit begruben. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in seiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in seinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?


Neben ihnen hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte ihn an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Sie gaffte immer noch. Zuerst sah er schnell weg, dann kehrte sein Blick zurück und blieb haften. Was wollte die bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie ihm zu und schon knallte es. Mark spürte den Schmerz der einschneidenden Gurte an seiner Brust, sein Kopf wurde zurückgerissen. Cedric schrie ein überraschtes „Fuck“ aus. Er rieb sich den Nacken.
Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand, schob die Brille zurecht und stapfte eilig durch den Schnee auf sie zu.
Auch das noch. Mark sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Weiß lagen. Der kalte Wind schlug ihm entgegen. Flocken dampften im Lichtkegel der Scheinwerfer. Die Stoßstange war eingedrückt. Der Bärtige baute sich vor ihm auf. Mark entschuldigte sich so gut es ging mit Händen und Füßen, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Versicherungsnummern auf einen Zettel und reichte ihn dem Besänftigten. Hinter ihnen hupten die wartenden Autos und bahnten sich einen Kreis um das Malheur.
Auf den Rücksitzen des Volvos bewegten sich Kopftücher.
„Wahrscheinlich das Harem“, gluckste Cedric leise. Als er ihnen zunickte, schoben sie ihre Köpfe zusammen und kicherten. Nach einer Viertelstunde reihten sie sich wieder ein.

Im Wagen dampfte es, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands.
Neben ihm stopfte Cedric Chips in den Mund, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella. Mark hing der Song, den er selbst geschrieben hatte, aus den Ohren. Der Rauch stach in seiner Lunge und er stieß ihn gegen die Armaturen.

"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine OK-Ich -Weiß-Dir-Geht’s-Scheiße-Mimik und verstummte. Verzweifelt bemerkte er, wie das letzte Quäntchen Zuversicht dahin schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe.
„Ich muss sie heut noch sehen.“
„Was meinst du?“
„Sie bitten, bei mir zu bleiben?“
„Ist das dein Ernst?“ Cedric hörte zu kauen auf.
„War ganz schön link von ihr, wie sie die Nummer durchgezogen hat.“ Er mampfte weiter.
„Glaubst du sie denkt noch an mich?“
Cedric zuckte mit den Schultern.
Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase.
Mark stützte sich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus. "Verdammt, pass doch auf."
Ich liebe dich Anna, und was tust du? Hat sie ihn je so geliebt, wie er sie liebte? Tränen juckten. Er schlug auf die Hupe, lies den Motor aufheulen. Cedric grinste herüber.
„Es kann nicht einfach so vorbei sein!
Er zog die Nase hoch.
„Scheiße, macht hinne!"

An der Kontrollstelle mussten sie ihre Pässe vorzeigen.
Mark klappte vor der Policewoman den schwarzen Koffer seiner Gibson SG auf. "This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany."
Das gepuderte Kinn der Politesse wabbelte. Schließlich setzte sie ihre Terriermaske auf und bedeutete ihnen weiterzufahren.

"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er mampfend.
"Shit, du nervst einfach!"
Insgeheim taten diese lapidaren Kommentare seines Freundes gut. Sie waren gut, um die wühlende Unruhe in Schach zu halten.
„Kennst du das?“
„Was?“
„Angst?“
„Vor was?“
„Alleine zu sein und es immer gewesen zu sein?“
„Hmm.“


Ein in neongelb gekleideter Typ winkte sie auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Seine Gedanken zerfaserten, wie der Dunst in diesem trostlosen Verladebahnhof. Die grauen, bauchigen Waggons verschluckten sie. Rumpelnd über Eisenschwellen, folgten sie dem Vordermann und blieben nach einigen Metern auf ihrer Parkposition stehen.

Auf einer elektronischen Anzeigetafel an der Decke im Zugabteil lief ein Buchstabenband eine Schleife.
... Enjoy your Trip with Eurocitytrain!...

"Ahhh, Alter, muss erst mal pissen.“ Mit diesen Worten war Cedric schon ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für Mark die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen.
Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt verblasste sie zu einer Unwichtigkeit.

Mark lies das Fenster herunter und schnüffelte Waggonluft. Es roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich sah er in die blitzenden Augen der Alten. Sie starrte ihn an, lächelte, zeigte ihre krummen Zahnstümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink seine Aufmerksamkeit auf das Anzeigenband lenkte. Was wollte die bloß von ihm? Mark folgte ihrem Blick.
Auf dem Band wanderten deutsche Worte von links nach rechts.
... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A
.


Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich zwischen Mark und die sonderliche Frau. Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster, bis sie endlich aufzischte. Mark entdeckte zwei verschleierte Muslime, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Moslems hinten, Juden vorn. Ging doch! Irgendwie fand er diesen ganzen Religionsscheiß nervig. Mark hätte sich gerne noch über allerlei solcher Unzulänglichkeiten lustig gemacht. Doch als er bemerkte, wie ein Pärchen weiter vorne sich umarmte, fiel ihm ein, dass das einzige Universelle und Grenzen überschreitende, wohl die Liebe sei.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Sein Blick stürmte die elektronische Anzeigetafel. Das gab es doch nicht!
... Verbunden für immer!
ANNA ANNA ANNA ...

Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er glühte. Konnte das Zufall sein? Das Band, dessen er sich stets bewusst war? Wo war die alte Frau? Marks Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden. Er versuchte sich wieder zu sammeln.
Cedrik kam zurück, reichte ihm eine Tüte Smarties und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand. "Ehre den Gott der Juden, denn er ist auch mein Gott, ehre den Gott der Muslime, denn er ist auch mein Gott, ehre Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich eine vergessen?“
Mark lehnte ab.
„Was ist denn mit dir los? Hast grad den Allmächtigen gesehen?“
Er deutete Richtung Anzeige.
Cedric Stand zuerst auf der Leitung.
„Och nee, Alterchen, ist es echt noch so schlimm! Er schaute zur Abwechslung mal ernst.
„Oh Mann, dich hats echt erwischt.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um. ... Wechseln Sie heute noch Ihren Telefonanbieter. Chose the Change! The European Company! NNAA ...
Cedrics Grinsen fühlte sich an wie Hohn.

Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich Smarties in den Mund und hörte i-Phone. Mark dachte über die seltsame Oma, die Botschaft und Anna nach. Das konnte doch kein Zufall mehr sein. Denken. Seine Gedanken schlugen gegen einen elektrischen Zaun. Sein Kopf war wund vor lauter Denken.
Sie liebte Pflanzen über alles und lehrte ihn Elefantenohren, Strelitzien, Sukkulenten und Euphorbien zu unterscheiden. Die unzähligen Blumenkübel hatte sie nach dem ersten Nachtfrost mit hochgekrempelten Ärmeln und funkelnden Augen in die Wohnung geschleppt, Spuren von Blumenerde und Tropfwasser nach sich ziehend. Hinter jeder Ecke lauerte fortan ein Farn.
Die grüne Zellulose war ihm gleichgültig, aber er liebte Anna, deshalb liebte er grüne Zellulose. Was war dieses Zuhause? Sie war es. Sie machte ihn zu einem besseren Menschen.
Er hatte Angst vor der Wahrheit.

Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Zehn Minuten ungefähr, dann spürten sie, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, wie konnte das sein?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Mark prustete auf.
Sie stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Mark spürte eine unheilvolle Beklemmung. Er wusste, es war reine Kopfsache, aber längst zuckte der Gedanke eines Anschlags unaufhörlich.
Es blieb dunkel, Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen, Mark schaute sich das ganze mit anderen Männern von nahem an. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Nichts ging mehr. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.
"Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach ihn von hinten an. Mark wirbelte herum.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Er blickte verwirrt in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau.
Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“
Etwas krachte gegen die Scheibe. Sie zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt. Beeil dich!“ Langsam wurden ihm die seltsamen Worte unangenehm.
Das Geschrei eines Kindes, das mit seiner Mutter haderte, lenkte ihn ab.
Als er sich erneut umsah, war die Alte verschwunden. Er bahnte sich einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den er versehentlich anrempelte, strafte ihn mit Blicken. Er lief die nächsten drei Waggons ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergeblich, sie war wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen tanzte ihm Cedric entgegen.
„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab.

Mark wusste nicht mehr wo ihm der Kopf stand. Was er soeben gehört hatte berührte ihn. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Das gabs doch nicht! Woher wusste sie?
Das einzige, was er jetzt noch wollte, war Anna zu sehen! Und zwar so schnell wie möglich! Er musste sich beeilen.

Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an.
„Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Die Luft roch verbraucht. Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter.
Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging eine Art Notbeleuchtung an.

Nach einer schier unendlich erscheinenden Zeit, ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Jude lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Moslem hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.

Unter normalen Umständen hätte er Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald sie aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um ihn genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf seiner Seele herumtrampelte? Dass sie ihn wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war er bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. Ein Bund für die Ewigkeit. Scheiße. Suche sie, sonst bist du verloren? Die Alte war total abgedreht.
Er kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen ihn.

Nachdem das Gedönse mit dem Zugdefekt gelöst schien, ging der Rest schnell.
Der Eurocity spuckte sie im Bahnhof von Calais aus. Auch hier schüttelte der Himmerl kräftig die eisigen Federn. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und schon waren sie auf offenem Land. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter ihnen hindurch. Vielleicht schafften sie es noch, vor zwei daheim zu sein. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete seine Lunge, als er sich die Kippe ansteckte.

Mark machte Cedric klar, dass er durchfahren würde, Klo und Getränkenachschub verkneifen musste.
Sollte er sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annes Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah Mark bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.

Mark sog die Luft ein, zitterte vor Kälte und Schiss, schnippte die Kippe weg.
Er stand um 3.23 Uhr unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden stierten herab.
Sie schliefen. Er klingelte. Die Sekunden dehnten sich und er klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Sein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Er zögerte!
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.

Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus seinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Er spürte, wie er all seine Hoffnung in diese beiden Worte legte und hörte, wie ihm die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"
Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an. Sie stand vor ihm, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte er ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah den kleinen Sonnenfleck am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte ihn nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Er zog die Nase hoch und sagte:
"Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."

Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...
Er kramte aus einem Impuls heraus den Ring aus der Hose, ihren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Mark wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
„Mark, warum tust du dir das an?“ Ihre schönen Augen blickten auf seine Seele und aus seinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“
Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hört er nur das Rauschen des eisigen Windes.

Er konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte er sich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie ihm hinterher rief, doch sie blieb stumm, er lief die Straße weiter, um die nächste Ecke, bis er keuchend und weinend um Atem rang. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Er kickte gegen eine Tonne. Krachen. Er schrie! Die halbe Nacht irrte er durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte er, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an seiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, er weinte bitterlich, er fror und zitterte. Er suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!

In der kalten Wohnung zog er sich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch sich unter der Decke.
Er nahm die Gibson auf den Schoß und wischte sich mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Zuerst war es nur ein Akkord, dann wuchs die Strophe zu einer Melodie aus Tränen und Stolz, hingekritzelt auf einem Block und unzählige Male wiederholt und geschliffen. Er summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor seinem Fenster verdrängte.
Bis zwei Uhr schlief er. Danach rief er Cedric an. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Er deutete auf sein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“
„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte Mark auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Er begann sich zu häuten und streifte das Nachdenken ab.
Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Mark musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit - vorerst. Dann nahm er die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.
 

TimKlueck

Mitglied
The Last Of The Melting Snow

Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir
leid. Anna


Sein Innerstes flatterte, ihm war plötzlich glühend heiß. Er hatte den ganzen Tag auf Annas Antwort gewartet, jetzt schienen sich in seinem Herzen tausende Knoten zusammen zu ziehen. Der Wagen vor ihnen stoppte abrupt. Mark trat auf die Bremse, ihr Peugeot machte einen Satz und sein Kumpel und Nasentrinker landete mit der Stirn auf der Scheibe.
"Hey, Mann, ich hätt mir fast…spinnst du?"
"Scheiße, hier geht nichts voran. Anna war`s.“
„Dachte, das wäre gegessen." Cedric rieb sich die Stirn.
"Verdammt!" Mark hämmerte aufs Lenkrad. Genau das wollte er nicht hören. Fuck! Die Gefühle stülpten sich über den Verstand.


Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der Polizei. Eben kamen sie, trotz der Glätte, noch zügig voran. Jetzt brachte eine Bombendrohung die Eincheckprozedur vor dem Eurotunnel völlig aus dem Lot und Mark in höchste Verzweiflung. Er zog an seiner Gauloises. Der Tabak machte ihn ein wenig schwindelig, das einzig beruhigende jetzt. Der Nasentrinker zappelte i-phonebestöpselt neben ihm und kaute Smarties. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.

Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als er Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Kurz vor Weihnachten lieh er sich bei ihr den Ordner für Musikdidaktik aus, für die Prüfung, wie er vorgab, nur um sie zu sehen und wenige Tage später im Kino, ganz vorsichtig, ihre Hand zu streicheln. Neun Jahre! Was darauf folgte, wurde die Liebe seines Lebens. Es war so unzweifelhaft.

Die Heizung blies auf Hochtouren, unter seinem Pulli war Schweiß, er öffnete das Fenster und kalte Luft schmierte herein. Handbremse lockern, anfahren, bremsen. Der Blechwurm zwängte sich durch die Polizeikontrolle, wie die Verzweiflung in sein Herz.
So bräuchten sie noch Stunden für die ansonsten halbstündige Zugfahrt unter dem Ärmelkanal hindurch bis nach Calais und von dort über die Route National bis nach Aachen. Stunden, die diese Liebe nicht mehr hatte. Bin ab morgen 6 Wochen weg!
Er brauchte lange, bis er es raffte und sich nicht mehr selbst täuschen konnte. Wenn er in ihrer Nähe stand, zuckte sie unmerklich zusammen oder wurde hektisch, fing an, ihr Handy abzuschalten und war peinlich darauf bedacht, den Verlauf in ihrem Skype und Facebook zu löschen. Nachdem sie in den folgenden Wochen x-mal abends stundenlang proben musste, er alleine zuhause vor der Glotze aß, hat er sich getraut zu fragen, was los sei. Er bemerkte das Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Da war es längst zu spät. Es war seine Schuld.

Mark steckte eine neue Kippe an und inhalierte, bis er den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?

Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last of the melting Snow, der Song, den er für sie geschrieben hatte, summte in seinem Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für ihn war diese Tour der erste Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch Mark wusste, dass er diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte.
Neun Jahre. Er wollte nicht, dass die Gefühle jetzt hoch schwappten und ihn unter einer Welle aus Angst und Trostlosigkeit begruben. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in seiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in seinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?


Neben ihnen hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte ihn an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Sie gaffte immer noch. Zuerst sah er schnell weg, dann kehrte sein Blick zurück und blieb haften. Was wollte die bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie ihm zu und schon knallte es. Mark spürte den Schmerz der einschneidenden Gurte an seiner Brust, sein Kopf wurde zurückgerissen. Cedric schrie ein überraschtes „Fuck“ aus. Er rieb sich den Nacken.
Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand, schob die Brille zurecht und stapfte eilig durch den Schnee auf sie zu.

Auch das noch. Mark sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Weiß lagen. Der kalte Wind schlug ihm entgegen. Flocken dampften im Lichtkegel der Scheinwerfer. Die Stoßstange war eingedrückt. Der Bärtige baute sich vor ihm auf. Mark entschuldigte sich so gut es ging mit Händen und Füßen, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Versicherungsnummern auf einen Zettel und reichte ihn dem besänftigten Araber. Hinter ihnen hupten die wartenden Autos und bahnten sich einen Kreis um das Malheur.
Auf den Rücksitzen des Volvos bewegten sich Kopftücher.
„Wahrscheinlich das Harem“, gluckste Cedric leise. Als er ihnen zunickte, schoben sie ihre Köpfe zusammen und kicherten.
Nach einer Viertelstunde reihten sie sich wieder ein.

Im Wagen dampfte es, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands.
Neben ihm stopfte Cedric Chips in den Mund, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella. Mark hing der Song, den er selbst geschrieben hatte, aus den Ohren. Der Rauch stach in seiner Lunge und er stieß ihn gegen die Armaturen.
"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine OK-Ich -Weiß-Dir-Geht’s-Scheiße-Mimik und verstummte. Verzweifelt bemerkte er, wie das letzte Quäntchen Zuversicht dahin schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe.
„Ich muss sie heut noch sehen.“
„Was meinst du?“
„Sie bitten, bei mir zu bleiben?“
„Ist das dein Ernst?“ Cedric hörte zu kauen auf.
„War ganz schön link von ihr, wie sie die Nummer durchgezogen hat.“ Er mampfte weiter.
„Glaubst du sie denkt noch an mich?“
Cedric zuckte mit den Schultern.
Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase.
Mark stützte sich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus. "Verdammt, pass doch auf."
Ich liebe dich Anna, und was tust du? Hat sie ihn je so geliebt, wie er sie liebte? Tränen juckten. Er schlug auf die Hupe, lies den Motor aufheulen. Cedric grinste herüber.
„Es kann nicht einfach so vorbei sein!“ Er zog die Nase hoch. „Scheiße, macht hinne!"

An der Kontrollstelle mussten sie ihre Pässe vorzeigen.
Mark klappte vor der Policewoman den schwarzen Koffer seiner Gibson SG auf. "This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany."
Das gepuderte Kinn der Politesse wabbelte. Schließlich setzte sie ihre Terriermaske auf und bedeutete ihnen weiterzufahren.

"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er mampfend.
"Shit, du nervst einfach!"
Insgeheim taten diese lapidaren Kommentare seines Freundes gut.
Sie waren gut, um die wühlende Unruhe in Schach zu halten.
„Kennst du das?“
„Was?“
„Angst?“
„Vor was?“
„Alleine zu sein und es immer gewesen zu sein?“
„Hmm.“

Ein in neongelb gekleideter Typ winkte sie auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Seine Gedanken zerfaserten, wie der Dunst in diesem trostlosen Verladebahnhof. Die grauen, bauchigen Waggons verschluckten sie. Rumpelnd über Eisenschwellen, folgten sie dem Vordermann und blieben nach einigen Metern auf ihrer Parkposition stehen.

Auf einer elektronischen Anzeigetafel an der Decke im Zugabteil lief ein Buchstabenband eine Schleife.
... Enjoy your Trip with Eurocitytrain!...

„Ahhh, Alter, muss erst mal pissen.“ Mit diesen Worten war Cedric schon ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für Mark die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen.
Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt verblasste sie zu einer Unwichtigkeit.

Mark lies das Fenster herunter und schnüffelte Waggonluft. Es roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich sah er in die blitzenden Augen der Alten. Sie starrte ihn an, lächelte, zeigte ihre krummen Zahnstümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink seine Aufmerksamkeit auf das Anzeigenband lenkte. Was wollte die bloß von ihm? Mark folgte ihrem Blick.
Auf dem Band wanderten deutsche Worte von links nach rechts.
... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A .


Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich zwischen Mark und die sonderliche Frau. Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster, bis sie endlich aufzischte. Mark entdeckte zwei verschleierte Muslime, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Moslems hinten, Juden vorn. Ging doch! Irgendwie fand er diesen ganzen Religionsscheiß nervig. Mark hätte sich gerne noch über allerlei solcher Unzulänglichkeiten lustig gemacht. Doch als er bemerkte, wie ein Pärchen weiter vorne sich umarmte, fiel ihm ein, dass das einzige Universelle und Grenzen überschreitende, wohl die Liebe sei.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Sein Blick stürmte die elektronische Anzeigetafel. Das gab es doch nicht!
... Verbunden für immer! :
ANNA ANNA ANNA ...


Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er glühte. Konnte das Zufall sein? Das Band, dessen er sich stets bewusst war? Wo war die alte Frau? Marks Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden. Er versuchte sich wieder zu sammeln.
Cedrik kam zurück, und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand. "Ehre den Gott der Juden, denn er ist auch mein Gott, ehre den Gott der Muslime, denn er ist auch mein Gott, ehre Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich eine vergessen?“
Er reichte ihm eine Tüte Smarties. Mark lehnte ab.
„Was ist denn mit dir los? Hast grad den Allmächtigen gesehen?“
Er deutete Richtung Anzeige.
Cedric stand zuerst auf der Leitung.
„Och nee, Alterchen, ist es echt noch so schlimm! Er schaute zur Abwechslung mal ernst.
„Oh Mann, dich hats echt erwischt.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um. ... Wechseln Sie heute noch Ihren Telefonanbieter. Chose the Change! The European Company! NNAA ...
Cedrics Grinsen fühlte sich an wie Hohn.

Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich Smarties in den Mund und hörte i-Phone. Mark dachte über die seltsame Oma, die Botschaft und Anna nach. Das konnte doch kein Zufall mehr sein. Denken. Seine Gedanken schlugen gegen einen elektrischen Zaun. Sein Kopf war wund vor lauter Denken.

Sie liebte Pflanzen über alles und lehrte ihn Elefantenohren, Strelitzien, Sukkulenten und Euphorbien zu unterscheiden. Die unzähligen Blumenkübel hatte sie nach dem ersten Nachtfrost mit hochgekrempelten Ärmeln und funkelnden Augen in die Wohnung geschleppt, Spuren von Blumenerde und Tropfwasser nach sich ziehend. Hinter jeder Ecke lauerte fortan ein Farn.
Die grüne Zellulose war ihm gleichgültig, aber er liebte Anna, deshalb liebte er grüne Zellulose. Was war dieses Zuhause? Sie war es. Sie machte ihn zu einem besseren Menschen.
Er hatte Angst vor der Wahrheit.

Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Zehn Minuten ungefähr, dann spürten sie, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, wie konnte das sein?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Mark prustete auf.
Sie stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Mark spürte eine unheilvolle Beklemmung. Er wusste, es war reine Kopfsache, aber längst zuckte der Gedanke eines Anschlags unaufhörlich.

Es blieb dunkel, Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen, Mark schaute sich das ganze mit anderen Männern von nahem an. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.
„Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach ihn von hinten an. Mark wirbelte herum.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Er blickte verwirrt in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau.
Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“
Etwas krachte gegen die Scheibe. Sie zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt. Beeil dich!“ Langsam wurden ihm die seltsamen Worte unangenehm.

Das Geschrei eines Kindes, das mit seiner Mutter haderte, lenkte ihn ab.
Als er sich erneut umsah, war die Alte verschwunden. Er bahnte sich einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den er versehentlich anrempelte, strafte ihn mit Blicken. Er lief die nächsten drei Waggons ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergeblich, sie war wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen tanzte ihm Cedric entgegen.
„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“ Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab.
Mark wusste nicht mehr wo ihm der Kopf stand. Was er soeben gehört hatte berührte ihn. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Das gabs doch nicht! Woher wusste sie?
Das einzige, was er jetzt noch wollte, war Anna zu sehen! Und zwar so schnell wie möglich! Er musste sich beeilen.

Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an.
„Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Die Luft roch verbraucht. Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter.
Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging eine Art Notbeleuchtung an.

Schließlich ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Jude lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Moslem hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.

Unter normalen Umständen hätte er Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald sie aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um ihn genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf seiner Seele herumtrampelte? Dass sie ihn wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war er bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. Ein Bund für die Ewigkeit. Scheiße. Suche sie, sonst bist du verloren? Die Alte war total abgedreht.
Er kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen ihn.

Nachdem das Gedönse mit dem Zugdefekt gelöst schien, ging der Rest schnell.
Der Eurocity spuckte sie im Bahnhof von Calais aus. Auch hier schüttelte der Himmerl kräftig die eisigen Federn. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und schon waren sie auf offenem Land. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter ihnen hindurch. Vielleicht schafften sie es noch, vor zwei daheim zu sein. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete seine Lunge, als er sich die Kippe ansteckte.

Mark machte Cedric klar, dass er durchfahren würde, Klo und Getränkenachschub verkneifen musste.
Sollte er sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annes Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah Mark bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.

Mark sog die Luft ein, zitterte vor Kälte und Schiss, schnippte die Kippe weg.
Er stand um 3.23 Uhr unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden stierten herab.
Sie schliefen. Er klingelte. Die Sekunden dehnten sich und er klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Sein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Er zögerte!
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.

Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus seinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Er spürte, wie er all seine Hoffnung in diese beiden Worte legte und hörte, wie ihm die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"
Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an. Sie stand vor ihm, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte er ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah den kleinen Sonnenfleck am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte ihn nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Er zog die Nase hoch und sagte:
"Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."

Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...
Er kramte aus einem Impuls heraus den Ring aus der Hose, ihren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Mark wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
„Mark, warum tust du dir das an?“ Ihre schönen Augen blickten auf seine Seele und aus seinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“
Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hört er nur das Rauschen des eisigen Windes.

Er konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte er sich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie ihm hinterher rief, doch sie blieb stumm, er lief die Straße weiter, um die nächste Ecke, bis er keuchend und weinend um Atem rang. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Er kickte gegen eine Tonne. Krachen. Er schrie! Die halbe Nacht irrte er durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte er, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an seiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, er weinte bitterlich, er fror und zitterte. Er suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!

In der kalten Wohnung zog er sich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch sich unter der Decke.
Er nahm die Gibson auf den Schoß und wischte sich mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Zuerst war es nur ein Akkord, dann wuchs die Strophe zu einer Melodie aus Tränen und Stolz, hingekritzelt auf einem Block und unzählige Male wiederholt und geschliffen. Er summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor seinem Fenster verdrängte.

Bis zwei Uhr schlief er. Danach rief er Cedric an. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Er deutete auf sein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“
„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte Mark auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Er begann sich zu häuten und streifte das Nachdenken ab.

Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Mark musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit -vorerst. Dann nahm er die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.
 

TimKlueck

Mitglied
Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir leid.



Mein Innerstes flatterte, mir war plötzlich glühend heiß. Ich hatte den ganzen Tag auf Annas Antwort gewartet, jetzt zogen sich in meinem Herzen tausende Knoten zusammen. Der Wagen vor uns stoppte abrupt. Ich trat auf die Bremse, unser Peugeot machte einen Satz und mein Kumpel und Nasentrinker landete mit der Stirn auf der Scheibe.
"Hey, Mann, ich hätt mir fast…spinnst du?"
"Scheiße, hier geht nichts voran. Anna war`s.“
„Dachte, das wäre gegessen." Cedric rieb sich die Stirn.
"Verdammt!" Ich hämmerte aufs Lenkrad. Genau das wollte ich nicht hören.
Fuck! Die Gefühle stülpten sich über den Verstand.


Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der Polizei. Eben kamen wir, trotz der Glätte, noch zügig voran. Mittlerweile brachte eine Bombendrohung die Eincheckprozedur vor dem Eurotunnel völlig aus dem Lot und mich in höchste Verzweiflung. Ich zog an meiner Gauloises. Der Tabak machte mich ein wenig schwindelig, doch das tat gut. Der Nasentrinker zappelte i-phonebestöpselt neben mir und kaute Smarties. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.

Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als ich Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und mich unsterblich in sie verliebt hatte. Kurz vor Weihnachten lieh ich mir bei ihr den Ordner für Musikdidaktik aus, für die Prüfung, wie ich vorgab, nur um sie zu sehen und wenige Tage später im Kino, ganz vorsichtig, ihre Hand zu streicheln. Neun Jahre! Was darauf folgte, wurde die Liebe meines Lebens. Es war so unzweifelhaft.

Die Heizung blies auf Hochtouren, unter meinem Pulli war Schweiß, ich öffnete das Fenster und kalte Luft schmierte herein. Handbremse lockern, anfahren, bremsen. Der Blechwurm zwängte sich durch die Polizeikontrolle, wie der Schwermut in mein Herz.
So bräuchten wir noch Stunden für die ansonsten halbstündige Zugfahrt unter dem Ärmelkanal hindurch bis nach Calais und von dort über die Route National bis nach Aachen. Stunden, die diese Liebe nicht mehr hatte. Bin ab morgen 6 Wochen weg!

Ich brauchte lange, bis ich es raffte und mich nicht mehr selbst täuschen konnte. Wenn ich in ihrer Nähe stand, zuckte sie unmerklich zusammen oder wurde hektisch. Sie fing an, ihr Handy abzuschalten und war peinlich darauf bedacht, den Verlauf in ihrem Skype und Facebook zu löschen. Nachdem sie in den folgenden Wochen x-mal abends stundenlang proben musste, ich alleine zuhause vor der Glotze aß, habe ich mich sich getraut zu fragen, was los sei. Ich bemerkte das Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Da war es längst zu spät. Es war meine Schuld.Ich steckte eine neue Kippe an und inhalierte, bis ich den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?

Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last of the melting Snow, der Song, den ich für sie geschrieben hatte, summte mir im Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für mich war diese Tour der erste Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch ich wusste, dass ich diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte.
Neun Jahre. Ich wollte nicht, dass die Gefühle jetzt hoch schwappten und mich unter einer Welle aus Angst und Trostlosigkeit begruben. Ich sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in meiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in meinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?


Neben uns hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte mich an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Sie gaffte immer noch. Zuerst sah ich schnell weg, dann kehrte mein Blick zurück und blieb haften. Was wollte die bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie mir zu und schon knallte es. Ich spürte den Schmerz der einschneidenden Gurte an meiner Brust, mein Kopf wurde zurückgerissen. Cedric schrie ein überraschtes „Fuck“ aus. Er rieb sich den Nacken.
Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand, schob die Brille zurecht und stapfte eilig durch den Schnee auf uns zu.

Auch das noch. Ich sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Weiß lagen. Der kalte Wind schlug mir entgegen. Flocken dampften im Lichtkegel der Scheinwerfer. Die Stoßstange war eingedrückt. Der Bärtige baute sich vor mir auf. Ich entschuldigte mich so gut es ging mit Händen und Füßen, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Versicherungsnummern auf einen Zettel und reichte ihn dem besänftigten Araber. Hinter uns hupten die wartenden Autos und bahnten sich einen Kreis um das Malheur.
Auf den Rücksitzen des Volvos bewegten sich Kopftücher.
„Wahrscheinlich das Harem“, gluckste Cedric leise. Als er ihnen zunickte, schoben sie ihre Köpfe zusammen und kicherten. Nach einer Viertelstunde reihten wir uns wieder ein.

Im Wagen dampfte es, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands.
Neben mir stopfte Cedric Chips in den Mund, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella. Mir hing der Song, den ich selbst geschrieben hatte, aus den Ohren. Der Rauch stach in meiner Lunge und ich stieß ihn gegen die Armaturen.

"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine OK-Ich -Weiß-Dir-Geht’s-Scheiße-Mimik und verstummte. Verzweifelt bemerkte ich, wie das letzte Quäntchen Zuversicht dahin schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe.
„Ich muss sie heut noch sehen.“
„Was meinst du?“
„Sie bitten, bei mir zu bleiben?“
„Ist das dein Ernst?“ Cedric hörte zu kauen auf.
„War ganz schön link von ihr, wie sie die Nummer durchgezogen hat.“ Er mampfte weiter.
„Glaubst du sie denkt noch an mich?“
Cedric zuckte mit den Schultern.
Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase.
Ich stützte mich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus. "Verdammt, pass doch auf."
Ich liebe dich Anna, und was tust du? Hat sie mich je so geliebt, wie ich sie liebte? Tränen juckten. Ich schlug auf die Hupe, lies den Motor aufheulen. Cedric grinste herüber.
„Es kann nicht einfach so vorbei sein!“
Ich zog die Nase hoch.
„Scheiße, macht hinne!"

An der Kontrollstelle mussten wir unsere Pässe vorzeigen.
Ich klappte vor der Policewoman den schwarzen Koffer meiner Gibson SG auf. "This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany."
Das gepuderte Kinn der Politesse wabbelte. Schließlich setzte sie ihre Terriermaske auf und bedeutete uns weiterzufahren.

"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er mampfend.
"Shit, du nervst einfach!"
Insgeheim taten diese lapidaren Kommentare meines Freundes gut.
Sie waren gut, um die wühlende Unruhe in Schach zu halten.
„Kennst du das?“
„Was?“
„Angst?“
„Vor was?“
„Alleine zu sein und es immer gewesen zu sein?“
„Hmm.“

Ein in neongelb gekleideter Typ winkte uns auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Meine Gedanken zerfaserten, wie der Dunst in diesem trostlosen Verladebahnhof. Die grauen, bauchigen Waggons verschluckten sie. Rumpelnd über Eisenschwellen, folgten wir dem Vordermann und blieben nach einigen Metern auf ihrer Parkposition stehen.

Auf einer elektronischen Anzeigetafel an der Decke im Zugabteil lief ein Buchstabenband eine Schleife.
... Enjoy your Trip with Eurocitytrain!...

„Ahhh, Alter, muss erst mal pissen.“ Mit diesen Worten war Cedric schon ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für mich die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen.
Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt verblasste sie zu einer Unwichtigkeit.

Ich lies das Fenster herunter und schnüffelte Waggonluft. Es roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich sah ich in die blitzenden Augen der Alten. Sie starrte mich an, lächelte, zeigte ihre krummen Zahnstümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink meine Aufmerksamkeit auf das Anzeigenband lenkte. Was wollte die bloß von mir? Ich folgte ihrem Blick.
Auf dem Band wanderten deutsche Worte von links nach rechts.
... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A.


Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich zwischen mir und die sonderliche Frau. Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster, bis sie endlich aufzischte. Ich entdeckte zwei verschleierte Muslime, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Moslems hinten, Juden vorn. Ging doch! Irgendwie fand ich diesen ganzen Religionsscheiß nervig. Ich hätte mich gerne noch über allerlei solcher Unzulänglichkeiten lustig gemacht. Doch als ich bemerkte, wie ein Pärchen weiter vorne sich umarmte, fiel mir ein, dass das einzige Universelle und Grenzen überschreitende, wohl die Liebe sei.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz. Mein Blick stürmte die elektronische Anzeigetafel. Das gab es doch nicht!
... Verbunden für immer! :
ANNA ANNA ANNA ...


Adrenalin schoss durch meinen Körper. Ich glühte. Konnte das Zufall sein? Das Band, dessen ich mir stets bewusst war? Wo war die alte Frau? Mein Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden. Ich versuchte mich wieder zu sammeln.

Cedrik kam zurück, und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand. "Ehre den Gott der Juden, denn er ist auch mein Gott, ehre den Gott der Muslime, denn er ist auch mein Gott, ehre Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich eine vergessen?“
Er reichte mir eine Tüte Smarties. Ich lehnte ab.
„Was ist denn mit dir los? Hast grad den Allmächtigen gesehen?“
Ich deutete Richtung Anzeige.
Cedric stand zuerst auf der Leitung.
„Och nee, Alterchen, ist es echt noch so schlimm! Er schaute zur Abwechslung mal ernst.
„Dich hat`s echt erwischt.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um.
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Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich Smarties in den Mund und hörte i-Phone. Ich dachte über die seltsame Oma, die Botschaft und Anna nach. Das konnte doch kein Zufall mehr sein. Denken. Meine Gedanken schlugen gegen einen elektrischen Zaun. Mein Kopf war wund vor lauter Denken.

Sie liebte Pflanzen über alles und lehrte mich Elefantenohren, Strelitzien, Sukkulenten und Euphorbien zu unterscheiden. Die unzähligen Blumenkübel hatte sie nach dem ersten Nachtfrost mit hochgekrempelten Ärmeln und funkelnden Augen in die Wohnung geschleppt, Spuren von Blumenerde und Tropfwasser nach sich ziehend. Hinter jeder Ecke lauerte fortan ein Farn.
Die grüne Zellulose war mir gleichgültig, aber ich liebte Anna, deshalb liebte ich grüne Zellulose. Was war dieses Zuhause? Sie war es. Sie machte mich zu einem besseren Menschen.
Ich hatte Angst vor der Wahrheit.

Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Zehn Minuten ungefähr, dann spürten wir, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, wie konnte das sein?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Ich prustete auf.
Wir stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Ich spürte eine unheilvolle Beklemmung. Es war reine Kopfsache, aber längst zuckte der Gedanke eines Anschlags unaufhörlich in mir.

Es blieb dunkel, Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen. Ich schaute mir das ganze mit anderen Männern von nahem an. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.
„Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach mich von hinten an. Ich wirbelte herum.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Verwirrt blickte ich in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau.
Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“
Etwas krachte gegen die Scheibe. Wir zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt. Beeil dich!“ Langsam wurden mir die seltsamen Worte unangenehm.

Das Geschrei eines Kindes, das mit seiner Mutter haderte, lenkte mich ab. Als ich mich erneut umsah, war die Alte verschwunden. Ich bahnte mir einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den ich versehentlich anrempelte, strafte mich mit Blicken. Die nächsten drei Waggons lief ich ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergeblich, sie war wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen tanzte mir Cedric entgegen.

„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“ Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab.
Was ich soeben gehört hatte berührte mich. Mein Realitätssinn kam ins Wanken. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Das gabs doch nicht! Woher wusste sie?
Das einzige, was ich jetzt noch wollte, war Anna zu sehen! Und zwar so schnell wie möglich! Ich musste mich beeilen.

Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an.
„Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Die Luft roch verbraucht. Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter.
Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging eine Art Notbeleuchtung an.

Schließlich ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Jude lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Moslem hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.

Unter normalen Umständen hätte ich Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald wir aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr wir uns befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um mich genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf meiner Seele herumtrampelte? Dass sie mich wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war ich bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. Ein Bund für die Ewigkeit. Scheiße. Suche sie, sonst bist du verloren? Die Alte war total abgedreht.
Ich kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen mich.

Nachdem das Gedönse mit dem Zugdefekt gelöst schien, ging der Rest schnell.
Der Eurocity spuckte uns im Bahnhof von Calais aus. Auch hier schüttelte der Himmerl kräftig die eisigen Federn. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und schon waren wir auf offenem Land. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter uns hindurch. Vielleicht schafften wir es noch, vor zwei daheim zu sein. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete meine Lunge, als ich mir die Kippe ansteckte.

Ich machte Cedric klar, dass wir durchfahren würden, er Klo und Getränkenachschub verkneifen musste. Sollte ich sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annes Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah mich bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.

Ich sog die Luft ein, zitterte vor Kälte und Schiss, schnippte die Kippe weg.
Um 3 Uhr 23 stand ich unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden stierten herab.
Sie schliefen. Ich klingelte. Die Sekunden dehnten sich und ich klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Mein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Ich zögerte.
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.

Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus meinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Ich legte all meine Hoffnung in diese beiden Worte und hörte, wie mir die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"
Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an. Sie stand vor mir, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte ich ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah das kleine Muttermal am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte mich nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Ich zog die Nase hoch und sagte: "Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."

Ich fühlte mich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...
Aus einem Impuls heraus kramte ich den Ring aus der Hose, unseren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Ich wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
„Mark, warum tust du dir das an?“ Ihre schönen Augen blickten auf meine Seele und aus meinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“
Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hört ich nur das Rauschen des eisigen Windes.
Ich konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte ich mich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie mir hinterher rief, doch sie blieb stumm. Ich lief die Straße weiter, um die nächste Ecke, bis ich keuchend und weinend um Atem rang. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Ich kickte gegen eine Tonne. Krachen. Ich schrie! Die halbe Nacht irrte ich durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte ich, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an meiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, ich weinte bitterlich, fror und zitterte. Ich suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!

In der kalten Wohnung zog ich mich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch mich unter der Decke.
Ich nahm die Gibson auf den Schoß und wischte mir mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Zuerst war es nur ein Akkord, dann wuchs die Strophe zu einer Melodie aus Tränen und Stolz, hingekritzelt auf einem Block und unzählige Male wiederholt und geschliffen. Ich summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor dem Fenster verdrängte.
Bis zwei Uhr schlief ich. Danach rief ich Cedric an. Draußen prasselte es. Der Schnee wandelte sich in Wasser. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Ich deutete auf mein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. „Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“
„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte mir auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Ich begann mich zu häuten und streifte das Nachdenken ab.
Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Ich musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit - vorerst. Dann nahm ich die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.
 

TimKlueck

Mitglied
Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der Polizei. Eben kamen sie, trotz der Glätte, noch zügig voran. Jetzt brachte die Verzögerung Mark in höchste Verzweiflung. Es war eine liederliche Heimreise. Zwar mit der üblichen Erschöpfung, aber ohne Euphorie, wie sonst nach den berauschenden Tagen. Er steckte sich eine Gauloises an. Der Tabak machte ihn ein wenig schwindelig, doch das war beruhigend und verrückte ihn angenehm. Sein Kumpel und Nasentrinker Cedric wippte geistesabwesend auf dem Beifahrersitz, i-phonebestöpselt und kaute Smarties. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen der ungeduldig Reisenden dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.

Ein Mädchen mit rosigem Gesicht blickte ihn unerwartet aus dem Nachbarauto an. Ihr Antlitz schimmerte hinter einem feinen Vorhang orangefarbener Flocken. Die dunkle Haarlocke umrahmte ihr Lächeln. Mark spürte in seiner Mitte eine Wärme, die eine Ahnung von Vertrautheit erzeugte. Er blies den Rauch gegen die beschlagene Scheibe und lächelte zurück. Die Liebe zerriss Seelen, wie niemand anders. Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als er Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Es war so unzweifelhaft.
Der Kerl neben dem Mädchen glotzte finster, drückte den Kiefer vor und das Gaspedal durch. Mark senkte den Blick. Er ließ ihn fauchen. Wie oft wurde er in seinem Leben schon verlassen?

In seiner Hosentasche begann es zu vibrieren. Eine SMS von Anna. Die Hitze durchflutete ihn bis unter die Haarwurzeln. Hastig wühlte er das Handy heraus und starrte auf die Bremslichter des Volvos davor. Mit der einen Hand hielt er das Lenkrad, mit der anderen öffnete er zitternd die Nachricht.

Er hatte den ganzen Tag auf Annas Antwort gewartet, jetzt, als er sie las, schienen sich in seinem Herzen tausende Knoten zusammen zu ziehen. Der Wagen vor ihnen stoppte abrupt. Mark trat auf die Bremse, das Inventar ihres Peugeots machte einen Satz und sein Kumpel und Nasentrinker landete mit der Stirn auf der Scheibe.

"Hey, Mann, ich hätt mir fast…spinnst du?"
"Anna war`s.“
„Dachte, das wäre gegessen." Cedric rieb sich die Stirn.
"Verdammt!" Mark hämmerte aufs Lenkrad. Genau das wollte er nicht hören. Er starrte auf die Rücklichter.
„Vergiss es!“, sagte Cedric
Die Nachricht lähmte ihn. Die Gefühle stülpten sich über den Ver-stand.
„Ich muss sie bitten, bei mir zu bleiben.“
„Was meinst du?“
„Glaubst du sie denkt noch an mich?“
„Ist das dein Ernst?“ Cedric hörte zu kauen auf. „Ich meine, sie hat dich übelst gelinkt. Ich würd ihr keine Träne mehr nachweinen.“
Hat sie ihn je so geliebt, wie er? Er zog die Nase hoch. Verzweifelt bemerkte er, wie das letzte Quäntchen Hoffnung schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe.
„Dieser Versuch ist es wert.“
„Tu, was du nicht lassen kannst.“
Alles andere würde er sich nicht verzeihen.

Unter seinem Pulli war Schweiß, die Heizung blies auf Hochtouren, er öffnete das Fenster und kalte Luft schmierte herein. Handbremse lockern, anfahren, bremsen. Der Blechwurm zwängte sich durch die Polizeikontrolle, wie die Trauer in sein Herz. So bräuchten sie noch Stunden für die ansonsten halbstündige Zugfahrt unter dem Ärmelkanal hindurch bis nach Calais und von dort über die Route National bis nach Aachen. Stunden, die diese Liebe nicht mehr hatte. Mark steckte sich eine neue Kippe an und inhalierte, bis er den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?
Er bemerkte ihr Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Er hatte viel Raum zum Nachdenken. Wenn er nicht aufpasste, liefen seine schlechten Gedanken Amok.

Neben ihnen hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte ihn an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Zuerst fühlte er sich in seinem Leid ertappt und sah schnell weg, dann kehrte sein Blick zurück und blieb haften. Sie gaffte immer noch. Was wollte die Alte bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie ihm zu und wedelte mit einem blauen Täfelchen. Da knallte es. Mark spürte den Schmerz der ein-schneidenden Gurte, sein Kopf wurde zurück gerissen. Cedric schrie ein überraschtes „´damt“ aus und rieb sich den Nacken.

Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand und stapfte eilig durch den Schnee auf sie zu. Mark sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Weiß lagen. Der kalte Wind schlug ihm entgegen. Flocken dampften im Lichtkegel der Scheinwerfer. Der Bärtige baute sich vor ihm auf. Die Stoßstange war eingedrückt, ein Licht zerdeppert. Shit. Der Mann sprach arabisches und nur gebrochenes Englisch. Hinter ihnen hupten die wartenden Autos. Mark ignorierte den Stich in seinem Schädel, er wollte das so schnell wie möglich klären.
Dann sah er im Schnee das blaue Täfelchen liegen. Es schimmerte wie ein Stück Azur. Im Nachhinein fand er es seltsam, dass er es aufhob, es war keine Tafel sondern ein Umschlag und es in seine Hosentasche schob. Mit Händen und Füßen antwortete Mark dem Mann, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Versicherungsnummern auf einen Zettel und packte den vorprogrammierten Ärger mit der Autovermietung in den hintersten Winkel seiner Rumpelkammer voller Gedanken. Lädiert reihten sie sich in die Wagenkolonne ein.

Im Wagen dampfte es, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands. Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase. Mark zog den zerknitterten Umschlag aus der Tasche, wendete ihn einmal und ertastete eine Karte. Hat die Alte ihn verloren? Auf keinen Fall hatte er Lust, das Gesülze fremder Menschen zu lesen. Neben ihm stopfte Cedric Chips in den Mund, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella. Der Rauch der Kippe stach in seiner Lunge und er stieß ihn gegen die Armaturen.

"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine Geht’s-Dir-aber-Scheiße-Mimik und verstummte. Mark stützte sich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus, er schlug auf die Hupe, lies den Motor aufheulen. Mark fummelte die Karte aus dem blauen Umschlag.
„Was ist das?“
„Lag im Schnee.“
„Wie?“
„Lag halt da, vorhin beim Crash.“
„Zeig mal!“ Ungefragt riss er sie ihm aus der Hand. Cedric schob sein Gesicht vor das Ding und meinte:
„Irgend so ne alte Karte, ziemlich kitschig. Steht nicht mal was drauf. Kennst du die witzigen Storys von Briefen, die erst Jahre oder Jahrzehnte später nach einer Odyssee ihrem wahren Empfänger zugestellt wurden?“ Cedric pfefferte sie aufs Armaturenbrett. Nachdem Mark nicht antwortet murmelte er noch: „Echt krass so was.“

Mark konnte das Motiv der Karte in der Dämmerung zuerst nicht erkennen und weil er den stockenden Verkehr im Auge behalten musste, nur einen kurzen Blick darauf werfen. Die vermeintliche Postkarte war ein vergilbtes Foto mit kleinen Rissen und ausgefransten Rändern. Nichts besonderes. Doch machte sich eine seltsame Ahnung in seiner Mitte breit, die bis in seinen Kopf pochte. Schnell knipste er die Innenbeleuchtung an, um sich zu vergewissern. Vor einem malerischen Hafen schaukelte auf azurblauem Wasser ein Fischerboot. Die gezackte Silhouette der Bucht kam ihm bekannt vor. Hinter den Dächern des Städtchens entdeckte er das markante Kreuz der Kapelle. Jetzt war er sich sicher. Es war die Kapelle, umsäumt vom Placa und Kiefern. Es klopfte in seiner Brust. Ihre Kapelle - La Vuentas! Dort, wo er Anna in den Arm nahm und nicht mehr los lies. Wo seitdem ein großes A, ein Plus und ein M in die glatte Rinde der Lupine geritzt war und es Anna gar nicht recht war wegen dem armen, alten Baum. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Wie war das möglich?
Ihr Wagen rollte auf die flutlichterleuchtete Kontrollstelle zu, wo ein Polizist nach ihren Pässen verlangte und sie unwirsch hieß, auszusteigen.
War das Bild überhaupt von der Frau? Es gab sicher vieler solcher Fotos - aber warum winkte die Alte damit? Konnte das Zufall sein? So was gab es doch nicht. Drehte er total ab? Er wollte Anna hören, jetzt!

Hastig kramte er das Handy hervor. Der Uniformierte schickte einen aufgeregt schnüffelnden Schäferhund mit Maulkorb um den Wagen. Der andere blendete mit seiner Taschenlampe und deutete, den Kofferraum des Transporters zu öffnen. Zwei weitere schoben Detektoren unter den Wagenboden. Null vier sieben - acht drei eins ... Verdammt, er hatte Annas neue Nummer vergessen.

"What's this?" Der Polizist klopfte auf die Cases.
"Äh... Instruments. This is an electric guitar. And this a reciever. Drums."
Mit einem Auge war er bei den Bullen, mit dem anderen bei seinem Handy und öffnete das Telefonbuch.
"Open this." Scheiße, jetzt wollte der, dass Mark alle Instru-mentencases aufmachte. "Be careful, please!"
Er fand Anna und drückte OK. Die Verbindung baute sich auf, Knacken und dann hörte er das Klingelzeichen. Der Uniformierte blickte ihn verärgert an. „Open it!“
Mark öffnete einhändig den schwarzen Koffer seiner Gibson SG.
"This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany. - Annaaa? - Bist du es? Du, wir sind grad in Folkstone, checken gleich in den Zug ein. Anna, ich muss dich sehen!“ Er schrie fast ins Telefon. Er hörte noch: „Mark ich …“
Dann wurde das Gespräch unterbrochen. Nur noch Knacken und Rauschen. Mark schlug auf die Tasten ein, doch die Verbindung blieb gestört.
„Mist, das gibst doch nicht.“
Der Policeman rief gereizt eine Anweisung, die Mark nicht verstand, nickte dann aber seinem Kollegen zu und winkte sie ungeduldig weiter.
"Wenn jemand schlecht gelaunt sein darf, dann sind ja wohl wir das! Scheiß Bulle." Der Bulle schaute auf. Verstand der etwa deutsch? Mark hielt besser die Klappe, auch wenn er gleich explodieren würde.

Cedric schlürfte an einer Dose Red Bull und grinste sich einen ab, als sie endlich in ihren Sitzen saßen und der Motor aufheulte. Er kramte ein Päckchen Wurzeln aus der herabhängenden Seitenverkleidung und begann eine Tüte zu bauen.
"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er nebenbei und konzentrierte sich aufs Drehen."
"Shit, du nervst einfach!"
Doch insgeheim taten diese lapidaren Kommentare seines Freundes gut. Sie waren wenigsten ein bisschen geeignet, seine wühlende Unruhe in Schach zu halten. Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last of the melting Snow, der Song, den er für sie geschrieben hatte, summte in seinem Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für ihn war die Tour ein Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch Mark wusste, dass er diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte.
Neun Jahre. Er wollte nicht, dass die Gefühle wieder hoch schwappten und ihn unter einer Welle aus Trauer und Wut begruben. Doch er hatte keine Chance. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in seiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in seinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?

„Kennst du das?“
„Was?“
„Angst?“
„Vor was?“
„Alleine zu sein und es immer gewesen zu sein?“
Cedric entzündete die Spitze, inhalierte tief und reichte ihm die Tüte. Mark zögerte kurz, griff danach und nahm einen Zug.
"Reicht dir ein verfressener, aber intelligenter Kumpel denn nicht?"
„Vor allem intelligent.“ Für einen Augenblick zerfaserten seine Sorgen, wie der tief sitzende Dunst in diesem scheiß Verladebahnhof und er musste sogar grinsen.
Ein in neongelbem Jäckchen bekleideter Typ winkte sie auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Die bauchigen Waggons verschluckten sie. Sie rumpelten über Eisenschwellen und blieben nach einigen Metern auf der Parkposition stehen.

Auf einer elektronischen Anzeigetafel im Zugabteil lief ein Buchstabenband in Schleife.
Enjoy your Trip with Eurocitytrain!
Das ging alles zu langsam.
Cedric streckte sich und drückte dabei seine Handflächen gegen das Autodach.
Das Foto musste nicht von der Alten sein
„Ahhh, Alter, muss erst mal pissen.“ Schon war Cedric ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für Mark die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen. Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt machte ihn der Lärm und die Geschäftigkeit unzufrieden. Mark legte den Umschlag samt Foto auf die Ablage. Es war nur ein verfluchter Zufall.

Mark lies das Fenster herunter und schnüffelte in die Waggonluft. Sie roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich traf ihn der stechende Blick der Alten. Wie aus dem Boden gewachsen stand sie da. Starrte ihn an, lächelte, zeigte ihre krummen Stümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink seine Aufmerksamkeit auf die elektronische Anzeigentafel lenkte. Was wollte die bloß schon wieder von ihm? Mark folgte ihrer Andeutung.
Auf dem Band wanderte ein Schriftzug von links nach rechts.

... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A .


Er wollte jetzt endlich wissen, was damit auf sich hatte und marschierte auf sie zu. Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich in den Weg Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster, bis sie auf zischte. Mark ließ sich von zwei verschleierten Musliminnen ablenken, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Daneben knutschte ein Pärchen. Hier wurde es immer bunter!
Als er sich wieder der alten Frau zuwenden wollte, traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Sein Blick stürmte die Anzeigetafel. Das gab es doch nicht!

... Verbunden für immer! : ANNA ANNA ANNA ...

Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er glühte. Das Band, dessen er sich stets bewusst war? Jetzt reichte es ihm aber - wo war die Frau bloß? Marks Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden. In seiner Brust hämmerte es. Wie vom Erdboden verschluckt.
Cedric kam zurück und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand. "Ehre den Gott der Juden, der Muslime und Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich einen vergessen?“
Er reichte ihm eine Tüte Smarties.
"Hör auf mit dem Scheiß!"
„Was ist denn mit dir los? Hast grad den Allmächtigen gesehen?“
Mark nervte Cedric Getue. Er verkniff sich eine Antwort und deutete stattdessen Richtung Anzeige.
Cedric stand zuerst auf der Leitung. Doch er schaute zur Abwechslung mal ernst, bis er begriff.
„Och nee, Alterchen, jetzt mach ich mir langsam Sorgen! Schnapp jetzt bloß nicht über.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um. ... Wechseln Sie heute noch Ihren Telefonanbieter. Chose the Change! The European Company! NNAA ... Cedric klopfte sich auf die Schenkel und fing sich gar nicht mehr ein.
„Ich schwörs dir, ich .... ach, Scheiße!“ Mark winkte ab.
Cedrics du-hast-nicht-mehr-alle-Tassen-im-Schrank-Grinsen fühlte sich an, wie ein Pfeil in der Brust.

Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich Smarties in den Mund und hörte i-Phone. Mark dachte über die Alte, die Botschaft und Anna nach. Das konnte kein Zufall mehr sein. Denken. Seine Gedanken schlugen gegen einen elektrischen Zaun. Sein Kopf war wund vor lauter Denken.
Was war sein Zuhause? Sie war es. Sie machte ihn zu einem besseren Menschen. Er musste sich beeilen, musste es schaffen, bevor es zu spät war.

Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Zehn Minuten ungefähr, dann spürten sie, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, auch das noch. Er blickte auf die Uhr. Drehte er jetzt total durch?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Mark hatte keinen Bock auf Scherze.

Sie stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Mark spürte ein Kribbeln im Bauch. Es war reine Kopfsache, aber längst zuckten die Befürchtung eines Anschlages unaufhörlich.

Es blieb dunkel, Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen. Mark schaute sich das Ganze mit anderen Männern von nahem an. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.

"Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach ihn von hinten an. Mark wirbelte herum. Ihre Botschaft traf ihn bis ins Mark.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Er blickte starr in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau.
Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab. Ihre Erscheinung war so präsent in all dem Chaos.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“
Etwas krachte gegen die Scheibe. Sie zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt, der Bund bleibt. Beeil dich!“ Panik drohte ihn zu übermannen.

Das herzzerreißende Geschrei eines Kindes im Arm seiner Mutter ließ ihn herumfahren. Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab. Als er sich erneut umsah, war die Alte abermals verschwunden. Sein Körper entspannte und er atmete tief aus.

Mark bahnte sich einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den er versehentlich anrempelte, strafte ihn mit Blicken. Er lief die nächsten drei Waggons ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergebens, sie blieb wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen schlurfte ihm Cedric entgegen.
„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“
Mark wusste nicht mehr wo ihm der Kopf stand, ihm war, als hätte er zehn Mal an Cedrics Tüte gezogen. Seine Hände waren feucht, er taumelte durch das Abteil. Was er soeben gehört hatte schien ihn mehr zu berühren, als er sich zunächst eingestehen wollte. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Woher wusste sie? Das gab's doch nicht! Er musste zu Anna. Und zwar so schnell wie möglich! Verdammt, warum ging hier nichts vorwärts? Hatte sich alles gegen ihn verschworen?

Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an. „Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Die Luft roch verbraucht. Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter. So konnte er es vergessen, er würde es niemals rechtzeitig schaffen.
Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging eine Art Notbeleuchtung an.

Schließlich ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Jude lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Moslem hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.

Unter normalen Umständen hätte er Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald sie aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um ihn genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf seiner Seele herum trampelte? Dass sie ihn wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war er bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. "Ein Bund für die Ewigkeit. Suche sie, sonst bist du verloren." Das Mütterchen war total abgedreht - er war total abgedreht. Er kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen ihn.

Endlich spuckte sie der Eurocity im Bahnhof von Calais aus. Der schwarze Himmel beschoss sie mit Eis und Schnee. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter ihnen hindurch. Mark machte Cedric klar, dass er durchfahren würde, Klo und Getränkenachschub verkneifen musste. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und dann waren sie auf offenem Land. Vielleicht schafften sie es noch, rechtzeitig. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete seine Lunge, als er sich die Kippe ansteckte.
Sollte er sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annas Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah Mark bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.

Um 3.23 Uhr stand er unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden stierten herab. Sie schliefen. Mark stockte der Atem, als er zitternd und dampfend noch einmal auf ihre SMS starrte.

Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir
leid. Anna


Er schnippte die Kippe weg und klingelte. Die Sekunden dehnten sich, er klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Sein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse. Gleich würde er durchdrehen.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Er zögerte!
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.
"Hör mal, du Ar..."!

Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus seinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Er spürte, wie er all seine Hoffnung in diese beiden Worte legte und hörte, wie ihm die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"

Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an. Sie stand vor ihm, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte er ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah den kleinen Sonnenfleck am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte ihn nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Er zog die Nase hoch und sagte:
"Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."
Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...die Wut stieg wieder in ihm hoch. Er biss sich auf die Lippen und ...

Er kramte aus einem Impuls heraus den Ring aus der Hose, ihren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Mark wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
Ihre schönen Augen blickten auf seine Seele und aus seinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“
Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hört er nur das Rauschen des eisigen Windes.
Er konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte er sich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie ihm nach rief, doch sie blieb stumm. Er lief die Straße weiter, um die nächste Ecke, bis er keuchend und weinend um Atem rang. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Er kickte gegen eine Tonne. Krachen. Er schrie! Die halbe Nacht irrte er durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte er, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an seiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, er weinte bitterlich, er fror und zitterte. Er suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!

In der kalten Wohnung zog er sich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch sich unter der Decke.
Er nahm die Gibson auf den Schoß und wischte sich mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Zuerst war es nur ein Akkord, dann wuchs die Strophe zu einer Melodie aus Tränen und Stolz, hingekritzelt auf einem Block und unzählige Male wiederholt und geschliffen. Er summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor seinem Fenster verdrängte. Die Tristesse erwachte, der Schnee schmolz.

Bis zwei Uhr schlief er. Danach rief er Cedric an. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Er deutete auf sein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“
„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte Mark auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Er begann sich zu häuten und streifte die Trauer ab.
Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Mark musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit - vorerst. Dann nahm er die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.

Mit einem Scheppern ließ er die Gibson fallen. Stürzte auf die Vitrine zu. Riss eine Tür nach der anderen auf. Irgendwo musste es sein. Zwischen Bildbänden und CDs fand er das Fotoalbum. Urlaub 2003 La Gomera stand drauf.
Hastig blätterte er die Seiten durch. Dann blieb sein Herz stehen. Es war ihm, als tasteten Finger in seiner Brust und zerquetschen es.
„Schau!“
Mark hielt Cedric die Seite hin, das Bild aus dem blauen Umschlag daneben. Cedric kratzte sich am Kopf. Verstand er etwa nicht die Tragweite seiner Entdeckung?
„Beide sind gleich! Schau, der Strand. Exakt der gleiche Winkel. Siehst du diese Wolken? Es sind dieselben!“
„Das Foto aus dem Schnee ist eine Kopie?“
Cedrics konnte nur langsam folgen.
Mark riss sich aus seiner Erstarrung los, wühlte sich durch den Zeitschriftenstapel. Blättere hektisch einige Hefte durch, schmiss sie in die Ecke, dann vertiefte er sich in einem Artikel.
Das hatte er gesucht.
„Überlappung - Phänomene der Zeit I" von Peter Oppendorf.
Mark starrte durch die Wand.
Die gelbe Mütze, das Foto, die Anzeige, die Ringe, die alte Frau?
Es war kein Zufall, sondern eine Botschaft.
Zeiten gehen, das Leben fließt, der Bund bleibt.

Er ging zum PC und gab den Namen in der Suchmaschine ein. Seine Aufmerksamkeit schweifte über die ausgespuckten Seiten.
Die Suche hatte begonnen.
Zweifel gab es keine mehr.
Offene Fragen rieselten in seinen Kopf.
 

TimKlueck

Mitglied
Azur im Schnee

Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der Polizei. Eben kamen sie, trotz der Glätte, noch zügig voran. Jetzt brachte die Verzögerung Mark in höchste Verzweiflung. Es war eine liederliche Heimreise. Zwar mit der üblichen Erschöpfung, aber ohne Euphorie, wie sonst nach den berauschenden Tagen. Er steckte sich eine Gauloises an. Der Tabak machte ihn ein wenig schwindelig, doch das war beruhigend und verrückte ihn angenehm. Sein Kumpel und Nasentrinker Cedric wippte geistesabwesend auf dem Beifahrersitz, i-phonebestöpselt und kaute Smarties. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen der ungeduldig Reisenden dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.

Ein Mädchen mit rosigem Gesicht blickte ihn unerwartet aus dem Nachbarauto an. Ihr Antlitz schimmerte hinter einem feinen Vorhang orangefarbener Flocken. Die dunkle Haarlocke umrahmte ihr Lächeln. Mark spürte in seiner Mitte eine Wärme, die eine Ahnung von Vertrautheit erzeugte. Er blies den Rauch gegen die beschlagene Scheibe und lächelte zurück. Die Liebe zerriss Seelen, wie niemand anders. Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als er Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Es war so unzweifelhaft.
Der Kerl neben dem Mädchen glotzte finster, drückte den Kiefer vor und das Gaspedal durch. Mark senkte den Blick. Er ließ ihn fauchen. Wie oft wurde er in seinem Leben schon verlassen?

In seiner Hosentasche begann es zu vibrieren. Eine SMS von Anna. Die Hitze durchflutete ihn bis unter die Haarwurzeln. Hastig wühlte er das Handy heraus und starrte auf die Bremslichter des Volvos davor. Mit der einen Hand hielt er das Lenkrad, mit der anderen öffnete er zitternd die Nachricht.

Er hatte den ganzen Tag auf Annas Antwort gewartet, jetzt, als er sie las, schienen sich in seinem Herzen tausende Knoten zusammen zu ziehen. Der Wagen vor ihnen stoppte abrupt. Mark trat auf die Bremse, das Inventar ihres Peugeots machte einen Satz und sein Kumpel und Nasentrinker landete mit der Stirn auf der Scheibe.

"Hey, Mann, ich hätt mir fast…spinnst du?"
"Anna war`s.“
„Dachte, das wäre gegessen." Cedric rieb sich die Stirn.
"Verdammt!" Mark hämmerte aufs Lenkrad. Genau das wollte er nicht hören. Er starrte auf die Rücklichter.
„Vergiss es!“, sagte Cedric
Die Nachricht lähmte ihn. Die Gefühle stülpten sich über den Ver-stand.
„Ich muss sie bitten, bei mir zu bleiben.“
„Was meinst du?“
„Glaubst du sie denkt noch an mich?“
„Ist das dein Ernst?“ Cedric hörte zu kauen auf. „Ich meine, sie hat dich übelst gelinkt. Ich würd ihr keine Träne mehr nachweinen.“
Hat sie ihn je so geliebt, wie er? Er zog die Nase hoch. Verzweifelt bemerkte er, wie das letzte Quäntchen Hoffnung schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe.
„Dieser Versuch ist es wert.“
„Tu, was du nicht lassen kannst.“
Alles andere würde er sich nicht verzeihen.

Unter seinem Pulli war Schweiß, die Heizung blies auf Hochtouren, er öffnete das Fenster und kalte Luft schmierte herein. Handbremse lockern, anfahren, bremsen. Der Blechwurm zwängte sich durch die Polizeikontrolle, wie die Trauer in sein Herz. So bräuchten sie noch Stunden für die ansonsten halbstündige Zugfahrt unter dem Ärmelkanal hindurch bis nach Calais und von dort über die Route National bis nach Aachen. Stunden, die diese Liebe nicht mehr hatte. Mark steckte sich eine neue Kippe an und inhalierte, bis er den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?
Er bemerkte ihr Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Er hatte viel Raum zum Nachdenken. Wenn er nicht aufpasste, liefen seine schlechten Gedanken Amok.

Neben ihnen hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte ihn an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Zuerst fühlte er sich in seinem Leid ertappt und sah schnell weg, dann kehrte sein Blick zurück und blieb haften. Sie gaffte immer noch. Was wollte die Alte bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie ihm zu und wedelte mit einem blauen Täfelchen. Da knallte es. Mark spürte den Schmerz der ein-schneidenden Gurte, sein Kopf wurde zurück gerissen. Cedric schrie ein überraschtes „´damt“ aus und rieb sich den Nacken.

Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand und stapfte eilig durch den Schnee auf sie zu. Mark sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Weiß lagen. Der kalte Wind schlug ihm entgegen. Flocken dampften im Lichtkegel der Scheinwerfer. Der Bärtige baute sich vor ihm auf. Die Stoßstange war eingedrückt, ein Licht zerdeppert. Shit. Der Mann sprach arabisches und nur gebrochenes Englisch. Hinter ihnen hupten die wartenden Autos. Mark ignorierte den Stich in seinem Schädel, er wollte das so schnell wie möglich klären.
Dann sah er im Schnee das blaue Täfelchen liegen. Es schimmerte wie ein Stück Azur. Im Nachhinein fand er es seltsam, dass er es aufhob, es war keine Tafel sondern ein Umschlag und es in seine Hosentasche schob. Mit Händen und Füßen antwortete Mark dem Mann, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Versicherungsnummern auf einen Zettel und packte den vorprogrammierten Ärger mit der Autovermietung in den hintersten Winkel seiner Rumpelkammer voller Gedanken. Lädiert reihten sie sich in die Wagenkolonne ein.

Im Wagen dampfte es, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands. Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase. Mark zog den zerknitterten Umschlag aus der Tasche, wendete ihn einmal und ertastete eine Karte. Hat die Alte ihn verloren? Auf keinen Fall hatte er Lust, das Gesülze fremder Menschen zu lesen. Neben ihm stopfte Cedric Chips in den Mund, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella. Der Rauch der Kippe stach in seiner Lunge und er stieß ihn gegen die Armaturen.

"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine Geht’s-Dir-aber-Scheiße-Mimik und verstummte. Mark stützte sich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus, er schlug auf die Hupe, lies den Motor aufheulen. Mark fummelte die Karte aus dem blauen Umschlag.
„Was ist das?“
„Lag im Schnee.“
„Wie?“
„Lag halt da, vorhin beim Crash.“
„Zeig mal!“ Ungefragt riss er sie ihm aus der Hand. Cedric schob sein Gesicht vor das Ding und meinte:
„Irgend so ne alte Karte, ziemlich kitschig. Steht nicht mal was drauf. Kennst du die witzigen Storys von Briefen, die erst Jahre oder Jahrzehnte später nach einer Odyssee ihrem wahren Empfänger zugestellt wurden?“ Cedric pfefferte sie aufs Armaturenbrett. Nachdem Mark nicht antwortet murmelte er noch: „Echt krass so was.“

Mark konnte das Motiv der Karte in der Dämmerung zuerst nicht erkennen und weil er den stockenden Verkehr im Auge behalten musste, nur einen kurzen Blick darauf werfen. Die vermeintliche Postkarte war ein vergilbtes Foto mit kleinen Rissen und ausgefransten Rändern. Nichts besonderes. Doch machte sich eine seltsame Ahnung in seiner Mitte breit, die bis in seinen Kopf pochte. Schnell knipste er die Innenbeleuchtung an, um sich zu vergewissern. Vor einem malerischen Hafen schaukelte auf azurblauem Wasser ein Fischerboot. Die gezackte Silhouette der Bucht kam ihm bekannt vor. Hinter den Dächern des Städtchens entdeckte er das markante Kreuz der Kapelle. Jetzt war er sich sicher. Es war die Kapelle, umsäumt vom Placa und Kiefern. Es klopfte in seiner Brust. Ihre Kapelle - La Vuentas! Dort, wo er Anna in den Arm nahm und nicht mehr los lies. Wo seitdem ein großes A, ein Plus und ein M in die glatte Rinde der Lupine geritzt war und es Anna gar nicht recht war wegen dem armen, alten Baum. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Wie war das möglich?
Ihr Wagen rollte auf die flutlichterleuchtete Kontrollstelle zu, wo ein Polizist nach ihren Pässen verlangte und sie unwirsch hieß, auszusteigen.
War das Bild überhaupt von der Frau? Es gab sicher vieler solcher Fotos - aber warum winkte die Alte damit? Konnte das Zufall sein? So was gab es doch nicht. Drehte er total ab? Er wollte Anna hören, jetzt!

Hastig kramte er das Handy hervor. Der Uniformierte schickte einen aufgeregt schnüffelnden Schäferhund mit Maulkorb um den Wagen. Der andere blendete mit seiner Taschenlampe und deutete, den Kofferraum des Transporters zu öffnen. Zwei weitere schoben Detektoren unter den Wagenboden. Null vier sieben - acht drei eins ... Verdammt, er hatte Annas neue Nummer vergessen.

"What's this?" Der Polizist klopfte auf die Cases.
"Äh... Instruments. This is an electric guitar. And this a reciever. Drums."
Mit einem Auge war er bei den Bullen, mit dem anderen bei seinem Handy und öffnete das Telefonbuch.
"Open this." Scheiße, jetzt wollte der, dass Mark alle Instru-mentencases aufmachte. "Be careful, please!"
Er fand Anna und drückte OK. Die Verbindung baute sich auf, Knacken und dann hörte er das Klingelzeichen. Der Uniformierte blickte ihn verärgert an. „Open it!“
Mark öffnete einhändig den schwarzen Koffer seiner Gibson SG.
"This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany. - Annaaa? - Bist du es? Du, wir sind grad in Folkstone, checken gleich in den Zug ein. Anna, ich muss dich sehen!“ Er schrie fast ins Telefon. Er hörte noch: „Mark ich …“
Dann wurde das Gespräch unterbrochen. Nur noch Knacken und Rauschen. Mark schlug auf die Tasten ein, doch die Verbindung blieb gestört.
„Mist, das gibst doch nicht.“
Der Policeman rief gereizt eine Anweisung, die Mark nicht verstand, nickte dann aber seinem Kollegen zu und winkte sie ungeduldig weiter.
"Wenn jemand schlecht gelaunt sein darf, dann sind ja wohl wir das! Scheiß Bulle." Der Bulle schaute auf. Verstand der etwa deutsch? Mark hielt besser die Klappe, auch wenn er gleich explodieren würde.

Cedric schlürfte an einer Dose Red Bull und grinste sich einen ab, als sie endlich in ihren Sitzen saßen und der Motor aufheulte. Er kramte ein Päckchen Wurzeln aus der herabhängenden Seitenverkleidung und begann eine Tüte zu bauen.
"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er nebenbei und konzentrierte sich aufs Drehen."
"Shit, du nervst einfach!"
Doch insgeheim taten diese lapidaren Kommentare seines Freundes gut. Sie waren wenigsten ein bisschen geeignet, seine wühlende Unruhe in Schach zu halten. Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last of the melting Snow, der Song, den er für sie geschrieben hatte, summte in seinem Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für ihn war die Tour ein Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch Mark wusste, dass er diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte.
Neun Jahre. Er wollte nicht, dass die Gefühle wieder hoch schwappten und ihn unter einer Welle aus Trauer und Wut begruben. Doch er hatte keine Chance. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in seiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in seinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?

„Kennst du das?“
„Was?“
„Angst?“
„Vor was?“
„Alleine zu sein und es immer gewesen zu sein?“
Cedric entzündete die Spitze, inhalierte tief und reichte ihm die Tüte. Mark zögerte kurz, griff danach und nahm einen Zug.
"Reicht dir ein verfressener, aber intelligenter Kumpel denn nicht?"
„Vor allem intelligent.“ Für einen Augenblick zerfaserten seine Sorgen, wie der tief sitzende Dunst in diesem scheiß Verladebahnhof und er musste sogar grinsen.
Ein in neongelbem Jäckchen bekleideter Typ winkte sie auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Die bauchigen Waggons verschluckten sie. Sie rumpelten über Eisenschwellen und blieben nach einigen Metern auf der Parkposition stehen.

Auf einer elektronischen Anzeigetafel im Zugabteil lief ein Buchstabenband in Schleife.
Enjoy your Trip with Eurocitytrain!
Das ging alles zu langsam.
Cedric streckte sich und drückte dabei seine Handflächen gegen das Autodach.
Das Foto musste nicht von der Alten sein
„Ahhh, Alter, muss erst mal pissen.“ Schon war Cedric ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für Mark die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen. Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt machte ihn der Lärm und die Geschäftigkeit unzufrieden. Mark legte den Umschlag samt Foto auf die Ablage. Es war nur ein verfluchter Zufall.

Mark lies das Fenster herunter und schnüffelte in die Waggonluft. Sie roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich traf ihn der stechende Blick der Alten. Wie aus dem Boden gewachsen stand sie da. Starrte ihn an, lächelte, zeigte ihre krummen Stümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink seine Aufmerksamkeit auf die elektronische Anzeigentafel lenkte. Was wollte die bloß schon wieder von ihm? Mark folgte ihrer Andeutung.
Auf dem Band wanderte ein Schriftzug von links nach rechts.

... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A .


Er wollte jetzt endlich wissen, was damit auf sich hatte und marschierte auf sie zu. Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich in den Weg Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster, bis sie auf zischte. Mark ließ sich von zwei verschleierten Musliminnen ablenken, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Daneben knutschte ein Pärchen. Hier wurde es immer bunter!
Als er sich wieder der alten Frau zuwenden wollte, traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Sein Blick stürmte die Anzeigetafel. Das gab es doch nicht!

... Verbunden für immer! : ANNA ANNA ANNA ...

Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er glühte. Das Band, dessen er sich stets bewusst war? Jetzt reichte es ihm aber - wo war die Frau bloß? Marks Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden. In seiner Brust hämmerte es. Wie vom Erdboden verschluckt.
Cedric kam zurück und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand. "Ehre den Gott der Juden, der Muslime und Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich einen vergessen?“
Er reichte ihm eine Tüte Smarties.
"Hör auf mit dem Scheiß!"
„Was ist denn mit dir los? Hast grad den Allmächtigen gesehen?“
Mark nervte Cedric Getue. Er verkniff sich eine Antwort und deutete stattdessen Richtung Anzeige.
Cedric stand zuerst auf der Leitung. Doch er schaute zur Abwechslung mal ernst, bis er begriff.
„Och nee, Alterchen, jetzt mach ich mir langsam Sorgen! Schnapp jetzt bloß nicht über.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um. ... Wechseln Sie heute noch Ihren Telefonanbieter. Chose the Change! The European Company! NNAA ... Cedric klopfte sich auf die Schenkel und fing sich gar nicht mehr ein.
„Ich schwörs dir, ich .... ach, Scheiße!“ Mark winkte ab.
Cedrics du-hast-nicht-mehr-alle-Tassen-im-Schrank-Grinsen fühlte sich an, wie ein Pfeil in der Brust.

Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich Smarties in den Mund und hörte i-Phone. Mark dachte über die Alte, die Botschaft und Anna nach. Das konnte kein Zufall mehr sein. Denken. Seine Gedanken schlugen gegen einen elektrischen Zaun. Sein Kopf war wund vor lauter Denken.
Was war sein Zuhause? Sie war es. Sie machte ihn zu einem besseren Menschen. Er musste sich beeilen, musste es schaffen, bevor es zu spät war.

Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Zehn Minuten ungefähr, dann spürten sie, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, auch das noch. Er blickte auf die Uhr. Drehte er jetzt total durch?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Mark hatte keinen Bock auf Scherze.

Sie stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Mark spürte ein Kribbeln im Bauch. Es war reine Kopfsache, aber längst zuckten die Befürchtung eines Anschlages unaufhörlich.

Es blieb dunkel, Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen. Mark schaute sich das Ganze mit anderen Männern von nahem an. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.

"Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach ihn von hinten an. Mark wirbelte herum. Ihre Botschaft traf ihn bis ins Mark.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Er blickte starr in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau.
Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab. Ihre Erscheinung war so präsent in all dem Chaos.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“
Etwas krachte gegen die Scheibe. Sie zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt, der Bund bleibt. Beeil dich!“ Panik drohte ihn zu übermannen.

Das herzzerreißende Geschrei eines Kindes im Arm seiner Mutter ließ ihn herumfahren. Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab. Als er sich erneut umsah, war die Alte abermals verschwunden. Sein Körper entspannte und er atmete tief aus.

Mark bahnte sich einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den er versehentlich anrempelte, strafte ihn mit Blicken. Er lief die nächsten drei Waggons ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergebens, sie blieb wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen schlurfte ihm Cedric entgegen.
„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“
Mark wusste nicht mehr wo ihm der Kopf stand, ihm war, als hätte er zehn Mal an Cedrics Tüte gezogen. Seine Hände waren feucht, er taumelte durch das Abteil. Was er soeben gehört hatte schien ihn mehr zu berühren, als er sich zunächst eingestehen wollte. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Woher wusste sie? Das gab's doch nicht! Er musste zu Anna. Und zwar so schnell wie möglich! Verdammt, warum ging hier nichts vorwärts? Hatte sich alles gegen ihn verschworen?

Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an. „Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Die Luft roch verbraucht. Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter. So konnte er es vergessen, er würde es niemals rechtzeitig schaffen.
Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging eine Art Notbeleuchtung an.

Schließlich ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Jude lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Moslem hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.

Unter normalen Umständen hätte er Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald sie aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um ihn genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf seiner Seele herum trampelte? Dass sie ihn wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war er bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. "Ein Bund für die Ewigkeit. Suche sie, sonst bist du verloren." Das Mütterchen war total abgedreht - er war total abgedreht. Er kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen ihn.

Endlich spuckte sie der Eurocity im Bahnhof von Calais aus. Der schwarze Himmel beschoss sie mit Eis und Schnee. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter ihnen hindurch. Mark machte Cedric klar, dass er durchfahren würde, Klo und Getränkenachschub verkneifen musste. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und dann waren sie auf offenem Land. Vielleicht schafften sie es noch, rechtzeitig. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete seine Lunge, als er sich die Kippe ansteckte.
Sollte er sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annas Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah Mark bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.

Um 3.23 Uhr stand er unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden stierten herab. Sie schliefen. Mark stockte der Atem, als er zitternd und dampfend noch einmal auf ihre SMS starrte.

Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir
leid. Anna


Er schnippte die Kippe weg und klingelte. Die Sekunden dehnten sich, er klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Sein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse. Gleich würde er durchdrehen.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Er zögerte!
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.
"Hör mal, du Ar..."!

Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus seinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Er spürte, wie er all seine Hoffnung in diese beiden Worte legte und hörte, wie ihm die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"

Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an. Sie stand vor ihm, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte er ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah den kleinen Sonnenfleck am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte ihn nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Er zog die Nase hoch und sagte:
"Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."
Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...die Wut stieg wieder in ihm hoch. Er biss sich auf die Lippen und ...

Er kramte aus einem Impuls heraus den Ring aus der Hose, ihren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Mark wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
Ihre schönen Augen blickten auf seine Seele und aus seinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“
Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hört er nur das Rauschen des eisigen Windes.
Er konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte er sich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie ihm nach rief, doch sie blieb stumm. Er lief die Straße weiter, um die nächste Ecke, bis er keuchend und weinend um Atem rang. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Er kickte gegen eine Tonne. Krachen. Er schrie! Die halbe Nacht irrte er durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte er, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an seiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, er weinte bitterlich, er fror und zitterte. Er suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!

In der kalten Wohnung zog er sich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch sich unter der Decke.
Er nahm die Gibson auf den Schoß und wischte sich mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Zuerst war es nur ein Akkord, dann wuchs die Strophe zu einer Melodie aus Tränen und Stolz, hingekritzelt auf einem Block und unzählige Male wiederholt und geschliffen. Er summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor seinem Fenster verdrängte. Die Tristesse erwachte, der Schnee schmolz.

Bis zwei Uhr schlief er. Danach rief er Cedric an. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Er deutete auf sein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“
„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte Mark auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Er begann sich zu häuten und streifte die Trauer ab.
Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Mark musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit - vorerst. Dann nahm er die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.

Mit einem Scheppern ließ er die Gibson fallen. Stürzte auf die Vitrine zu. Riss eine Tür nach der anderen auf. Irgendwo musste es sein. Zwischen Bildbänden und CDs fand er das Fotoalbum. Urlaub 2003 La Gomera stand drauf.
Hastig blätterte er die Seiten durch. Dann blieb sein Herz stehen. Es war ihm, als tasteten Finger in seiner Brust und zerquetschen es.
„Schau!“
Mark hielt Cedric die Seite hin, das Bild aus dem blauen Umschlag daneben. Cedric kratzte sich am Kopf. Verstand er etwa nicht die Tragweite seiner Entdeckung?
„Beide sind gleich! Schau, der Strand. Exakt der gleiche Winkel. Siehst du diese Wolken? Es sind dieselben!“
„Das Foto aus dem Schnee ist eine Kopie?“
Cedrics konnte nur langsam folgen.
Mark riss sich aus seiner Erstarrung los, wühlte sich durch den Zeitschriftenstapel. Blättere hektisch einige Hefte durch, schmiss sie in die Ecke, dann vertiefte er sich in einem Artikel.
Das hatte er gesucht.
„Überlappung - Phänomene der Zeit I" von Peter Oppendorf.
Mark starrte durch die Wand.
Die gelbe Mütze, das Foto, die Anzeige, die Ringe, die alte Frau?
Es war kein Zufall, sondern eine Botschaft.
Zeiten gehen, das Leben fließt, der Bund bleibt.

Er ging zum PC und gab den Namen in der Suchmaschine ein. Seine Aufmerksamkeit schweifte über die ausgespuckten Seiten.
Die Suche hatte begonnen.
Zweifel gab es keine mehr.
Offene Fragen rieselten in seinen Kopf.
 



 
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