Thetsuputs Herz

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Niquita

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Thetsuputs Herz



Ich bin eingetreten als Falke,
Ich bin herausgegangen als Phönix.
(Das Totenbuch der Ägypter, Spruch 13)


Die Einbalsamierung war abgeschlossen und der Leichnam hergerichtet für seine Reise ins Jenseits. Die inneren Organe bis auf das Herz entfernt, so wie das Ritual es vorsah. Gewandet in seiner besten, weißen Tunika und mit dem so typischen schwarzen Lidstrich geschminkt, mußte nun der Verstorbene das letzte Stück seines Weges allein gehen. Das Totengericht blieb niemanden erspart - auch nicht dem Pharao.

Schon sah er Anubis auf sich zukommen. Endlich ein vertrautes Gesicht, dachte er bei sich. Als Pharao stand er den Göttern näher als jeder andere Untertan. Schweigend folgte er dem schakalköpfigen Gott in die Halle der Vollkommen Wahrheit. Das Gericht, das aus 42 Richtern - jeder stand für eine ägyptische Provinz - bestand, wartete schon auf ihn. War er zu spät zu seiner eigenen Verhandlung? Augenblicklich wurde ihm kalt vor Angst. Ägypten war einmal sein Reich. Sollte er sich nun vor seinem eigenen Reich rechtfertigen? Sein Blick ging von den Richtern zu Osiris, dem Herrscher der Unterwelt, zurück zu Anubis und blieb schließlich an der großen Waage haften. Dort lag wahrhaftig sein Herz in einer der beiden Schalen! Wie war es aus seinem Körper ausgetreten? Lächelnd legte Anubis eine Feder in die zweite Schale. Noch, so sah er, war sein Herz leichter als die Feder, doch würde das nach seinem Bekenntnis auch der Fall sein? Würde er vor Osiris und seinen 42 Richtern bestehen? Er war Pharao. War er somit nicht unfehlbar? Gedanken, die er sich früher hätte machen sollen. Schon rollte Thot, der Gerichtsschreiber, das Papyrus aus und tauchte seine Schreibfeder in das Tintenfaß vor ihm. Die Verhandlung sollte beginnen.

Wie oft hatte er mit den Priestern seine Reden geübt. Jedes einzelne Detail war besprochen worden. 82 Sünden sollte er in seinem Leben nicht begangen haben. 40 sollte er vor Osiris abschwören, 42 vor den Totenrichtern. Doch jetzt schien sein Gedächtnis wie ausgelöscht. Noch bevor er zu sprechen begann, fiel sein Blick auf ein Monstrum neben der Waage. Heimtückisch grinste es ihn an. „Dein Herz gehört schon jetzt mir“ zischelte es durch seine Lefzen. „Ich bin der Pharao und die Götter werden mir bestehen“ entgegnete er gereizt, in der Hoffnung, daß das Monstrum ihm seine Angst nicht anmerkte. „Nun, die Götter mögen keine Lügen und du bist nicht mehr Pharao. Du bist jetzt ein gewöhnlicher Toter. Doch nun sprich zum Gericht, denn ich habe Hunger!“ Ihm lag eine schnippische Antwort auf der Zunge, als die donnernde Stimme Osiris ihn dazu aufforderte mit seiner Rede zu beginnen. Stotternd begann er:

„Seid gegrüßt, Götter des Totengerichts. Ich kenne eure Namen, wie auch ihr den meinen kennt. Sprecht heute Recht über mich, denn ich habe kein Unrecht begangen - weder gegen Mensch noch Tier. Ich habe keinen Gott beleidigt oder seine Opfergaben gestohlen. Ich befahl nicht zu töten noch tat ich es selbst...“ Langsam wurde seine Stimme sicherer während er auch die anderen Verfehlungen aufzählte, die er nicht begangen haben sollte. Am Ende seiner ersten Rede kicherte das Monstrum leise. „Was ist denn?!“ fauchte er das Ungeheuer mit gesenkter Stimme an. Alle seine Sicherheit war wie auf einen Schlag verflogen. „Du kannst vielleicht Osiris täuschen, aber mich nicht. Der Herr Pharao ist eine Frau. Nicht wahr, Thetsuput?“ höhnte das Monstrum.

Die 42 Totenrichter schwiegen. Interessiert verfolgten sie das Getuschel zwischen dem Toten und dem Monstrum. Selbst Thot, der als Gerichtsschreiber jedes Wort aufzeichnete, konnte sie nicht verstehen. Was nun? dachte Thetsuput. Sie hatte ihr ganzes Leben lang kein Unrecht begangen - im Gegenteil. Ihr war es zu verdanken, dass die ägyptischen Provinzen endlich gefriedet wurden. Es gab keinen Hunger im Land, der Handel blühte. Sie war schon früh intelligent genug, sich als Mann auszugeben. Sie war Pharao Thetsuput und niemand zweifelte daran. Bis heute. Schließlich regte sich jetzt einer der Totenrichter. Sie erkannte ihn sofort, er wurde der Schattenverschlinger genannt. Missmutig beugte er sich über den Richtertisch und starrte erst sie, dann das Monstrum an. „Ist es uns gestattet auch den zweiten Teil Ihrer Erklärung zu hören, werter Pharao? Wir habe heute noch andere Verhandlungen.“ nuschelte er dunkel. Schlimmer kann es nicht werden besann sich Thetsuput bevor sie Ihre Unschuldserklärung an die 42 Totenrichter richtete. Sie war fast identisch mit der Ansprache an Osiris, aber das Gesetz befahl es, daß die Totenrichter gesondert angesprochen wurden.

So kam er Augenblick der Wahrheit. Die Waage bewegte sich. Sollte ihr Herz schwerer sein als die Feder, war sie als Lügnerin enttarnt und das Monstrum würde ihr Herz verschlingen und sie zum zweiten Mal - endgültig - sterben. Sollte jedoch die Feder schwerer sein als ihr Herz, wäre sie aufgenommen in Osiris Reich. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie das Ungeheuer neben ihr sabberte.

Und dann geschah das Unglaubliche. Herz und Feder waren gleich schwer. Dieser Fall war im Totengericht nicht vorgesehen. Ratlosigkeit machte sich breit. „Wie kann das Herz nur so genau schwer sein wie die Feder“, sinnierte Osiris, um gleich darauf zu erkennen, daß Thetsuput gelogen haben muß. Doch jede der 82 Sünden war schwerer als eine Feder. „Was ist dein Geheimnis, Verstorbener?“ fragte er ratlos. „Euer verstorbener Pharao ist eine Frau“ platzte das Monstrum heraus. „Wußtet ihr das nicht? Ägypten wurde in den letzten Jahren von einer Frau regiert und keiner hat es gemerkt, doch die Wahrheit läßt sich nicht täuschen. Und die Wahrheit bin ich!“ Erst jetzt erkannte Thetsuput das Ungeheuer. Es war Ma‘at, die Göttin der Wahrheit. „Da die Tote erwiesenermaßen gelogen hat“ fuhr Ma‘at fort „gehört ihr Herz nun mir. Auch bei einem Gleichstand der Waage. Das Böse in der Form der Lüge muß vernichtet werden. So will es das Gesetz.“ - „Nein!“ widersprach ein Totenrichter. „Das Böse muß vernichtet werden, aber doch nicht auf Kosten des Rechts. Bei Gleichstand der Waagschalen ist der Verstorbene immer noch unschuldig!“ - „Wo steht das?“ fauchte die Wahrheitsgöttin erbost. Osiris seufzte nur: „Nirgends, liebe Ma‘at, nirgends. Doch solltest selbst du nicht etwas Herzensgüte zeigen? Schau dir Ägypten an. Sieh dir an, was Thetsuput geleistet hat und wiege das auf gegen ihre kleine Lüge bezüglich ihres Geschlechts. Sie beging keine Todsünde. Doch wie dem auch sei, über Recht und Unrecht mögen die Totenrichter entscheiden.“

Nach kurzer Beratung wurde Thetsuput für unschuldig erklärt. Sie bekam ihr Herz zurück und folgte Osiris in sein Reich. Zurück blieb Ma‘at, verletzt und wütend darüber, daß sie wieder ein kleines Stück ihrer Macht verloren hatte.
 
L

loona

Gast
Hallo Niquita,

eine interessante Geschichte. Offensichtlich mit viel Recherche oder gesammeltem Wissen. Und da beginnt das "Problem": distanziert und sachlich, formal korrekt - das ist die Geschichte. Aber die beschriebene Angst - ich kann sie nicht nachfühlen, wenn ich davon lese. Die Perspektive ist ganz klar die von Thetsuput, aber sie ist großflächig unemotional geblieben. Das liegt nicht nur an der geradezu sachtextlichen Wissensvermittlung, die in den erklärenden Passagen steckt. Sondern auch an der zu kurz geratenen Charakterisierung der Haupt"personen": Thetsuput, das Monster, die Götter (Osiris), die Totenrichter. Zumal das Ende ziemlich schwach auf der Brust ist: an die Güte der "Wahrheit" zu apellieren und die Tatsache, daß das offensichtlich recht einfach akzeptiert wird (zwar "wütend und verletzt", aber unwidersprochen, *trotz* Machtverlust (ist dem wirklich so?)) - das ist sehr, sehr einfach hinkonstruiert. Ohne jegliche Spannung.

Eine weitere Frage stellte sich mir im Laufe der Geschichte: Ma'at "outet" Thetsuput doch schon einmal, bevor die Rede an die Totenrichter beginnt. An deren Ende steht ein erneutes "Outing"... Hatte das erste niemand mitbekommen?

Und wo im Wortlaut der Rechenschaftsberichte des Pharaos / der Pharaonin versteckte sich die "halbe Lüge"?

Abschließend gesagt: ich finde die Geschichte ist es auf jeden Fall wert, daran zu arbeiten. Wahrscheinlich wird sie dadurch länger - das täte der komplexen Kultur, die darin behandelt wird sicherlich ganz gut. (Wobei es sicher auch eine verdichtete, straffe und trotzdem lebendige Variation geben kann.)

Frohes Schaffen wünscht

loona
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

ein sehr interessanter text. ansonsten schließe ich mich den worten meiner vorrednerin an. ganz lieb grüßt
 

Niquita

Mitglied
Hallo ihr beiden,

danke für eurer Feedback.

Zum 1. "Outing": Das ist ein leises Gespräch zwischen Ma'at und Thetsuput. Das zweite "Outing" ist vor dem gesamten Gericht. Werde mir die Stelle nochmal genauer angucken, ob das noch klar zu vermitteln geht.

Mit dem Ende bin ich selbst noch nicht zufrieden. Mir persönlich ist's noch zu abrupt, jedoch möchte ich das Ende als solches beibehalten. Mir persönlich ist die Entscheidungsfindung zu kurz. An der Stelle muß ich eh noch mal bei...

Die "Lüge" Thetsuputs versteckte sich in ihrem Leben, nicht in der Rede. Das Totengericht war - mythologisch gesehen - sehr straff geregelt. Sogar bis auf den Wortlaut bei der Abbitte (Spruch 125, Totenbuch)

Die Sache mit der Angst, hmm, da bin ich noch unentschlossen, was ich damit anstelle.

Ansonsten nochmal danke. Schließlich war es meine erste "richtige" Kurzgeschichte (von dem Text "Alles klar, oder?! für die Anthologie mal abgesehen). Hatte mit schlechterem Feedback gerechnet. :)

Dann mal wieder an die Arbeit...

Liebe Grüsse euch beiden
Nicole
 



 
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