Thyra bekommt Besuch

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Charlene

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Thyra streckte ihrem eigenen Spiegelbild trotzig die Zunge raus. Weiß. Ihre Zunge war belegt und ihr Hals tat weh. Wie sie Erkältungen hasste! Leg dich ins Bett, wickle den Schal fest um den Hals und versuche zu schlafen! Schlaf ist die beste Medizin! Die Ermahnungen ihrer Mutter hallten Thyra noch immer in den Ohren. Ätzend! Wie hätte sie jetzt nur an Schlaf denken können? Ihr Kopf war gerade dabei, zu Brei verarbeitet zu werden, so heftig pochte es darin, der Hals brannte als ob sie eine ganze Flasche Schnaps getrunken hätte und überhaupt fühlte sie sich einfach krank und scheußlich. Thyra zuckte mit den Schultern, warf noch einen letzten Blick auf das blasse Gesicht mit den großen Augen, das ihr aus dem Spiegel entgegen blickte, und schlurfte dann in die Küche. Dort war mittlerweile das Wasser durch die Kaffeemaschine erhitzt worden und dampfte nun in der gläsernen Kaffeekanne vor sich hin. Auf Zehenspitzen versuchte sie die Schachteln mit den Teebeuteln von dem viel zu hohen Regalbrett herunterzuholen. Was für einen Luxus genossen da ihre Freundinnen wenn sie krank waren! Anstatt sich selbst den Tee kochen zu müssen und alleine vor sich hinzuvegetieren wurden die von ihren Müttern verwöhnt, selbst wenn sie nur einen kleinen Schnupfen hatten. Schniefend rieb Thyra sich die verstopfte Nase, als sie endlich die Teebeutel in den Händen hielt und von dem kleinen Hocker, den sie zur Hilfe genommen hatte, wieder herunter gestiegen war. Und was machte ihre Mutter, während ihre Tochter schon halb ins Koma gefallen war? Arbeiten. Nicht einmal jetzt konnte sie es sich leisten, wenigstens für einen Tag zu Hause zu bleiben. Das Reisebüro läuft doch gerade erst an! Da kann ich die Leute nicht einfach vor den Kopf stoßen, indem ich nicht aufmache. Und außerdem hast du mir versprochen... Dem daraufhin folgenden Vortrag von wegen Thyra hätte sich damals einverstanden erklärt, etwas zurückzustecken wenn ihre Mutter sich selbständig machte und eigentlich sei sie doch auch gar nicht mehr so klein und so weiter, hatte sie nicht weiter zugehört. Thyra hängte sieben Teebeutel in die Kanne und stellte diese zusammen mit einer großen Tasse, auf der lauter Bären zu sehen waren, der Zuckerpackung und zwei Tafeln Schokolade auf ein Tablett. Ihre Mutter wäre wahrscheinlich in die Luft gegangen, wenn sie diese Teebeutelverschwendung und den Berg Schokolade gesehen hätte, aber sie war ja schließlich nicht da. Wer hätte denn auch ahnen können, dass dieses doofe „Zurückstecken“ beinhaltete, sich selbst zu versorgen, wenn man krank war? Thyra jedenfalls nicht.
Der Vormittag schien endlos lange zu sein. Im Fernsehen lief nur Mist. Thyra wollte weder bescheuerte Talkshows noch irgendwelche Dokus über Geburten sehen und solche albernen Zeichentrickserien schon überhaupt nicht! Schließlich schaltete sie die Kiste einfach aus und starrte auf die gegenüberliegende weiße Wand. Warum hatte ihre Mutter damals, als sie in die Wohnung gezogen waren eigentlich darauf bestanden, alles weiß zu streichen? Nicht einmal ein dezentes Beige hatte sie durchgehen lassen und Thyras Wunsch, ihr Zimmer in hellgrün zu streichen, war natürlich auch abgelehnt worden. Thyra schlurfte laut ihren Tee. Ihre Mutter hasste es, wenn sie – wie sie es nannte – nicht auf ihre Manieren achtete. Aber sie mit Schlürfen oder Schmatzen zu ärgern klappte auch nie. Dafür war ihre Mutter viel zu selten da. Thyra überlegte, wie sie die Zeit überbrücken konnte, bis – Ja bis was eigentlich? So wie sie sich im Moment fühlte, hatte sie keine Lust darauf am Nachmittag etwas mit ihren Freundinnen zu unternehmen und zum Telefonieren krächzte ihre Stimme zu sehr. Vom Lesen bekam sie nur noch mehr Kopfschmerzen und Fernsehen war auch nicht viel besser. Ihr CD-Player war kaputt und die Stereoanlage im Wohnzimmer litt seit dem Umzug an fehlenden Boxen. Trübe Aussichten also.
Irgendwie musste Thyra dann doch eingeschlafen sein, denn als ihre Mutter mittags mit unnatürlich guter Laune zur Tür hereingestürmt kam, schreckte sie vom Sofa hoch. Schnell wischte sie sich über den Mund, um die letzten verräterischen Schokoladenreste verschwinden zu lassen und setzte sich auf.
„Aber Thyra!“, entrüstete sich ihre Mutter, sobald sie das Deckenchaos im Wohnzimmer sah. „Ich habe dir doch gesagt, dass du in deinem Bett schlafen sollst! Auf der unbequemen Couch hier, verspannst du dich nur.“ Bevor Thyra etwas erwidern konnte, war ihre Mutter schon wieder aus der Tür verschwunden und wirbelte in der Küche herum. Thyra schüttelte den Kopf, um den letzten Rest Verschlafenheit zu vertreiben, suchte blind nach ihren Hausschuhen und schlurfte ihr hinterher. Als sie dort ankam, hatte ihre Mutter bereits den Tisch komplett gedeckt und war gerade dabei, die eingefrorenen Essensreste vom Wochenende in der Mikrowelle aufzutauen und einen Salat zu machen.
„Und was hast du den ganzen Vormittag schönes gemacht?“ Thyra ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen, knabberte lustlos an einer Karotte, die eigentlich für den Salat bestimmt war und überging die Frage. Wenige Minuten später war das Mittagessen fertig. Thyras Mutter plapperte am laufenden Band, während Thyra lustlos die Lasagne in sich hineinschaufelte.
„Kannst du mir noch schnell die Post geben? Ich habe sie auf der Kommode hinter dir abgelegt...“, sagte ihre Mutter zwischen zwei Bissen, bevor sie weiter über die ausgefallenen Wünsche eines Kunden erzählte, der eine Weltreise plante. Thyra tat wie ihr geheißen. Schnell schaute sie die Briefe durch. Dorothea Feldner, Dorothea Feldner, Dorothea Feldner... Alles für ihre Mutter. Bei zwei Umschlägen jedoch hielt sie kurz inne. Der eine war von einem Versandhaus und an Albrecht Kobner adressiert. Dabei war Thyras Vater schon seit eineinhalb Jahren tot. Der andere war zwar für ihre Mutter, aber das Couvert sah seltsam aus. Es war nicht wie normal weiß, sondern blau und die Adresse war in einer sehr komischen, altmodischen Handschrift geschrieben, die Thyra kaum entziffern konnte. Schweigend reichte sie auch die beiden Briefe ihrer Mutter und lud sich eine zweite Portion Lasagne auf den Teller. Auch wenn sie wegen ihrer Erkältung kaum etwas schmeckte, grummelte ihr Magen gewaltig. Gespannt wartete sie, bis ihre Mutter sich durch die ganzen Rechnungen zu dem seltsamen Umschlag durchgearbeitet hatte. Als sie ihn näher betrachtete, runzelte sie die Stirn.
„Das kann doch nicht...“, murmelte Dorothea Feldner irritiert. „Seit Jahren habe ich nicht mehr...“ Entschlossen nahm sie ihr Messer vom Teller und öffnete damit den Brief. Schnell überflog sie die enge Handschrift, die sich durch das dünne Papier durchdrückte, sodass sogar Thyra sie undeutlich sehen konnte. Ungeduldig spielte sie mit ihrer Gabel und wartete darauf, bis ihre Mutter fertig war und den Brief auf den Tisch legte, um ihn nur wenige Sekunden später ungläubig noch einmal zu überfliegen.
„Von wem ist denn der Brief, Mama?“ Thyra konnte ihre Neugierde nicht mehr länger zügeln. Es dauerte noch einige Augenblicke, bis sie eine Antwort bekam:
„Ich muss sagen, damit habe ich wirklich nicht gerechnet! Seit Jahren hat er sich nicht mehr gemeldet...“ Als sie Thyras neugieriges Gesicht bemerkte, brach ihre Mutter in Lachen aus.
„Der Brief“, und damit deutete sie auf den Umschlag neben sich, „ist von Onkel Basilius.“ Thyra überlegte. Onkel Basilius – noch nie gehört!
„Wer ist denn dieser Onkel?“, fragte sie deshalb. Ihre Mutter setzte gerade zu einer Antwort an, sprang dann jedoch mit einem entsetzten Blick auf ihre Armbanduhr auf.
„Tut mir leid, Thyrachen!“, entschuldigte sie sich, während sie dabei war, ihre Stöckelschuhe wieder anzuziehen und ihr Jackett zu suchen. „Erzähle ich dir alles heute abend, wenn ich nach Hause komme! Räum bitte den Tisch ab und... Wo ist denn jetzt meine verdammte Tasche?“ Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloss. Thyra schob sich noch einen Löffel Lasagne in den Mund. So war das jeden Mittag. Kaum dass das Essen auf dem Tisch stand, war sie auch schon wieder alleine. Allerdings hatte diese Tatsache auch sehr oft ihre Vorteile. Zum Beispiel konnte sich niemand daran stören, wenn man fremde Post las. Thyra angelte sich den Brief von Onkel Basilius und stand auf. Das Geschirr konnte sie auch noch später in die Geschirrspülmaschine einräumen; der Brief hatte erst mal Vorrang. Im Wohnzimmer ließ sie sich in den Sessel sinken, holte den eng beschriebenen Briefbogen aus dem Umschlag heraus und begann zu lesen.

Nur eine Woche später stand Thyra vor einer Glasscheibe und presste sich die Nase platt. Aber selbst bei bestem Willen konnte sie unter den kleinen Figuren, die draußen auf dem Flugfeld gerade ihre Boeing verließen, nicht Onkel Basilius ausmachen. Einmal ganz davon abgesehen, dass sie ihn noch nie selbst zu Gesicht bekommen hatte und demnach nicht wusste, wie er überhaupt aussah. Die Schilderungen ihrer Mutter, die diesen mysteriösen Onkel das letzte Mal bei ihrem achtzehnten Geburtstag – also vor ewig langer Zeit – getroffen hatte, waren in dieser Beziehung auch nicht gerade sehr ergiebig gewesen. Rote Haare, groß und breitschultrig war alles, an was sie sich erinnern konnte. Aber im Prinzip war es egal, ob sie ihn erkannten oder nicht, denn Thyra hatte den ganzen Vormittag damit verbracht, auf einen Pappkarton in möglichst lesbarer Schrift „Onkel Basilius“ zu schreiben. Genau dieses Schild schnappte sie sich jetzt noch schnell, als ihre Mutter sie an der Hand packte und in Richtung der Empfangshalle schleifte. Dorothea Feldner hatte sich für diesen Anlass richtig herausgeputzt. Jetzt lief sie nervös hin und her und redete die ganze Zeit auf Thyra ein. Dabei reckte sie alle zwei Sekunden den Hals, um die frisch gelandeten Besucher so früh wie möglich zu erblicken. Thyra setzte sich gelangweilt auf eine der Bänke und stellte das Pappschild an ihren Beinen ab. Anfangs hatte sie sich ja auf die Ankunft von Onkel Basilius gefreut. Der Cousin xten Grades von ihrem Großvater, der verschollene Verwandte, der seit Jahren in Slowenien lebte das klang schließlich nicht mal so uninteressant. Doch als ihre Mutter ihr dann erzählt hatte, er sei ein „begeisterter Archivar, der nicht nur in einem Archiv arbeitet, sondern fast seine gesamte Freizeit auch dort verbringt“, war die Freude so flugs verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Zwar hegte Thyra noch die leise Hoffnung, dieses Verhalten könnte sich in den Jahren, in denen ihre Mutter ihn nicht mehr gesehen hatte, verändert haben, aber so wirklich glaubte sie nicht daran. Stinklangweilig! Thyra baumelte mit den Füßen, warf dabei das Schild um und starrte auf den Boden. Während sie damit beschäftigt war, eingehend das Muster der Bodenfließen zu betrachten, wurde Dorothea Feldner immer nervöser.
„Wo bleibt er denn?“, murmelte sie vor sich hin und fuhr sich rastlos durch die Haare, denen sie zu Hause noch fast eine ganze Dose Haarspray verpasst hatte.
„Thyra! Jetzt halte doch endlich das Schild hoch! Vielleicht hat er uns ja übersehen und...“ Thyra hob das Schild wieder auf, stellte sich seufzend neben ihre Mutter und sah dabei zu, wie der Strom an Passagieren langsam verebbte. Aber so sehr Thyra sich auch bemühte, sie konnte weder einen rothaarigen noch einen relativ großen Mann entdecken, geschweige denn einen, der beides war.
„Vielleicht hat er ja den Anschlussflug in München verpasst.“, mutmaßte sie deshalb und hoffte, dass ihre Mutter sich eventuell beruhigen würde. Aber kaum hatte sie ausgesprochen, schüttelte Dorothea Feldner heftig den Kopf.
„Sicherlich nicht!“, gab sie unwirsch zurück, während sie fahrig in ihrer Handtasche kramte und nach langem Gewühle endlich ihr Handy herauszog.
„Ich habe Onkel Basilius extra für solche Fälle meine Handynummer gegeben!“ Sie brauchte zwei Versuche, bis sie ihre PIN richtig eingegeben hatte und drei Minuten, bis sie im Adressbuch ihre Mailboxnummer fand und sich umdrehte, um etwaige Nachrichten abzuhören. Thyra zuckte nur mit den Schultern. Sie hatte es schon lange aufgegeben, ihre Mutter in solchen Situationen beschwichtigen zu wollen und widmete sich lieber der Suche nach dem verschollenen Onkel. Der letzte Schwung der Passagiere aus München hatte anscheinend endlich sein Gepäck bekommen und stürmte jetzt in die Empfangshalle. Thyra hielt das Schild jetzt über ihren Kopf und stellte sich vor, eine indische Frau zu sein, die einen Tonkrug auf dem Kopf balancierte, um sich nicht allzu komisch vorzukommen. Und tatsächlich löste sich ein Mann aus der Masse, winkte ihr kurz zu und näherte sich ihr und ihrer Mutter mit ausgreifenden Schritten. Aber er war nicht groß, sondern sogar kleiner als Thyras Mutter, die mit 175 cm auch nicht riesig war. Genausowenig war er rothaarig. Onkel Basilius` Haar war pechschwarz, durchzogen von einigen grauen Strähnen und mit reichlich Pomade flach an den Kopf gedrückt. Neben zwei abgewetzten, braunen Koffern, schleppte er ein Kugel von Bauch mit sich herum und erinnerte Thyra eher an irgendeinen seltsamen Schauspieler, den sie vor kurzem in einem dieser uralten Schwarzweißfilmen gesehen hatte. Doch obwohl sein relativ schmales Gesicht von einem Monsterschnurrbarrt, dessen beide Spitzen links und rechts der Nase wie zwei Floretts abstanden, wirkte Onkel Basilius auf irgendeine Art ein bisschen furchteinflößend. Trotz des leichten Lächelns, das er auf den dünnen Lippen trug, waren seine blauen Augen so ernst, dass Thyra sich fragte, wie es wohl kam, dass er überhaupt in der Lage war, zu lachen. Hörbar außer Atem blieb er vor Thyra und ihrer Mutter stehen, die immer noch nervös auf ihrem Handy herumtippte, und stellte geräuschvoll seine beiden Koffer ab. Dorothea Feldner drehte sich sichtlich gereizt auf dem Absatz um und starrte den Mann verdutzt an, der nun seine Arme öffnete und Anstalten machte, ihr um den Hals zu fallen. Dorothea Feldner wich entsetzt einen Schritt zurück.
„Was fällt Ihnen ein?“, schnauzte sie ihn an. Thyra sah erstaunt von ihrer Mutter zu dem Menschen, den sie bis gerade eben für Onkel Basilius gehalten hatte.
„Aber...“, setzte sie an, wurde allerdings von dem Mann mit enttäuscht klingender Stimme unterbrochen: „Aber erkennst du mich denn nicht mehr, Dorothea? Ich meine... Du bist doch Dorothea Feldner, oder?“ Verwirrt hielt nun auch er inne. Thyra lief rot an. Da redete ihre Mutter seit sie den Brief bekommen hatte, von nichts anderem mehr als Onkel Basilius und wenn er ihr dann gegenüberstand, erkannte sie ihn nicht einmal! Peinlich! Thyra wäre am liebsten im Erdboden versunken, als sie die neugierigen Blicke der Leute um sich herum wahrnahm, hätte auf das bescheuerte Schild, das sie immer noch über ihrem Kopf hielt, etwas wie „Ich gehöre nicht zu dieser peinlichen Frau“ geschrieben. Aber da beides im Moment nicht möglich war, begnügte sie sich damit, ihre Arme herunterzunehmen und das Schild in den nächsten Mülleimer zu stopfen. Als sie wieder zu den beiden zurückkam, hatten sich dort alle Missverständnisse anscheinend aufgeklärt, denn sie wurde dem Mann mit den Worten vorgestellt:
„Und das, Onkel Basilius, ist meine Tochter Thyra. Sie hat sich genau wie ich sehr auf deinen Besuch gefreut...“ Blablabla. Thyra schaltete ab und widmete sich lieber der Musterung ihres neuen Verwandten. Sie konnte liebend gerne auf die Beteuerungen ihrer Mutter, wie oft sie in all den Jahren an ihn gedacht hatte, verzichten und wurde nur kurz hellhörig, als Onkel Basilius auf die Frage nach dem Wohlergehen seines Bruders, antwortete, sein Bruder sei schon vor mehr als zehn Jahren verstorben, da hätte ihm auch sein sonniges Gemüt, das laut Onkel Basilius alle rothaarigen Menschen hätten, nichts genützt. Ihrer Mutter fiel dazu nichts weiteres als ein kurzes „Oh!“ ein und sie war sich nicht einmal sicher, ob sich das auf die Tatsache bezog, dass Onkel Basilius Bruder tot war oder dass sie eben jene beiden miteinander verwechselt hatte.
Thyra wollte nach Hause. Sie war noch immer leicht erkältet und die frische Luft hatte ihr zwar gut getan, aber jetzt hatte sie auch nichts dagegen, wieder im warmen Auto zu sitzen. Als sie jedoch auf den kleinen Polo ihrer Mutter zusteuerten kamen ihr Zweifel, ob Onkel Basilius‘ umfangreicher Bauch überhaupt darin Platz haben würde. Doch entweder hatte sie sich verschätzt oder Onkel Basilius verfügte über das Talent seine Wampe bei Bedarf so weit einzuziehen, dass er sich seiner Umgebung anpassen konnte, denn nur einige Minuten später saßen sie alle drei im Wagen und fuhren Richtung Innenstadt. Thyra trommelte nervös mit ihren Fingern einen imaginären Rhythmus. Ihre Mutter hatte Prinzipien und Regeln. Eine davon war, dass im Auto nie Musik gehört und der Radio nur zur Überprüfung der Verkehrslage eingeschaltet wurde. Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als die hilflosen Versuche ihrer Mutter, ein Gespräch anzufangen, mit an zu hören.
„Verzeih mir, wenn es etwas unhöflich von mir ist, so etwas zu fragen, aber was hat die bewogen, nach so langer Zeit wieder in die alte Heimat zurückzukehren?“ Onkel Basilius war gerade dabei, Tabak in eine übergroße Pfeife zu stopfen – was jedem anderen einen Vortrag über die Schädlichkeit des Rauchens eingebracht hätte – und wog nachdenklich den Kopf hin und her. Schließlich holte er aus seiner Westentasche eine schmale Schachtel mit Streichhölzern hervor, entzündete die Pfeife und tat einen genüsslichen Zug. Thyra hustete übertrieben und kurbelte demonstrativ das Fenster herunter, um den Kopf in die frische Luft stecken zu können.
„Thyra!“ Dorothea Feldners Stimme ließ nicht nur ihre Tochter, sondern auch ihren Beifahrer erschrocken zusammenfahren. „Mach das Fenster zu! Du warst doch erst krank, willst du gleich wieder...“ Thyra verdrehte die Augen, schloss das Fenster ganz langsam und lehnte sich seufzend im Sitz zurück. Onkel Basilius hatte die Sonnenblende heruntergeklappt und schien damit beschäftigt zu sein, die Form seines Bartes im Make-up-Spiegel zu überprüfen, als er ihr verschwörerisch zu zwinkerte. Thyra glaubte zuerst, sich geirrt zu haben, aber als sie sah, dass er amüsiert lächelte und dabei war, das Rauchen einzustellen, begann ihr dieser seltsame Vogel auf dem Beifahrersitz beinahe sympathisch zu werden. Ihre Mutter dagegen schien das Verhalten von Thyra sehr peinlich zu sein.
„Es tut mir leid, Onkel Basilius, aber Thyra benimmt sich manchmal...“ Sie kam nicht dazu, Thyras Benehmen in allen Einzelheiten auszubreiten, denn in diesem Moment schien ihr Onkel sich der vorher an ihn gerichteten Frage zu entsinnen und unterbracht Dorothea:
„Wie du vielleicht noch weißt, Doro“ Thyra musste grinsen, denn obwohl sie von hinten das Gesicht ihrer Mutter nicht sehen konnte, wusste sie genau was für eine Grimasse sie jetzt schnitt – niemand, aber auch wirklich niemand durfte sie Doro nennen, nicht einmal Oma! „habe ich seit meiner Jugend nur ein einziges Hobby gehabt: die Erforschung unserer Familiengeschichte. Nun war ich irgendwann an einem Punkt angekommen, an dem ich in Deutschland nicht mehr weiterkam, weil unsere Vorfahren aus Slowenien zu stammen schienen. Ich hatte damals sehr großes Glück, denn während meines Urlaubes aus diesem Zwecke dort, wurde meinem Bruder und mir eine Stelle als Archivar in Ljubiljana unterbreitet. Wir zögerten keinen Augenblick zuzusagen. Nun denn, die Jahre verstrichen, Ascanius starb und ich hatte recht viel zu tun, so dass ich nicht viel zum Forschen kam. Doch... Nun ja, vor drei Jahren hatte ich einen Schlaganfall, nach dem ich lange Zeit nicht mehr arbeiten konnte und weshalb ich meine Stelle verlor. All die Jahre davor hatte ich davon geträumt, den ganzen Tag nichts anderes tun zu können, als nach den Wurzeln der Familie Feldner in alten Kirchenbüchern und Urkunden zu suchen-“ Thyra verdrehte zum zweiten Mal die Augen. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Den lieben langen Tag in verstaubten, modrigen, alten Blättern herumzuwühlen? Alleine bei dem Gedanken wurde sie schläfrig!
„...Aber was musste ich da feststellen? Im Jahre 1711 kam Johann Balthasar Feldner aus Deutschland, besser gesagt aus Nürnberg nach Slowenien! Das aber hieß, dass ich hier her zurück musste – und da bin ich!“ Seine Stimme war, je länger er gesprochen hatte, immer leiser, aber auch immer eindringlicher geworden, so dass als er nun endete, sowohl Thyra als auch ihre Mutter einige Sekunden brauchten, um zu realisieren, dass sie bereits vor ihrem Haus angekommen waren.
„Ja, also...“ Dorothea Feldner blickte sich leicht verwirrt um, bis sie verkündete, dass sie ihr Ziel erreicht hatten.

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Das sind die ersten 1 1/2 Kapitel eines Romans (oder zumindest soll es mal einer werden), der davon handelt wie Thyra von Onkel Basilius zur Ahnenforschung mit eingespannt wird und sie das Thema dann doch ziemlich interessant findet - schließlich geht es darum, das Geheimnis zu ergründen, warum ihre Vorfahren aus Nürnberg nach Slowenien flüchten mussten.

Vielen Dank für's Lesen! Ich würde mich über Anregungen, Kritik, Verbesserungsvorschläge oder Kommentare allgemein sehr freuen!
~Charlene~
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
aha,

soll n roman werden. dann ist die ausführlichkeit, die ich beanstanden wollte, in ordnung. aber eine weitaus stärkere gliederung würde deinem werk gerade dann sehr gut tun. es ist eine plage, sich durch solch eine bleiwüste zu arbeiten. bin gespannt, wie es weitergeht!
lg
 

GabiSils

Mitglied
Hallo Charlene,

gefällt mir sehr gut! Die Charaktere sind toll getroffen. (Das mit der "peinlichen" Mutter kenn ich irgendwoher :D )

Mach unbedingt weiter, ja?

Gruß,
Gabi
 



 
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