Tiefschlaf

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Raniero

Textablader
Tiefschlaf

„Hör mal, Schatz, ich glaube, es gibt eine Lösung für unser Problem“ überraschte Charlotte Hürdes ihren Mann Harry eines Morgens bei Frühstücksei und Zeitungslektüre.
Beide hatten sie, wie es bei zahlreichen Ehepaaren üblich ist, die Tageszeitung nach bewährtem Muster unter sich aufgeteilt; er las zuerst im Bereich Sport und Politik, während sie sich derweil mit Feuilleton und Klatschnachrichten zufrieden gab.
„Was für eine Lösung, und für welches Problem?“ knurrte Harry, halb hinter seiner Lektüre versteckt; für ihn existierte im Moment nur ein Problem, aber eines, das ihm sehr zusetzte, hatte doch sein Fußballverein wieder einmal verloren und bewegte sich seit Wochen mit zunehmender Geschwindigkeit auf den sportlichen Abgrund zu.
„Na, Harry, du weißt doch, unser großes gemeinsames Problem, das da“. wies seine Frau auf die Schachtel Zigaretten, die auf dem Tisch mitsamt dem Feuerzeug auf den Einsatz wartete.
Charlotte und Harry, ein Paar in den besten Jahren, waren starke Raucher, seit ewigen Zeiten; als solche hatten sie sich bereits kennen gelernt, in jungen Jahren, und genauso waren sie später, praktisch mit dem Glimmstengel in der Hand, vor den Traualtar getreten. Im Laufe ihrer langjährigen Ehe hatten sie zwar zahlreiche Versuche unternommen, von diesem gesundheitsschädlichen Laster, wie sie es selbst bezeichneten, loszukommen, mit verschiedenen Mitteln und Methoden, doch zu ihrem Leidwesen hatten sie es bisher nicht geschafft, sich auf Dauer davon zu befreien. Vielleicht, so dachten sie, lag dieser Misserfolg auch in der Tat begründet, dass sie zu zweit diesem ‚Hobby’ frönten, denn einer allein hätte unter Umständen mit Unterstützung eines ‚rauchfreien’ Partners eine Chance gehabt, doch indem sie beide sich täglich den Rauch um die Ohren bliesen, hatte das Ganze eher den Charakter eines Anspornes.
„Ach, Charlotte“, gab Harry zurück und legte die Zeitung beiseite, „wie oft haben wir das schon versucht, in der letzten Zeit, und wie viel Geld haben sie uns gekostet, diese Versuche, dafür hätten wir so manche Stange mehr verqualmen können“.
„Ich weiß, Harry, aber schau mal, diese Anzeige hier, die klingt doch wirklich verlockend.
‚Sie sind Raucher und wollen es nicht mehr sein? Gewöhnen Sie sich das Übel ab, spielend leicht, durch Hypnose; machen Sie mit, bei einer Methode, die selbst hartnäckigsten Rauchern, darunter sogar Politikern, zum dauerhaften Erfolg verholfen hat. Greifen Sie zu, in nur einer Sitzung, für 199,00 €, ist das Problem vom Tisch’.
Was hältst du davon, Schatz?“
Statt einer Antwort griff Harry zuerst einmal zu dem Problem auf dem Tisch, solange es noch vorhanden war und zündete sich genüsslich eine Zigarette an.
„Du glaubst, dass es so einfach geht, Charlotte“, meinte er skeptisch, „durch Hypnose? Ich muss dir ehrlich sagen, dass ich nichts davon halte, von diesen Versprechungen“.
„Aber ja, doch, Harry“, widersprach ihm die bessere Hälfte, „warum sollte das nicht klappen, wenn die doch sagen, dass sie es selbst bei hartnäckigen Rauchern geschafft haben, mit Hypnose. Ach, da ist ja sogar eine Namensliste,lauter Prominente, die da mitgemacht haben, und alle sind geheilt worden. Guck mal, die auch, und guck mal, der sogar, dieser Schlot. Bei dem hätte ich das nicht für möglich gehalten“.
„Zeig mal her, Schätzchen!“
Auf der Liste, die der Anzeige beigefügt war, standen in der Tat zahlreiche Namen von mehr oder weniger bekannten Zeitgenossen aus dem öffentlichen Leben, von Showgrößen bis zu Berufspolitikern, und sie alle erklärten übereinstimmend, dass sie als ehemals starke Raucher durch Hypnose, und zwar nur durch Hypnose, vollständig von ihrem Laster geheilt worden waren.
„Na, gut, kann vielleicht schon sein“, brummte Harry, „dass die es damit geschafft haben, aber die schwimmen ja alle im Geld. 199 €uro! Das ist ja die Höhe, das Geld muss erst einmal verdient werden. Für 199 €uro, da mache ich das selbst“.
Er sah seine Frau mit einem durchdringenden Blick an.
Sie ahnte schon, was nun käme, dafür kannte sie ihn nun schon zu lange, ihren zum übertriebenen Geiz neigenden Ehemann.
„Nein, Harry, nicht. Ich will das nicht!“

Am Nachmittag des gleichen Tages machte sich Harry auf, zur städtischen Leihbücherei.
„Ich hätte gern etwas in Erfahrung gebracht über Hypnose, ganz allgemein
können Sie mir da weiter helfen? Gibt’s da bei Ihnen vielleicht spezielle Gebrauchsanweisungen, in dieser Hinsicht?“
Damit konnte sie freilich nicht dienen, die freundliche Dame von der Information, doch sie verwies Harry auf die einschlägige Fachliteratur, die im Haus zur Verfügung stand.
Mit einer großen Einkaufstasche voller Bücher kehrte er nach Hause zurück.
Sogleich stürzte er sich mit seiner Frau, die ihre anfängliche Scheu vor Selbsthypnose überwunden und darüber nachgedacht hatte, was man für 199 Euro so alles kaufen könnte, auf die umfangreiche Lektüre, um die erforderlichen Kenntnisse zu erwerben, die man brauchte, sich gegenseitig fachgerecht in einen Tiefschlaf zu versenken.
Nach einigen Tagen glaubten sie, soweit zu sein.
Nach dem Abendessen setzten sich an einen Tisch, auf dem dieses Mal weder Zigaretten noch Feuerzeug lagen, und blickten sich zunächst tief in die Augen.
„Willst du beginnen, mit der Behandlung, oder soll ich?“ wollte Charlotte sodann wissen.
Harry musste die Frage als Aufforderung missverstanden haben, denn statt sein Weib in Hypnose zu versetzen oder sich von ihr in einen derartigen Zustand verwandeln zu lassen, stand er auf und zog sie ins eheliche Gemach, um zu einer völlig anderen Maßnahme anzusetzen; einem Unternehmen, bei dem seine Frau für gewöhnlich auch die Augen geschlossen hielt, bei dem beide jedoch im Allgemeinen hellwach und aufmerksam zur Sache gingen.
Nachdem Charlotte schließlich nach einer viertel Stunde das Unternehmen mit einem spitzen Schrei für beendet erklärte, griffen beide unisono nach ihren Zigarette, die sie sich redlich verdient hatten.
„So wird das nichts, Schatz“, flüsterte die Frau zärtlich, „auf diese Weise werden wir uns das nie abgewöhnen, ich meine, das Rauchen“.
„Du hast Recht“, stimmte Harry zu, „wir müssen unsere Anstrengungen intensivieren“.
Er ließ offen, welche er damit meinte, diejenigen des vorgesehenen Tiefschlafes oder die des nicht ungewollten Beischlafs.

Am folgenden Abend starteten sie einen weiteren Versuch, wobei sie zu einer kleinen List griffen.
Um eine Beschleunigung des künstlichen Tiefschlafes zu beschleunigen, stellten sie eine Flasche Whisky und zwei Gläser auf den Tisch.
Zuerst war Harry das Medium, so hatten sie es vereinbart.
Er schenkte sich ein Glas ein, prostete sich selbst zu und trank es in einem Zug aus, doch die erwartete Wirkung stellte sich nicht sofort ein.
Erst beim achten Glas fielen ihm die Augen zu, sodass Charlotte mit der Hypnose beginnen konnte.
Leider musste sie jedoch feststellen, dass sie nicht mehr richtig zu ihrem Medium durchdringen und dessen Unterbewusstsein ansprechen konnte, denn sie erhielt von diesem keine Reaktion mehr, stattdessen fing der Patient lautstark an zu schnarchen.
Irgendetwas habe ich falsch gemacht, dachte Charlotte, griff enttäuscht zum Whisky und nahm sich vor, noch einen Blick in die Fachbücher zu werfen.
Kurz darauf aber fiel auch sie in einen Tiefschlaf, und als die Eheleute am nächsten Tag erwachten, mussten sie betrübt einsehen, dass auch der zweite Versuch fehlgeschlagen war; kein Wunder, sagten sie sich kleinlaut, da beide Hypnotiseure eingeschlafen waren, konnte ja niemand mehr mit dem potenziellen Medium Kontakt aufnehmen, um es vom Übel des Rauchens zu befreien.
Stattdessen hatten sie beide einen dicken Kater, aber ungetrübte Freude auf eine Zigarette.

Auch in den nächsten Tagen und Wochen blieb zu ihrem Leidwesen der Erfolg aus; wie immer sie es auch versuchten, sie brachten es nicht fertig, sich wechselseitig in Hypnose zu versetzen geschweige denn gegenseitig in ihr Unterbewusstsein einzudringen.
Schon wollten sie enttäuscht die Bücher wieder zurückgeben und sich von einem richtigen Fachmann unter hypnotisieren zu lassen, für 199 Euro, pro Person, versteht sich, da nahte die Rettung von einer ganz anderen, völlig unerwarteten Seite.
Seit einigen Tagen verspürte Charlotte ein merkwürdiges Unwohlsein, und sie sah die Ursache dafür in den bevorstehenden Wechseljahren begründet.
Als sie daraufhin ihren Frauenarzt aufsuchte, wurde sie jedoch schnell eines Besseren belehrt; obwohl sie bereits die vierzig überschritten hatte, fand sie sich in anderen Umständen wieder.
Als Harry davon erfuhr, weinte er vor Glück wie ein Kind; wie oft hatten sie sich beide doch in jungen Jahren ein Baby gewünscht, und nun war es ihnen im reifen Alter doch noch vergönnt.

Charlottes Schwangerschaft bildete aber auch das ausschlaggebende Signal; wie auf Kommando hin stellten beide unverzüglich das Rauchen ein, als gesundheitsbewusste Eltern in spe, und von künstlichem Tiefschlaf wollten sie nichts mehr wissen.
Stattdessen bereiteten sie sich darauf vor, künftig häufiger nachts aus dem Schlaf gerissen zu werden, wenn das Baby erst einmal da wäre.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
eine

gelungene story mit toller wendung am ende. ich fürchtete schon, die raucher werden alkoholiker, was ja wohl schlimmer ist. aber ein kind kommt später teurer als 199 €! dafür macht es mehr freude, als tabak und alk zusammen.
lg
 

Raniero

Textablader
Na, ja, zu Alkoholikern wollen wir sie nicht machen, nicht von einer Sucht in die nächste Abhängikkeit treiben.
Stattdessen: lasset die Kindlein zu mir kommen.; )

Gruß Raniero
 



 
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