Tim und Wally

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Homosapiens

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Tim stand noch eine Weile am Fenster, so wie immer sonntagsnachmittags nach ihrer Abreise. Wenn sie weg war, fühlte sich die Luft um ihn plötzlich kühl und dünn an.

Trotzdem verspürte er auch eine Art Erleichterung, seinen Lebensraum wieder allein ausfüllen zu können, nach einem Wochenende ihrer umfassenden, atemberaubenden Präsenz. Ohne Kommentar und heiteren Tadel alles herumliegen lassen zu können, erstmal eine Zigarette zu rauchen, zum erkalteten Kaffeerest..... Aber da stand auch noch ihre Tasse auf dem Tisch, ihr Teller mit ein paar Kuchenkrümeln drauf, ein Papiertuch daneben mit einer Spur ihres Lippenstiftes.

Tim hatte Wally erst vor ein paar Monaten auf der Computermesse kennengelernt, er war dort gewesen wegen der Lehrerfortbildung an seiner Schule, sie wegen des elterlichen Hofes in einem Nest im Süden der Republik. Bei aller Unterschiedlichkeit der Berufe war die moderne Technik nirgendwo mehr wegzudenken. Allerdings hätten zwei Menschen kaum verschiedener sein können als sie beide. Wally sah ein bißchen so aus wie ihr Taufname Walburga: ausladend, wohlgefüllt und üppig bedacht. Wie jemand, der allmorgendlich eine Kanne Milch trinkt, noch warm von der Kuh.

Tim fühlte sich dagegen wie ein Schluck Magermilch, ein dünner, blasser Typ, etwas farblos mit den hellblauen Augen unter der hohen Denkerstirn mit dem früh gelichteten Blond. Auch sein Name war Schicksal, ein kurzer Laut, kaum ausgesprochen, schon verklungen hinter geschlossenen Lippen.

Als Walburga ihn angelacht hatte mit ihren braunen Augen in dem herzförmigen Gesicht, war alles andere plötzlich wie ausgelöscht gewesen, Ines, die schlanke, dezente Kollegin und auch er selbst, der norddeutsche Großstädter, sein akademisches Denken und sein berufliches Dasein, das seinem Leben bis dahin durchaus Inhalte verliehen hatte. Ines war in seiner Welt ansässig, ihm ähnlich. Was sollte er mit seinesgleichen? Sie würde seinem Leben kaum mehr Gewicht verleihen. Wally mit ihrer selbstverständlichen Ursprünglichkeit war über die eigentliche Bedeutungslosigkeit seines Lebens hinweggefegt und hatte ihm seine eigene, plötzlich gespürte Substanzlosigkeit zum Bewußtsein gebracht.

Ein einziges Mal war er seither übers Wochenende in Wally's Heimatdorf gefahren, von ihren Eltern zwar höflich, aber doch voll Verlegenheit empfangen, im Dorfkrug dagegen mißtrauisch beäugt. Gleich bei seinem Eintritt war der melodische Singsang des Dialektes jener Gegend verstummt und wollte an diesem Abend auch nicht wieder in Gang kommen. Seine Wenigkeit schien hier ein fröhliches Räderwerk zu blockieren, sodaß Wally künftig die Wochenendfahrten in den Norden auf sich nahm.

Etwas hatte sie gleich bei der ersten Begegnung an ihm wahrgenommen, das ihm selbst von sich unbekannt war: die stille, tiefe Sehnsucht in seinem Blick. Wally hatte im allerersten unbewachten Moment in seine Augen geschaut wie in einen der tiefen, sauberen Bergseen ihrer Heimat, vollgelaufene Felstäler, Abgründe, die den Blick wie durch Glas bis zum Grund erlauben, ohne die Möglichkeit jedoch, in diese kalten, klaren Tiefen vorzudringen. Bei Tims Anblick hatte Wally plötzlich gespürt, was es heißt gebraucht zu werden, einfach als Teil jener Natur, der sie entstammte.

Seit sie zum Wochenende tatkräftig die Regie in seiner Wohnung übernahm, gab es kein Essen mehr vom Lieferdienst, seine Reihenhausküche verströmte ungewohnt kräftige Düfte, Wally stärkte die Geschirrtücher, stellte eine Steingutvase mit Blumen auf und erfüllte alles mit ihrer praktischen Lebendigkeit auf eine leichtfüßige Art, die nur in scheinbarem Widerspruch zu ihrer kompakten Körperlichkeit stand. Der magere Tim fühlte sich im Vergleich zu ihr immer schwerfällig und unbeweglich, tiefgründige Gespräche und komplizierte Gedankengänge hatten in diesen Wochenenden keinen Platz. Es war, als ob Wally den kopflastigen Magerling regelmäßig schlafen legte und vom wahren Leben träumen ließ.

Und dann, am Sonntagnachmittag zum Abschied, nahm sie jeweils die ganze geballte Lebendigkeit mit sich und ließ Tim in seinem Alltag zurück, in den der stille, nachdenkliche Mann erst langsam und vorsichtig wieder einkehrte, aus irgendwelchen unbemerkt gebliebenen Ecken und Winkeln, aber trotzdem froh, noch vorhanden zu sein. Oft klingelte dann abends irgendwann der ältere Nachbar Reiner bei ihm, der ihm so etwas wie ein Freund geworden war, falls so etwas in Tims Leben überhaupt vorkommen konnte. Reiner ließ Tim immer erst eine Stunde oder zwei für sich allein, kam dann unter einem beiläufigen Vorwand und hörte Tim einfach zu, so lange, bis der Schmerz einer Leere verflogen war und Tim sich in seiner vertrauten Männerwirtschaft wiederfand.

So war es auch an diesem Abend, an dem Tim jedoch erstmals von Wally's beiläufig gefallener Bemerkung berichtete, daß ihre Eltern sie gern mit dem Bauernsohn vom Nachbarhof verheiratet sähen..... Tim war nicht darauf eingegangen und hatte die Stichwunde eilig ignoriert, bis sie sich unter Wally's heiterem Geplauder unbemerkt verschlossen hatte. Nun jedoch war sie wieder spürbar.

Tim wagte sich an diesem Abend ungewöhnlich weit vor, als er Haßgefühle gestand, Neid auf irgendeinen Bauernlümmel, der die Lebendigkeit einzukassieren beabsichtigte, die Tim zugedacht war, um seine Dürftigkeit auszugleichen. Dürftigkeit? Reiner sah ihn an wie vom Donner gerührt. " Du trägst die Verantwortung für die nächste Generation. Ein intelligenter Mann, ein Weltbürger, der über den Tellerrand schaut, berufen zum Vorbild..... Willst du deine Begabungen stillschweigend im Kuhstall verschwenden? Vielleicht ist es umgekehrt, Wally hat etwas bei dir gesucht, vielleicht den Ausweg aus der eigenen dörflichen Bedeutungslosigkeit? Übrigens macht Ines weder Lärm noch Wirbel, sie ist es sich wert, einfach auf dich zu warten," schloß Reiner. So viel hatte er noch nie an einem Stück gesagt. Jetzt schwiegen sie beide.

Tim wußte nichts zu antworten, noch nicht. Er würde mal abwarten, bis die restlichen Anteile seiner selbst aus ihren Wochenendverstecken herauskamen und dann in der Gesamtheit mit sich allein zu Rate gehen.
 



 
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