Toñita

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Bessarion

Mitglied
Er lag auf der Pritsche in einer Zelle und wollte schlafen. Aber der Wärter draußen pfiff unaufhörlich mit der Trillerpfeife. Er rief: „Ruhe da draußen!“, aber dieser sadistische Aufseher wollte einfach nicht Schluss machen. „Muss ich denn erst an die Tür hämmern?“ fragte er sich und rollte herum, um aufzustehen.
Dabei erwachte er und merkte, dass es keinen Gefängniswärter gab, sondern es war sein Wecker, der nicht aufhören wollte, zu klingeln. Ein Glück, es war alles nur ein Albtraum gewesen. Aber diese Träume verfolgten Robert schon einige Zeit, schon seit dieser Nacht in Untersuchungshaft. Nun befand er sich in den peruanischen Anden und am Tage fühlte er sich sicher. Aber im Unterbewusstsein war seine Angst noch vorhanden.
Gewöhnlich träumte Robert überhaupt nichts. Viel zu kaputt war er von der täglichen Arbeit. Früher, in Deutschland, hatte er sich das Leben hier ganz anders vorgestellt. Viel einfacher und leichter. Aber wenn man in Peru überleben wollte, musste man hart arbeiten. Der Boden war karg und es bedurfte einiger Mühe, ihn zu bewässern und von Unkraut frei zu halten. Robert hatte sich einem Ayllu angeschlossen, also einer indianischen Dorfgemeinschaft, ähnlich den israelischen Kibbuzim oder den russischen Kolchosen. Als starkem, jungen Mann fiel es ihm zu, sich um die Pflanzen zu kümmern. Das waren zum einen Maispflanzen, die dunkelrote Kolben hatten und von den Einheimischen „Sara“ genannt wurden, verschiedene Bohnensorten, wie Purutu und Pallar und mehrere Arten von Kartoffeln, welche ebenfalls in den meisten Fällen rötlich waren. Auch ein kleines Feld mit Erdnüssen gab es. Ganz stolz war Robert auf seine 3 Bäume „Usums“, so etwas wie kleine, gelbe Pflaumen.
Robert stand auf, nahm seinen Zahnputzbecher und die inzwischen ziemlich zerfranzte Zahnbürste und ging zu dem kleinen Bächlein, das durch das Ayllu floss. Auch daran hatte er sich in dem knappen halben Jahr gewöhnt, in dem er hier war: Es gab keinen Strom und keine Wasserleitung. Wollte er warmes Wasser haben, musste er welches aus dem Bach schöpfen und im Kessel über dem Feuer wärmen. Sein Kofferradio, was er mitgebracht hatte, war mehr oder weniger eine Sensation gewesen. Nun dudelte es den ganzen Tag auf dem Dorfplatz „Radio Nacional del Perú“ und der Verbrauch an Batterien war enorm. Da aber der Sól wenig Wert war (er hatte pro Euro 6,70 Soles bekommen), würde sein Erspartes noch eine Weile reichen, um die aus Cuzco heranzubesorgen.
Während er also im Bach seine Morgentoilette machte, merkte Robert, dass ihn irgendwer von hinten beobachtete. Er drehte sich um und sah wieder diese Frau. Sie war ihm schon ein paar Tage aufgefallen. Sie beobachtete ihn immer von weitem, aber sobald er nach ihr sah, drehte sie sich um und ging fort. Heute blieb sie stehen.
„¡Saludos!“ rief er zu ihr hinüber und hob die Hand zum Gruß. Sie lächelte ihn an und grüßte zurück. Langsam ging sie ein paar Schritt auf ihn zu und vielleicht hätte sie auch ein Gespräch mit Robert angefangen, aber in dem Moment hörte man den Dorfältesten: „¡Toooñitaaa!“ und sie beeilte sich zurückzurufen: „¡Si, Papacha!“ und verschwand in Richtung Dorfplatz.
Robert freute sich. Endlich begann jemand aus dem Dorf, mit ihm näher in Kontakt zu treten. Und Toñita war noch dazu eine hübsche junge Frau. Ihre pechschwarzen Haare waren in zwei lange Zöpfe geflochten, die bis zu den Hüften reichten. Sie hatte eine kräftige Gestalt mit einen schönen, runden Hinterteil, so wie es Robert mochte. Und sie lächelte sehr häufig, was ja bekanntlich jeder Mann gern sieht.
In dem Moment aber, als er sich wieder bewusst wurde, dass er zwar im Ayllu geduldet und in das Dorfleben mit einbezogen wurde, aber doch noch nicht richtig dazu gehörte, bekam er Heimweh. Aber er konnte nicht zurück. Robert hatte sich schon immer für den Frieden eingesetzt. Doch beim Engagement gegen den Irakkrieg war er wohl einen Schritt zu weit gegangen. Er hatte Kontakt zu einer Muslimorganisation aufgenommen und dort auch mitgearbeitet. Robert hatte wirklich nicht gewusst, wofür die Teile und das Material waren, was er besorgte. Aber als dann die Disco in die Luft flog und 136 Menschen ihren Tod fanden, wusste er, dass er sich zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Auf der einen Seite war er enttäuscht von seinen muslimischen Gefährten gewesen, dass die den Tod von mehr als 100 Leuten in Kauf genommen hatten, um ihren Kampfeswillen gegen die USA zu demonstrieren. Auf der anderen Seite waren seine deutschen Landsleute auf dem Polizeirevier und in der Untersuchungshaft auch nicht gerade zimperlich gewesen. Aber nach 24 Stunden hatten sie ihn frei lassen müssen, da ihm keine direkte Beteiligung am Anschlag nachgewiesen werden konnte. Ahmed und Jussuf waren noch am selben Abend bei ihm gewesen und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte er das Land verlassen. Robert wusste nicht, ob man ihn schon mit internationalem Haftbefehl suchte, aber es war anzunehmen. Es war nicht so, dass er die Berge der Anden nicht schön fand, aber er hätte zu gerne noch mal eine silbergraue Buche mit kupferfarbenem Herbstlaub gesehen, wie er sie von seinen Spaziergängen am Dresdner Elbhang kannte, oder einen Blick auf das Schrammsteinmassiv geworfen. Oder er hätte zu gern mal ein paar Worte Sächsisch gehört. Aber das war wohl nun vorbei.
Robert schüttelte den Kopf, als ob er sich von seinen Gedanken befreien wollte, wie es ein nasser Hund mit dem Regenwasser macht. Er nahm sein Handtuch und rubbelte sich den inzwischen gewaschenen Oberkörper und das Gesicht trocken und trabte zu seiner Hütte. Wie jeden Tag nahm er dann die aus Holz geschnitzte und mit Maislaub zusammengebundene Hacke, eine Kiepe für das Unkraut und eine Harke, die er erst gestern gebastelt hatte. Sein Weg führte ihn etwas bergan zu den Feldern. Im Erdnussfeld angekommen, musste er feststellen, dass ein Großteil der Pflanzen angeknabbert, einige sogar aufgefressen waren.
„Scheiße!“ fluchte er auf deutsch. Und kaum hatte er den Ausruf getan, so hörte er hinter sich auf spanisch fragen, was denn „Scheiße“ hieße. Toñita war ihm gefolgt. Eigentlich redete man im Dorf Quechua, die peruanische Indianersprache. Aber das verstand er noch weniger. So musste sich Robert also in spanisch verständigen, was die jungen Leute zumindest alle konnten, denn die waren im Unterschied zu en Alten alle auf einer Schule gewesen. So erläuterte er also Toñita in spanisch, dass sein Ausruf in Deutschland so gebraucht würde, wie in Peru „¡Carajo!“ und was es wörtlich übersetzt heißt. Während dessen hatte Toñita die Verursacher des Unheils entdeckt: Meerschweine. Als ob sie es gewusst hätte, dass sie ihn braucht, hatte sie einen Sack mit. Und ganz behände fing sie die Tiere ein um sie anschließend in den Sack zu stecken. Robert versuchte ihr zu helfen, fing jedoch keinen einzigen der Nager. So begann er also wieder zu jäten und harkte dann die von Unkraut befreiten Teile des Feldes. Toñita sah ihm wieder zu und meinte dann: „Du gehst mit Apu zärtlich um. Du wirst ein Freund werden von Apu.“
„So,“ antwortete Robert, „du glaubst also an Apus? Ich denke, ihr seid alle gute Christen?“
„Ja, Robert, das sind wir.“ entgegnete Toñita verwundert. „Hat der Pabst denn irgendwann gesagt, dass es keine Apus gäbe?“
Robert lachte und verneinte die Frage. „Aber das erste Gebot der Christen heißt doch: Du sollst keinen Gott haben neben mir.“
„Apus sind keine Götter,“ erklärte Toñita, „der Apu ist einfach... der Berg. Und du kannst Freund sein vom Berg oder nicht. Und der Berg ist groß, viel größer als du. Wenn du nicht sein Freund bist, dann... Früher oder später zeigt Apu es dir, dass er stärker ist, als du. Aber du nimmst nicht die Hacke. Du hast ein Gerät gebastelt: zärtlich, wie ein Kamm. Ich glaube, das gefällt Apu.“
Mit diesen Worten schnappte sich Toñita den zappelnden Meerschweinsack und ging wieder Richtung Dorf.
Es war Januar und die Sonne brannte erbarmungslos. Aber inzwischen war Robert auch das gewöhnt. Er war brauner, als er es je im Urlaub auf Mallorca oder in Andalusien geworden war. So hatte er also wieder ein ganzes Stück Feld gepflegt und gegossen, als es Abend wurde und er zu seiner Hütte ging. Wie immer war er total erschöpft und legte sich erst einmal auf seine Liege, ehe er sich das Abendbrot machen wollte. So tat er das jeden Abend. Heute aber hatte Robert es sich gerade bequem gemacht, als es klopfte. Er öffnete die Tür und Toñita stand davor mir einem großen Blech, worauf vier knusprige Braten lagen, die Robert an Broiler erinnerten.
„Das ist aber eine Freude!“ begrüßte er die Frau, „Komm rein, Toñita!“
„Ich habe die Teufelchen mit Nüssen gefüllt und gut gewürzt.“ erzählte sie, „wir haben sie doch zusammen gefangen, also können wir sie zusammen essen. Du hast doch nichts dagegen?“
„Nein, das war eine gute Idee,“ meinte Robert, während er im Schrank kramte, „aber wir haben sie doch nicht gemeinsam gefangen. Ich bin doch viel zu langsam dafür.“
Robert brachte drei Haushaltkerzen made in GDR heraus und zündete sie an. Er befestigte sie mit Wachs am Tisch neben den Blech mit den Meerschweinchen. Dann rückte er den Tisch an seine Liege und deutete Toñita an, sich neben ihn dorthin zu setzen. Kaum saßen sie, wollte Robert schon mit dem Essen beginnen. Aber Toñita sah ihn von der Seite so an, dass er es sich anders überlegte. Ihre Gesichter kamen sich sehr nahe. Robert legte ganz sanft seine Arme um Toñita und ihre Münder fanden sich zu einem innigen Kuss.
„Ich glaube, „ sagte Robert danach, „Peru fängt mir langsam an, zu gefallen.“
 



 
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