Tom und die andere Seite -Sirhan-

Larry Palmer

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Tom und die andere Seite
-Sirhan-​

In Die andere Seite lernt Tom mehr von den Dingen, die für viele Menschen unsichtbar und verborgen sind. Tom entdeckt seine seherischen Fähigkeiten und beginnt zu verstehen, dass da mehr zwischen Himmel und Erde ist, als er mit bloßem Auge sehen kann.

Für Tom ist diese Bewusstseinserweiterung ein schmerzhafter Prozess, denn es gibt niemanden dem er sich anvertrauen könnte.
Wer würde ihm glauben?


Sirhan

Eine unsichtbare Stimme bohrte sich mit großer Macht in Toms Unterbewusstsein. Sirhan, Sirhan, Sirhan!!!
Tom fuhr gerade mit hoher Geschwindigkeit auf der alten Kirchberger Straße, die hinunter nach Sohren führte. Er trat wie wild in die Pedale seines Fahrrades und der Fahrtwind zerrte an seinen Haaren.
Sirhan!! Sirhan!! Sirhan!!! Die Stimme wurde lauter, drängender. Tom bemerkte nicht, dass er langsam das Bewusstsein verlor. Sirhan!!! Sirhan!!! Sirhan!!! Die scharfe Rechtskurve kam rasend schnell näher doch Tom sah und hörte nichts mehr. Wie von Geisterhand geführt, legte er sich jedoch rechtzeitig auf die Seite und folgte dem Verlauf der Kurve, ohne das er geradeaus gegen die mächtige Birke am Straßenrand knallte.
Am Kurvenausgang musste sich Tom den Gesetzen der Physik allerdings beugen. Noch immer in starker Schräglage, unternahm er nichts mehr sein Fahrrad aufzurichten. Tom stürzte um, schlug heftig auf dem Teer der Straße auf und rutschte, unter seinem Fahrrad liegend, circa 30 Meter über die Straße. Schlidderte in den Graben neben der Straße und kam schließlich, nur wenige Zentimeter vor dem Ortsschild, zum liegen. Der Sohrener Friedhof lag 20 Meter zu seiner rechten. Tom spürte nichts von dem was geschah, er hörte nur immer wieder diese fremde Stimme. Sirhan!!! Sirhan!!!
Immer wieder Sirhan.
Er blieb einige Minuten benommen liegen und kam nur allmählich wieder zu sich. In den schwarzen Mantel der Ohnmacht drang der erste schwache Lichtstrahl und die Erkenntnis, schwer gestürzt zu sein. Geräusche drangen wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Tom verstand nicht was mit ihm geschehen war und hatte die Orientierung verloren. Sirhan! Sirhan! Sirhan!! Raunte es noch immer in seinem Kopf und er schloss seine Augen, um Kraft zu schöpfen.
„Hey, are you okay?“ Ein 1965er Ford Mercury hatte neben Tom gehalten. Die Fahrerin des Wagens hatte Toms Sturz mit angesehen und erschrocken sofort auf die Bremse getreten, als Tom an ihrem Wagen vorbei geschliddert war. Im Fond des Wagens drückten sich zwei Kinder an den Seitenscheiben die Nasen platt. Sirhan! Sirhan! Sirhan!!! . Erneut bildete sich in Toms Kopf ein Strudel, der ihn in die Tiefe reißen wollte. Tom aber widersetzte sich diesem Sog nun vehement. „ARE YOU ALRIGHT!?“ Wie durch Watte drang diese Stimme laut und doch warm und fürsorglich an sein Ohr. Eine Hand legte sich sanft auf seine Schulter. Debbie, so hieß die Amerikanerin, war besorgt aus ihrem Wagen ausgestiegen als Tom nach dem Sturz wie tot liegen geblieben war. „Yes Madam.“ Toms Stimme versagte. Nachdem er ein paar Mal tief durchgeatmet hatte antwortete er: „ I think so, thank you.“ Die Konversation mit Debbie half ihm den Bann zu brechen, die Stimme in seinem Kopfe verhallte.
Tom lag unter seinem Fahrrad und konnte sich kaum bewegen. Debbie stieg in den Graben und hob das Rad etwas an, so dass er darunter hervor klettern konnte.
Toms Bewusstsein klärte sich endgültig, als er wieder auf seinen Beinen stand. Er führte seine allseits bekannte Prozedur durch,
„Arme?“ „OK!“ „Beine?“ „OK!“ „Kopf.., noch dran.“ „Autsch, das tut weh!“
Tom griff an seine rechte Hüfte und ein messerscharfer Schmerz durchfuhr seinen Unterkörper. „Verdammt, dieses Mal habe ich tatsächlich was abgekriegt!“ Doch der Schmerz begann bereits wieder etwas nachzulassen.
„Das hätte schlimm enden können.“ Debbie sprach hervorragend Deutsch. Sie hatte schnell bemerkt, dass Toms Englischkenntnisse nicht die besten waren. Tom erfuhr, dass Debbies Mann auf der Air-Base im Tower als Fluglotse beschäftigt war. Sie war gerade auf dem Weg ihn abzuholen. „Du kamst angerauscht wie ein Starfighter im Low Level Flight“, sagte sie und lachte auf eine Art und Weise die Tom sehr gefiel.
„So, Tom ich muss weiterfahren. Bist du sicher, dass es Dir gut geht oder soll ich Dich nach Hause bringen?“
Sie kümmerte sich rührend um Tom, dem das alles schrecklich peinlich war. Ihm gefiel Debbies Art. „Ich bin okay, Debbie. Vielen Dank für ihre Hilfe.“
„Na gut mein Lieber, vielleicht sehen wir uns mal wieder.“
„Oh ja, Debbie das währe schön.“ Die beiden verabschiedeten sich und Tom setzte seinen Weg ins Dorf fort, es war nicht mehr weit.
„Was wollte ich hier eigentlich?“, fragte sich Tom, als er den zentralen Platz des Dorfes, der Backes genannt wird, erreicht hatte. Er wusste es nicht mehr, und es sollte ihm auch nicht mehr einfallen.
Tom hielt an und machte sich daran sein Fahrrad zu überprüfen. Irgendetwas stimmte nicht mit den Pedalen.
„Hupe... Okay, Tacho?... Okay, Licht?....Okay.“ Soweit so gut, „aber das Pedal kann ich nicht allein reparieren.“ Erst jetzt realisierte Tom, mit welcher Wucht er auf der Straße aufgeschlagen war. Das rechte Pedal, immerhin aus massivem Stahl gefertigt, wurde durch den Aufprall so verbogen, dass es am hinteren Rahmen des Fahrrades anschlug. Bei jeder Umdrehung der Kurbel machte es >Tack<. „Das Ding brauch ich neu.“
Seine rechte Körperhälfte schmerzte und Tom zog den Pulli hoch, um nachzuschauen was da los war. „Verdammt, das gibt Ärger!“
Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Ab dem rechten Rippenbogen abwärts bis zum Hüftknochen, war die Haut großflächig aufgerissen und blutete sehr stark. „Wie soll ich das meiner Mutter erklären?“ Nun kam auch der Schmerz wieder zurück. Heiß und brennend strahlte er vom Bauch bis in die Beine. Und, wer oder was war Sirhan? Tom verstand nicht was dass soeben passierte zu bedeuten hatte.
Warum er, aus heiterem Himmel, ohnmächtig wurde. Und dann diese Stimme, die sich zunächst leise flüsternd, kurz vor seinem Sturz jedoch regelrecht brüllend, heimtückisch in seine Gedanken bohrte. Tom versuchte den Ablauf der Geschehnisse zurück zu verfolgen, aber sein Erinnerungsvermögen ließ ihn im Stich. Er konnte sich nicht mehr an die vergangen zehn Minuten erinnern, alles lag im Dunkeln. Tom war intelligent, und er konnte manchmal unheimliche Fragen stellen. So brachte er einmal den Rektor seiner Schule, Herrn Göbel in arge Bedrängnis als er ihn fragte, warum Pfürze stinken. Er bekam keine Antwort.
„Gut, also von vorne“, dachte er und konzentrierte sich. In seinen Gedanken formten sich Bilder. Er sah das Haus in dem er wohnte und sein Fahrrad stand davor. In der nächsten Szene sah er sich die Holztreppe vom ersten Stockwerk nach unten ins Erdgeschoß laufen.
Er erreichte die Haustür, öffnete sie und verließ das Haus.
Dann sah er sich zu seinem Fahrrad laufen, stieg auf und fuhr los. Die Erinnerung an die folgende Minute fehlte gänzlich. Tom konnte sich lediglich an die verhängnisvolle Stimme in seinem Kopf erinnern und daran, dass er im Straßengraben wieder aufwachte.
Jetzt, da er darüber nachdachte viel Tom allerdings etwas sehr sonderbares auf.
Als er losgefahren war, hatte sich etwas verändert. Das Gras der Wiesen war nicht grün gewesen, alles hatte die Farbe verloren. Merkwürdig milchig sahen die Bäume aus ja, sogar der Teer Straße hatte seine Farbe verloren. Alles hatte ausgesehen wie in Nebel gehüllt.
„Das glaubt mir kein Mensch“. Jetzt wurde Tom ärgerlich. Er wusste nicht wie er seine Verletzung und das demolierte Fahrrad seiner Mutter erklären sollte. Sie hatte ihm verboten zu lügen. „Wer einmal lügt dem glaubt man nicht, auch wenn er mal die Wahrheit spricht“, hatte sie zu ihm gesagt. Er befand sich in einer echten Zwickmühle. „Wie war das noch mit Recht und Unrecht gewesen!?“, dachte Tom. Und dann war da noch dieser Vorfall mit dem Mond gewesen. Da hatte Tom auch die Wahrheit gesagt, aber niemand hatte ihm geglaubt.
Dieses Erlebnis lag zwei Jahre zurück. Es war ein Tag im Herbst gewesen.
Sein Vater musste an diesem Tag nicht zur Arbeit und spielte mit Pascha, ihrem Schäferhund unten vor dem Haus auf der Wiese. Tom war zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt, und befand sich bei seiner Mutter in der Küche die ihm ein riesiges Brötchen mit Salami zubereitete. Tom liebte riesige Brötchen mit Salami.
„So, Tom hier ist dein Brötchen. Papa ist unten.“
Tom schnappte sich das Brötchen und rannte, wie immer, die Treppe nach unten um seinen Vater zu suchen. Kaum hatte Tom das Haus verlassen wurde er bereits von Pascha entdeckt und überschwänglich begrüßt. Pascha sprang an Tom hoch und leckte ihm erst einmal kräftig durch das Gesicht. Die beiden hüpften herum, Tom lachte laut und Pascha jaulte vor lauter Freude.
Doch plötzlich blieb Tom wie angewurzelt stehen. Pascha ließ sofort von ihm ab, zog den Schwanz ein und rannte zu Toms Vater der sich Tom von hinten näherte, aber noch einige Meter entfernt war.
Tom rührte sich nicht mehr.
Tom sah Etwas. Etwas so phantastisches wie er es nie zuvor gesehen hatte. Er befand sich in einer anderen Welt. In dieser Welt gab es keine Wiesen und Bäume mehr, auch sein Vater und Pascha, das Haus, alles war verschwunden. In dieser Welt stand Tom auf einem kleinen Hügel, und um ihn herum war nur milchiges Weiß. Hier gab es keine Konturen und auch keine Farben mehr. Bis zum Horizont reichte dieses unheimliche, milchige Weiß. Die Topographie allerdings hatte sich nicht verändert. Die sanften Hügel die Tom kannte, waren nicht verschwunden, aber sie sahen alle so trostlos und nackt aus. Und dann sah Tom den Mond. Der Mond war riesig, bestimmt zwanzigmal größer als der Vollmond den er kannte. Und dieser Mond glühte, seine Oberfläche kochte. Tom konnte riesige Krater auf der Oberfläche dieses Mondes erkennen. Ein Meteorit stürzte auf den Mond, und glühendes Gestein spritzte weit in den Weltraum. Tom drehte sich zu seinem Vater um. „Hast du das gesehen!?“, fragte er seinen Vater. „Was gesehen, Tom?“ „Na, den Mond!“ Tom deutete auf die Stelle am Himmel. „Weg?“ Alles war wie vorher. Der glühende Mond, der Nebel, alles war verschwunden. Tom erklärte seinem Vater bis ins Detail was er gesehen hatte. Der hatte den glühenden Mond jedoch nicht gesehen, und schaute Tom verständnislos an. Tom war traurig, weil sein Vater offensichtlich nicht verstand wovon er sprach. Es gab allerdings einen unumstößlichen Beweis dafür, dass er die Wahrheit gesagt hatte: Pascha traute sich auch mehrere Stunden nach diesem Vorfall nicht in Toms Nähe und wirkte nervös.
Tja, Tom hatte ein Problem. In dieser Situation die Wahrheit zu sagen wäre nicht klug gewesen. Seine Mutter würde ihn wohl sofort in eine Nervenklinik einweisen lassen, so absurd musste sich Toms Erlebnis für Sie anhören.
Tom konnte Sie schon sagen hören „Herr Doktor, mein Sohn hört Stimmen...!“
„Nein!“, sagte Tom wütend, „so geht das nicht!“ Also musste er sich eine Geschichte einfallen lassen.
„Ich sage einfach, ein Lastwagen hätte mich so erschreckt, dass ich in den Graben gefahren bin.“ Tom war nun zufrieden, diese erfundene Begründung für seine Verletzung und das defekte Fahrrad, würden ihren Fragen standhalten.
„Aber was wollte ich im Dorf?“ Es viel Tom nicht mehr ein, außerdem hatte er Schmerzen. Also machte Tom sich auf den Rückweg nach Hause. Tom musste nun sein Fahrrad schieben, und jeder Schritt tat Ihm weh. Er benutzte den >Alten Weg<, einen Feldweg, auf dem nur Traktoren fuhren. Während er so marschierte dachte er immer wieder über Sirhan nach. Tom hatte diesem Namen noch nie gehört, und konnte ihn nirgendwo in seiner Erinnerung einordnen. Wenig später war Tom zu Hause angekommen.
Nachdem er sein Fahrrad abgestellt hatte, ging er sofort zu seiner Mutter, um ihr seine Verletzung zu zeigen. „Du Mama, ich bin hingefallen“ sagte er völlig ohne Emotionen.
„Was ist denn passiert, Tom?“ Wollte sie postwendend von ihrem Sohn wissen.
„Vorhin, als ich ins Dorf gefahren bin, war so ein großer Laster hinter mir. Ich habe mich so erschrocken, dass ich in den Graben gefahren bin“
„Hast du dir wehgetan?“
Statt zu antworten zog Tom seinen Pulli hoch und zeigte Linda seine Verletzung.
„Um Gottes Willen, Tom. Das sieht schlimm aus, du gehst am besten sofort zu Doktor Harmstorf!“ Sie war wirklich erschrocken und wurde aschfahl im Gesicht.
„Nein, Mama. Das ist nicht so schlimm!“ versuchte Tom abzuwiegeln. Er hatte keine Lust erneut ins Dorf gehen zu müssen. „Ich bestehe darauf!“ Linda blieb dabei, es gab keine weitere Diskussion. Sie ging zum Schreibtisch und zückte einen Krankenschein in dem sie Toms Daten eintrug. „So, hier ist der Krankenschein. Du gehst jetzt zu Doktor Harmstorf, und lässt dich untersuchen. Bitte, Tom geh zum Arzt, und halte dich nicht unnötig woanders auf!“ Linda war besorgt. „Ja, ja Mama, ich gehe ja schon.“ Tom rollte mit den Augen. „Ach übrigens, Mama das Fahrrad ist kaputt. Ich brauche ein neues Pedal.“ „Hier hast du zwanzig Mark, Tom. Kauf dir die Teile, die du zur Reparatur benötigst, aber gehe zuerst zum Doktor!“ „Versprochen“, erwiderte Tom, der sich freute, dass Linda keine große Diskussion wegen des Geldes mit ihm begann. „Du musst los, Tom, der Doktor beendet seine Sprechstunde in dreißig Minuten!“ „Bin schon weg!“
Tom setzte sich auf sein Fahrrad und fuhr langsam los. „Tack... Tack...Tack...“ „Gleich geht es bergab, dann hört das nervige Tacken auf.“ Tom dachte bereits an die bevorstehende Reparatur seines Rades und überlegte was er alles kaufen musste.
Zehn Minuten später erreichte er die Praxis und ging in das leere Wartezimmer. „Na, Tom was machst du denn hier?“, wurde er von Frau Pöhl, der Sprechstundenhilfe gefragt. „Ich bin mit dem Fahrrad gestürzt und Mama hat gesagt, dass der Doktor sich das mal anschauen soll“ sagte Tom, nachdem er Frau Pöhl den Krankenschein übergeben hatte. „In Ordnung, Tom. Der Doktor hat gleich Zeit für dich. Ah, da kommt er schon.“ „Hallo, Tom was machst du denn hier, du bist doch nicht etwa krank?“ „Nein, ich bin mit dem Fahrrad gestürzt und habe mir wehgetan.“ Na komm, lass uns in das Behandlungszimmer gehen.“ „Es riecht hier so komisch“, bemerkte Tom. „Das ist das Desinfektionsmittel, Tom. Das riecht so. So, lass mal sehen was dir fehlt.“ Tom wollte wiederum seinen Pulli nach oben ziehen, aber das ging nicht mehr, der Stoff hatte sich mittlerweile in der Wunde verklebt. „Geht nicht mehr!“ sagte Tom trocken. „Das haben wir gleich“, sagte Doktor Harmstorf und holte destilliertes Wasser.
Nachdem der Doktor die verklebte Stelle des Pullis angefeuchtet hatte, zog er den Stoff vorsichtig aus der Wunde. Tom presste die Luft aus den Lungen, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Weiß traten die Knöchel aus der Haut hervor. „AUAAA!“, stöhnte er. „Ich weiß mein Junge, das tut weh, aber es muss sein. Du hältst dich ganz tapfer!“ Tom fühlte sich, als würde Ihm die Haut abgezogen. „So geschafft. Du hast es überstanden, Tom. Sag mal, wie ist denn das passiert? Du hast dich ganz schön verletzt!“ Tom überlegte ob er Doktor Harmstorf die Sache mit Sirhan erzählen sollte. Immerhin war er eine Person, der man Vertrauen konnte. Auf der anderen Seite konnte ein Arzt wie er, Toms Weg ins Irrenhaus ganz erheblich verkürzen. Tom entschied sich die Geschichte mit dem Lastwagen zu erzählen.
„Hast du das Nummernschild erkennen können?“ „Nein, ich lag doch im Graben und der Laster fuhr einfach weiter“ Doktor Harmstorf reinigte Toms Wunde und legte einen Verband an. „Fährt einfach weiter, gibt’s denn so etwas!“
„So fertig, Tom der Verband hält erst einmal. Und jetzt..., wann wurdest du denn zuletzt gegen Wundstarrkrampf geimpft?“ „Das weiß ich nicht, warum?“ Tom ahnte bereits, worauf der Doktor hinaus wollte. „Nun, weil bestimmt Schmutz in deine Wunde gekommen ist, und weil du dadurch sehr, sehr krank werden kannst!“ „Also eine Spritze!“ Tom bekam weiche Knie. „Ja mein Lieber, aber Ich verspreche dir, dass es nicht weh tun wird“ Doktor Harmstorf zog bereits die Spritze auf. „Tom, bitte zieh die Hose runter!“ Tom tat wie Ihm geheißen und im nächsten Moment pikste es auf seiner rechten Po-Hälfte. „So fertig, Tom das war es schon. Hat doch nicht wehgetan oder?“ „Nein!“ sagte Tom und zog sich die Hose wieder hoch.
Tom bekam noch einige Tipps vom Doktor wie er mit dem Verband umzugehen hatte, und konnte dann gehen. Sein Po schmerzte. „Tut bestimmt nicht weh!“ äffte er den Doktor nach. „Und wie das weh tut, jetzt schmerzt nicht nur Mein Bauch, jetzt brennt auch noch mein Arsch wie Feuer!“ Tom brummelte verstimmt vor sich hin.
Sein nächster Weg führte ihn zum Fahrradgeschäft, wo er sich ein neues Pedal für sein Fahrrad besorgen wollte. Tom betrat den kleinen Laden und wurde freundlich von Herrn Schmeckebier, dem Inhaber begrüßt. „Hallo, Tom. Na wie geht’s? Du humpelst ja, ist was passiert?“ „Ich brauche ein neues Pedal, das alte ist verbogen.“ „Bist hingefallen was, na lass mal sehen. Wo steht dein Rad?“ „Der riecht wieder wie ein Schnapsladen.“ Tom verzog die Nase, als ihm der Alkoholgeruch, den Herr Schmeckebier ausdünstete, entgegenfuhr. Herr Schmeckebier, der Name war reiner Zufall, trank viel und gerne. Meistens Schnäpse, im Prinzip jedoch jedes Getränk welches Alkohol enthielt.
Die beiden verließen den Laden und Tom zeigte Herrn Schmeckebier sein Fahrrad. „Mein lieber Freund, wie hast Du denn das hingekriegt?“ Tom erzählte seine Geschichte nun zum dritten Mal. „Na, das haben wir gleich!“ Herr Schmeckebier griff sich Toms Rad und schob es in seinen Laden um das Pedal auszuwechseln.
Tom freute sich über diese Geste, denn Werkzeug hatte Herr Schmeckebier in Massen. Hätte Tom geahnt, in welchem Fiasko diese Reparatur endete, hätte er schleunigst das Weite gesucht. So aber...
„So, mal sehen, ah Sechser Maulschlüssel!“ Herr Schmeckebier kniete vor Toms Fahrrad um sich anzusehen, welches Werkzeug er brauchen würde. „Und einen Dorn, um den Splint raus zuschlagen!“ Er stand unsicher auf und ging in den hinteren Teil des Ladens um das Werkzeug zu holen. Tom schaute Herrn Schmeckebier interessiert zu. Es rappelte und klapperte als Herr Schmeckebier diverse Kisten und Kartons nach dem Werkzeug durchsuchte. Schließlich kam er zurück und kniete sich erneut vor Toms Rad. Herr Schmeckebier setzte den Maulschlüssel an und drehte kräftig an der Schraube. „Herr Schmeckebier, das ist Falschrum..“ warnte Tom noch. Aber es war bereits zu spät. Die Schraube, die den Splint hielt, wurde von Herrn Schmeckebier schonungslos abgerissen. „Und jetzt?“ fragte Tom zweifelnd. „Haben wir gleich!“ sagte Herr Schmeckebier von sich überzeugt und setzte den Dorn an den Splint, um diesen aus der Pedalhalterung zu schlagen. Herr Schmeckebier griff sich den Hammer und schlug auf den Dorn. „Peng!“ Toms Fahrrad erzitterte, doch der Splint rührte sich nicht. „Aha, Zicken machen willst Du.“ Herr Schmeckebier sprach mit Toms Rad. „Na warte!“ zornig setzte Herr Schmeckebier den Dorn erneut an den Splint und schlug, diesmal mit roher Gewalt, zu. „Peng!!!“ Der Splint flog davon und der Hammer knallte ungebremst auf Herrn Schmeckebiers rechtes Knie. Der fiel vor Schreck auf seinen Hintern. „Ah, verdammt, du und dein blödes Fahrrad. Hier mach es selbst!“ Er reichte Tom den Hammer. „Haben Sie sich sehr weh getan Herr Schmeckebier?“ fragte Tom besorgt. „Es geht schon mein Junge, ist nicht so schlimm“ Herr Schmeckebier versuchte mühsam auf die Beine zu kommen. Dabei hielt er sich an Toms Fahrrad fest, das prompt umschlug, und ihn unter sich begrub. Durch den Aufschlag verklemmte sich der Schalter der elektrischen Hupe die Tom montiert hatte, und trötete los.
Herr Schmeckebier verlor nun endgültig die Fassung, „...Herrgott..., zum Teufel noch eins..., Ahhhhh! Tom, bitte hilf mir. Zieh das Fahrrad hoch und bitte..., stell die gottverdammte Hupe ab!“ Tom zog das Fahrrad hoch und stellte es wieder auf den Ständer. Dann löste er den verklemmten Schalter der Hupe, und es wurde still in dem kleinen Laden, nur Herr Schmeckebier stöhnte leise. „Ich brauche jetzt einen Schluck. Tom, bitte geh hinter den Tresen, gleich vorne steht eine braune Flasche, bring sie mir.“ Tom holte die Flasche. „Schinkenhäger“ stand auf dem Etikett. Nachdem Herr Schmeckebier einen tiefen Schluck aus der Flasche genommen hatte, rappelte er sich auf und stellte sich schwankend vor Toms Rad.
„So, Tom komm wir machen weiter“ Tom wäre am liebsten abgehauen, aber er blieb, ohne sein Fahrrad wollte er nicht gehen. Erneut setzte Herr Schmeckebier den Hammer ein. Diesmal jedoch langsam und sehr, sehr vorsichtig. Das Pedal löste sich leicht von der Kurbel und Herr Schmeckebier nickte zufrieden. „So, Tom gleich kannst du wieder losfahren.“ Und tatsächlich, die Montage des neuen Pedals dauerte nur wenige Minuten. „Na, wie habe ich das gemacht, Tom?“ fragte er und rieb sich das schmerzende Knie. „Gut!“ bestätigte Tom ehrlich. Aber Tom wollte jetzt so schnell wie möglich raus aus dem Laden, er hatte genug.
„Was kostet das, Herr Schmeckebier?“ „Tja, mal sehen, Tom. Ein Pedal..., achtmarkdreißig und der Splint.., dreißig Pfennig. Das macht achtmarksechzig Tom.“ Tom zahlte und versäumte nicht sich für Herrn Schmeckebiers Hilfe zu bedanken. Dann verließ er das Geschäft und schwang sich auf sein Rad. „Autsch!“ Seinen schmerzenden Po hatte er ganz vergessen. Sein Fahrrad jedenfalls, war wieder ganz in Ordnung. Zufrieden machte er sich auf den Heimweg.

„Na Tom, wie war es bei Doktor Harmstorf?“ Tom war gerade zu Hause angekommen und Linda wollte natürlich sofort wissen, wie schlimm seine Verletzung wirklich war. „Der Doktor hat mir eine Megastuss..., äh..., Tetanusspritze gegeben Mama, und er hat mich verbunden, war nicht so schlimm.“ „Und dein Fahrrad?“ „Ist auch wieder in Ordnung, Herr Schmeckebier hat mir bei der Reparatur geholfen.“ „So, Herr Schmeckebier half Dir also. Hat er sich dabei verletzt?“ „Kaum, Mama. Hier ist das restliche Geld. Was gibt es denn zu essen?“ Tom hatte Hunger, immerhin war es schon 17.30 Uhr geworden. „Wie wäre es mit Ravioli, Tom?“ „Oh ja, gerne“, sagte Tom und schaltete den Fernseher ein.
„Die Wahlkampagne von Senator Robert F. Kennedy ist in vollem Gang. Gestern besuchte Senator Kennedy die Bundesstaaten Massechusets und Oregon. Die Wahlveranstaltungen verliefen ohne Zwischenfälle“
Nachrichten interessierten Tom nicht sehr, er schaltete daher um auf das zweite Programm. „Ah, Flipper, sehr gut!“ Tom liebte den Delphin, der gerade übermütig aus dem Wasser sprang und sich zurück fallen ließ.
Tom machte es sich auf der Couch bequem. „Autsch!“ Seine Verletzung hatte er bereits total vergessen. Mit dem Schmerz kam die Erinnerung. „Wer oder was ist Sirhan?“, fragte sich Tom erneut. „Vielleicht...“
Tom stand vorsichtig auf und ging zum Bücherregal. Er suchte das große Lexikon, möglicherweise hatte das Buch eine Antwort parat. „Okay, mal sehen..., Siamesische Zwillinge..., Sinan..., Sirene..., Sirius...?“
Tom konnte den Begriff Sirhan im Lexikon nicht finden. „Was suchst du denn Tom?“ „Ach nichts Mama, mir ist langweilig und ich wollte etwas lesen aber das Lexikon ist schon zu alt“
Tom legte sich wieder auf die Couch. „Wie finde ich heraus, was oder wer Sirhan ist?“ Tom vielen die Augen zu, dieser Tag war sehr anstrengend für ihn geworden. Tief in seinem inneren spürte er dass sich etwas unheimliches, unbegreifliches auf ihn zu bewegte. Tom aber war noch viel zu jung um zu erkennen dass sich sein Leben von diesem Tage an grundlegend ändern sollte.
Er viel in einen unruhigen Schlaf und träumte lebhaft. Immer wieder erschien ein Gesicht in seinem Traum. Ein Mann schaute ihn aus traurigen Augen vorwurfsvoll an.
Die geheimnisvolle Person streckte die Hand nach Tom aus, berührte ihn an der Wange. Tom schreckte hoch „Nein...!“ Noch benommen erkannte Tom, dass er aus einem Alptraum aufgewacht war. „Oh Mann“, stöhnte er gequält. Tom erhob sich. Er fühlte sich unruhig, und wollte irgendetwas tun, dass ihn ablenken würde. „Mama, ist das Essen fertig?“ „Schon eine ganze Weile, Tom. Aber du hast so tief geschlafen, dass ich nicht wecken wollte.“ Wieder sah Tom das Gesicht aus seinem Traum. „Das Gesicht kenne ich... aber woher nur?“ Er setzte sich an den Küchentisch und Linda servierte ihm eine beeindruckende Portion Ravioli. „Was ist mit dir, Tom. Hast du Schmerzen? Du bist so still“ „Ach nichts, Mama mir geht es gut“ sagte Tom nachdenklich. Er hatte selbst keine Ahnung was mit ihm los war, aber er spürte deutlich das ein schreckliches Ereignis seine Schatten voraus warf.
Er aß ohne Appetit. Linda sah Tom besorgt an und begann sich nun ernsthaft Sorgen zu machen. „Junge, was ist mit Dir? Hast du etwas angestellt und jetzt Angst darüber zu sprechen...?“ „Nein, Mama ist alles Okay. Ich weiß auch nicht was los ist. Ich gehe spielen.“ Tom wollte Ruhe haben. In seinem Kopf lief alles durcheinander. Wie gerne hätte er seiner Mutter von Sirhan erzählt. Aber er traute sich nicht.
Tom griff sich sein kleines Transistorradio, und wandte sich zum gehen. „Bleib nicht so lange weg, Tom, es wird um 21.00 Uhr schon dunkel!“ „Alles klar, Mama! Komm, Pascha wir gehen in den Wald!“ Pascha ließ sich das nicht zweimal sagen. Laut bellend raste er die Treppe runter und wartete vor der Haustür, wild mit dem Schwanz wedelnd, auf Tom. Auch Pascha spürte dass sein Tom nicht in Ordnung war. Er hielt sich dicht bei ihm und gehorchte aufs Wort.
Tom verließ das Haus, schaute sich um und erneut fiel ihm auf wie schön es hier war. Tom liebte Bäume und davon gab es hier viele. Apfel, Kirsche, Sauerkirsche, Mirabelle, Pfirsich und Birnbäume. Und am alten Weg, nur 50 Meter entfernt, stand die alte Weide in deren Krone sich Tom und Wolli ein kleines Baumhaus eingerichtet hatten. Es roch intensiv nach frischem Heu, die Bauern hatten die Wiesen frisch gemäht. Tief sog Tom den Geruch des Heus durch die Nase ein. „Autsch! Pascha ist ja gut, wir gehen ja schon!“ Pascha hatte sich in Toms linken Schuh verbissen und knurrte verspielt. Paschas ganz spezielle Aufforderung an Tom, endlich los zu marschieren.
Er hatte sich vorgenommen in den Wald zu gehen. Dort hoffte er die Ruhe und Geborgenheit zu finden die er jetzt brauchte. Er wollte auf seine Lieblingstanne steigen und sich den Wind durch die Haare fahren lassen. Die Einsamkeit, dort oben in der höchsten Spitze des Baumes, würde seine Gedanken klären. Dass hoffte er jedenfalls. „Na, Pascha alles klar?“ „Wuff!“ „Na dann los!“ Die beiden machten sich auf den Weg. Ein Weg von ungefähr zwei Kilometern. Tom beeilte sich den kleinen Hügel hoch zu gehen und konnte schon fünf Minuten später den Wald sehen. Hier bot sich eine tolle Sicht. Ein sanftes Tal lag nun vor Ihm, auf dessen gegenüber liegenden Seite der Wald lag. Weit hinten am Horizont konnte er die höchste Erhebung des Hunsrücks, den Erbeskopf, erkennen.
Bis zum Wald hatte er noch ein gutes Stück zu gehen und um sich die Zeit, während des Marsches zu vertreiben, schaltete er sein kleines Radio ein. „... are you trying, to blow my mind. One way wind, one way wind is this all that I hope to find?“ Als Tom dieses Lied hörte, musste er anfangen zu weinen. Tom konnte nicht sehr gut Englisch aber er verstand sofort, was dieser Text für ihn bedeutete. Tom beschleunigte seine Schritte und ging immer schneller. Dieses Lied trieb ihn an.
Einen Schritt vor den anderen, immer schneller und schneller ging Tom. Noch schneller. Schließlich rannte Tom so schnell er konnte. Er sah und hörte nichts mehr -, nur dieses Lied das aus seinem kleinen Radio klang. „One way wind...“ Pascha spürte Toms plötzliche Veränderung und hielt sich ganz dicht bei Tom. Sichernd schaute er sich um und begann leise zu knurren. Auf eine geheimnisvolle Art und Weise, verstand Pascha was in Tom vorging. Tom weinte - dicke Tränen liefen an seinen Wangen hinunter. Er schluchzte ohne Hemmungen. Er fühlte sich einsam und allein. Dennoch spürte er tief in seiner Seele, eine starke Kraft aufsteigen. Eine Kraft, die wild und gefährlich war. Eine unbekannte Macht bereitete sich darauf vor, hervorzubrechen.


Die andere Seite

Unvermittelt blieb Tom stehen. Pascha war überrascht und lief noch einige Meter weiter, blieb dann jedoch ebenfalls stehen, kehrte zu Tom zurück, und setzte sich brav zu Toms Füßen hin. Tom stand wie versteinert da, er hörte nur noch die Musik aus seinem kleinen Radio. In Toms Gedanken formierten sich Bilder aus der Vergangenheit. Bilder, die er tief in seiner Seele vergraben hatte weil sie ihn zu sehr schmerzten. Bilder voller Grauen für eine solch junge Seele wie Tom eine war.
Er sah den Vogel, einen jungen Sperling, in dem Apfelbaum vor dem Haus oben in der Krone auf einem dünnen Zweig sitzen. Er sah die Steinschleuder in seiner linken Hand und wie sie sich langsam nach oben streckte, den Sperling ins Ziel nahm. Der Sperling lag jetzt genau im Ziel. Hätte Tom nun den Stein auf die Reise geschickt wäre der Sperling voll getroffen worden. Aber Tom wollte nicht töten. Er zog die kräftigen Gummis seiner Schleuder weiter an und entließ den Sperling gleichzeitig aus dem Mittelpunkt seines Zieles. Er wollte den Spatz nur erschrecken. Der Stein den Tom im Leder seiner Schleuder hielt, sollte wenige Zentimeter neben dem Sperling den Ast auf dem er saß, treffen. „Dem Vogel passiert nichts!“ dachte Tom und öffnete Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. Ein Ruck ging durch die Steinschleuder, die Tom eigenhändig aus einer Astgabel angefertigt hatte, und der Stein ging auf die Reise sein Ziel zu treffen. Der Stein hatte die Schleuder noch nicht verlassen als eines der Gummis, die den Stein beschleunigten, zerriss...
Ursprünglich hatte Tom den Vogel treffen wollen, überlegte jedoch und kam zu dem Schluss, dass es überhaupt nichts bringen würde dieses Tier zu töten. Warum auch, dieser Sperling hatte niemandem etwas getan. Er lebte einfach und war ein wunderschönes Tier.
Der Sperling hatte keine Angst. Neugierig beobachtete er Tom und schien sich interessiert die Schleuder anzusehen, mit der er auf ihn zielte. Er spürte, dass von Tom keine Gefahr ausging, auch wenn der eine tödliche Waffe auf ihn gerichtet hielt. Aber der Gedanke zählt.
Toms ursprünglicher Gedanke war den Sperling zu treffen und so nahm das Schicksal, erneut, seinen Lauf.
Als eines der Gummis unter der starken Spannung zerriss bekam der Stein sofort einen anderen Drall. Seine Flugbahn wurde, nur ein wenig, abgelenkt. Das genügte. Der Sperling wurde unterhalb des linken Flügels voll getroffen und viel tödlich verletzt sofort zu Boden.
Erschrocken rannte Tom sofort zu dem Sperling hin, der nun zitternd und mit dem Tode ringend, im Gras lag, um ihm zu helfen. „Das wollte ich nicht kleiner Spatz, ich hab doch nur Spaß gemacht. Ich wollte Dich nicht treffen, aber das Gummi ist doch gerissen!“ Tom hob den Sperling auf und er spürte, dass der kleine Vogel im Sterben lag. „Bitte kleiner Vogel, ich hab das nicht gewollt..., bitte nicht sterben..., es tut mir so leid!!“ Tom hielt den Vogel in seiner rechten Hand. Der Sperling zitterte und Tom spürte die Angst und Verzweiflung des Tieres fast körperlich. Tom fühlte auch den kalten Hauch des Todes, der wie ein schwarzes Phantom heran jagte, um sich den Vogel zu holen. „Nein!!!“ Verzweifelt stellte sich Tom dem schwarzen Phantom entgegen. Der Sperling rang nach Luft und Tom musste verzweifelnd erkennen, dass er hier nichts mehr tun konnte. Der linke Flügel des kleinen Vogels war unter der Wucht des Geschosses zur Hälfte abgetrennt worden, der kleine Brustkorb rot von Blut. Tom viel auf die Knie als ihm bewusst wurde dass er soeben einen Mord begangen hatte. Einen Mord aus Übermut und grenzenloser Arroganz. Es spielte keine Rolle mehr, ob er den Sperling hatte treffen wollen oder nicht. Es spielte auch keine Rolle, dass ein Gummi seiner Schleuder riss. Der Sperling lag im Sterben, das allein zählte.

„Warum Tom? Ich habe Dir doch nichts getan!“ In den Augen des kleinen Vogels lag grenzenlose Angst. „Ich weiß doch kleiner Sperling, du hast mir nichts getan und es tut mir unendlich leid, dass der Stein dich getroffen hat. Ich werde niemals mehr in meinem Leben so etwas tun. Das schwöre ich dir, aber bitte - du darfst nicht sterben, ich wollte dich nicht verletzen!!“
„Zu spät Tom.. Du hast den Stein auf die Reise geschickt und damit mein Schicksal besiegelt. Ich bin doch noch so jung... und jetzt... muss ich sterben.“ „Nein!“ Tom fing an zu schreien und schaute verzweifelt zum Himmel auf. „Lieber Gott bitte, bitte... es tut mir Leid. Lass diesen kleinen Vogel nicht sterben bitte bitte. Glaub mir doch, ich wollte nicht...!“ Plötzlich lag der Sperling ruhig in Toms Hand, sein Zittern hatte aufgehört. „Nein... Nein... Neiiin. Bitte nicht!!!“ Das Herz des Sperlings schlug nicht mehr. Der Vogel war tot, und es gab nichts mehr, was Tom noch hätte tun können. Niemand auf dieser Welt konnte dieses kleine, zerstörte Leben reparieren. Tom begann zu schluchzen und dicke Tränen flossen seine Wangen herunter. Noch einmal öffnete der Sperling die Augen und sein Blick schien Tom zu sagen „Hoffentlich hast Du verstanden Tom!“ Dann schloss er für immer seine tiefblauen Augen.
In Tom zerbrach etwas. Den Sperling in der Hand haltend, suchte er nach einem Weg dies alles wieder ungeschehen zu machen. Aber da war kein Weg, da war nur ein toter Vogel den er in der Hand hielt. Vorsichtig schloss Tom seine Hand, er wollte den Sperling wärmen und beschützen. „Bitte, bitte kleiner Spatz, wach doch wieder auf, bitte verzeih mir!“ Verzweiflung stieg in Tom auf als er erkannte, dass all seine Bemühungen umsonst bleiben würden. Der Sperling war tot und alles Flehen war vergeblich. „Ahhhhhh!“ Tom schrie. Immer wieder. Er schrie sich sein Leid von der Seele. Aber niemand konnte ihn hören.

„Mörder!“ brüllte ihn eine Stimme plötzlich an. Eine Stimme, tief in seinem Herzen. „Du bist ein Mörder, Tom! Warum hast Du das getan!?“ „Ich weiß nicht... ich wollte doch nicht...!“ schluchzte Tom. „Er weiß es nicht, ach wie schrecklich, er wollte doch nicht!“ Lautlos sprach diese Stimme, und sie troff vor Hohn und Sarkasmus. „Es tut mir so Leid... “ „Zu spät dummer Junge. Diesen Vogel hast du auf dem Gewissen. Damit wirst du jetzt leben müssen!“
Hoffentlich hast du wenigstens verstanden was hier passiert ist, den tieferen Sinn von all dem! Dann war der Tod des kleinen Vogels wenigstens nicht völlig sinnlos!“ „Ja... “ hauchte Tom „Ich habe verstanden“ und mit der letzten Silbe formten sich Bilder in seinem Kopf. Er sah ein Vogelnest, dass zwei Sperlinge mühevoll in der Spitze eines Apfelbaumes angelegt hatten, wie sie ihre Brut voller Anstrengung fütterten. Später: Zwei kleine Sperlinge die flügge wurden, und ihre ersten Flugübungen machten, wie sie voller Lebensfreude durch die warme Luft des Sommers jagten. Dann, die Steinschleuder, den Stein, den peitschenden Knall eines zerreißenden Gummis. Einen sterbenden Sperling.
Immer wieder schaute Tom den toten Sperling an. Hoffte, sein kleines Herz würde wieder zu schlagen beginnen. „Was hatte der Sperling gesagt? Hoffentlich hast Du verstanden Tom! Ja kleiner Sperling, ich habe verstanden. Nie wieder werde ich mit einem anderen Leben spielen oder es gefährden, das schwöre ich!“
Tom hielt den kleinen Sperling eine ganze Weile liebevoll, ja zärtlich, in seinen Händen und betete für dieses kleine Leben dass er zerstört hatte. Er fühlte zum ersten Mal in seinem Leben wirkliche Trauer und Hilflosigkeit. Die Scham die er für seine Tat empfand war grenzenlos.
Später begrub er den Sperling in einer Zigarrenkiste, die er sorgfältig mit Watte ausgelegt hatte. Er trauerte mehrere Wochen bevor der Schmerz langsam nachließ. So half der Tod eines kleinen Vogels, Toms Bewusstsein für Recht und Unrecht zu schärfen. Diese Lektion sollte Tom nie wieder vergessen. „Sei vorsichtig mit Deinen Gedanken, sie führen ins Ziel und können verletzen, können töten. Dem Schicksal kann niemand entkommen, auch ein kleiner Sperling nicht.
Tom in Gefahr

„Wuff?“ Pascha sorgte sich um Tom, der wie in Stein gemeißelt einfach nur da stand und sich nicht mehr rührte. Pascha wartete noch einige Sekunden um schließlich das letzte Mittel dass ihm zur Verfügung stand Tom auf sich aufmerksam zu machen, einzusetzen. Pascha sprang Tom an, legte ihm die Vorderläufe auf die Schultern und stupste ihm seine feuchte Nase ins Gesicht. Doch Tom spürte nichts mehr, er hörte nur noch dieses Lied und diese fremde Stimme, die wie aus weiter Ferne zu ihm sprach. „Sirhan!“ rief diese Stimme, und ihr Klang wurde drohend. Wellen von Boshaftigkeit und grenzenlosem Hass überfluteten ihn. Gefühle, die Tom fremd waren und denen er nichts entgegensetzen konnte. Tom viel auf die Knie, als erneut eine Welle von brennendem Hass über ihn hereinstürzte. Seine Verletzung riss auf und er begann stark zu bluten. Aber auch das spürte Tom nicht. Toms Körper verkrampfte sich, und gequält fing er an zu weinen. „Sirhan!!!“ schrie diese Stimme und wiederum fühlte Tom Hass in sich aufsteigen, aber auch Gefühle von Mitleid und Liebe, Leben und Sterben. Gefühle, in ihrer Intensität so stark, dass Tom sich übergeben musste.
Pascha witterte Gefahr, spürte Toms seelische Not und handelte. Ein sanfter Bis in Toms Hand genügte. Tom viel auf den Rücken und öffnete verwirrt die Augen. Sofort war Pascha über ihm und schaute ihn fragend an. Dieses Mal schien er zu fragen, „Na, Tom alles klar?“ Tom wischte sich die Tränen aus den Augen und blinzelte Pascha, der ihn aufmerksam beobachtete, fragend an. „Ist ja gut, Pascha. Komm lass mich aufstehen!“ Pascha sprang auf die Seite und Tom stand mühsam auf. „Aua...Mensch, tut das weh!“ Toms Hemd war rot von Blut. „Ich sollte besser nachhause gehen“ dachte Tom, als er sein Hemd sah. „Was machen wir jetzt, Pascha wollen wir weitergehen oder gehen wir nachhause?“ Pascha jagte los. Richtung Wald. Eine klare Antwort. „Na gut.“ Tom hob das Radio auf und folgte Pascha der, wie von tausend Hummeln verfolgt, losgerannt war und vor lauter Lebensfreude bellte. Das kleine Radio war verstummt, und sosehr Tom sich auch bemühte, es ließ sich nicht mehr einschalten. Nie wieder.
In Gedanken versunken trottete Tom hinter Pascha her. Er versuchte eine Erklärung dafür zu finden was um ihn herum vorging. Er hatte so viele Fragen, doch niemand antwortete ihm.
Die beiden hatten den Wald fast erreicht. Tom warf Stöckchen und Pascha brachte sie immer wieder brav zurück, als Pascha plötzlich herum schwang und laut zu knurren begann. Er zog seine Lefzen hoch und legte seine beeindruckenden Reißzähne frei. „Spinnst du, da ist doch niemand!“
Pascha fixierte irgendetwas. Etwas, das Tom nicht sehen konnte. Er sah seinen Hund fragend an. „Komm, lass uns weiter spielen!“ Doch Pascha hörte nicht auf. Irgendetwas irritierte ihn. Irgendetwas Unsichtbares näherte sich Pascha und Tom. Näherte sich leise und hinterrücks, und nur der Instinkt eines Hundes bildete die letzte Bastion, die Tom noch schützen konnte.
Pascha war verwirrt denn er spürte deutlich, dass sich etwas ihrem Standort annäherte. Doch auch er konnte niemanden sehen. Da war kein Geruch, kein Laut. Da war einfach... nichts. Doch sein Instinkt hämmerte in wildem Stakkato auf ihn ein. „Gefahr!!! Pascha..., hier stimmt was nicht..., Gefahr!!!“ Immer wilder wurde Paschas Empfindungen, immer wilder schlug sein Instinkt auf ihn ein. Pascha senkte seinen Kopf, und seine Nackenhaare sträubten sich. Er machte einen Buckel und bereite sich darauf vor kämpfen zu müssen, denn er fühlte, dass dieser Gegner ihm überlegen war. Bisher hatte Pascha in schöner Regelmäßigkeit sein Revier gegenüber anderen Hunden verteidigt. Die Kämpfe die er focht, waren von kurzer Dauer und er blieb stets der Sieger. Aber dieses Mal...

Er jaulte kurz auf als er sich der unsichtbaren Bedrohung, von der Tom nichts ahnte, bewusst wurde. Heiser und gequält klang sein Bellen. Pascha spürte die Kälte und eine unbändige Wut schlug ihm entgegen. „Na Du Köter..., willst Dein Herrchen verteidigen was?“ hörte er plötzlich die Stimme eines Kindes zu sich sprechen. „Du läufst jetzt besser weg und überlässt mir Tom kampflos. Wenn nicht, werde ich Dich zerfetzen!!“ Nur undeutlich hörte er noch Toms Rufe. „Pascha was ist denn los, komm, hör bitte auf. Du machst mir Angst“ Langsam näherte sich das Unsichtbare, und Pascha traf eine Entscheidung.
Wild fauchend warf er sich den Gegner mit all seiner Kraft entgegen. Zehn, zwanzig Meter hatte er in wenigen Sekunden zurückgelegt. Nach weiteren zehn Metern machte er aus vollem Lauf einen gewaltigen Satz durch die Luft und sprang den unsichtbaren Gegner an. „Ha, ha blöder Köter, hast du dir wirklich eingebildet, du könntest irgendetwas gegen mich ausrichten!“. Paschas entschlossener Angriff war ins Leere gegangen. Er war unsanft im Gras gelandet, sein mutiger Angriff vollkommen sinnlos gewesen.
Tom bekam jetzt wirkliche, echte Angst. Sein junger Verstand war komplett überfordert. Erst der Sturz mit seinem Fahrrad, dann diese fremde Stimme in seinem Kopf, die intensiven fremden Gefühle und jetzt lief auch noch sein Hund Amok. „Bitte Pascha..., bitte, bitte hör auf. Sei wieder gut... ich habe Angst...“ flüsterte Tom. Er verstand die Welt nicht mehr. So bösartig hatte er seinen Hund noch nie erlebt.
Pascha sprang auf die Beine und blickte Tom traurig an. So als wolle er sagen „Ich kann Dir nicht helfen Tom.....verzeih mir bitte“. Diese Verzweiflung konnte Tom in Paschas Augen sehen.
Und Tom hatte Freunde. Freunde die er noch nicht kannte. „Hierher, Tom... komm in den Wald. Tom, hier wird Dir nichts geschehen... wir beschützen Dich ...“ Wie ein leisen Raunen hörte Tom diese leise, Feengleiche Stimme. Die Stimme kam aus dem Wald. „Aber da ist doch keiner!“ Auch Pascha hatte die Stimme vernommen und seine Augen suchten den Waldrand ab. Doch auch er konnte niemanden sehen. „Schnell Tom!!“ „Was?!“ Die Stimme gab Pascha neue Zuversicht und... er wurde zum Bluthund. Pascha verstand auf unerklärliche Weise, dass sein Tom von dem was hier passierte, nichts begriff. Und er handelte. Er rannte die wenigen Meter zu Tom zurück um ihm einen kräftigen Stoß zu verpassen. Tom kam ins straucheln, viel aber nicht hin. „Beeil Dich Tom, Du bist in Gefahr!!“ raunte erneut die fremde Stimme aus dem Wald. „In Gefahr..?“ „Tom, um Gottes Willen, lauf los, sonst ist es zu spät!!“ Unvermittelt heulte in Toms Unterbewusstsein eine Alarmsirene auf. „Ich muss hier weg!“ Tom blieb zu Nachdenken keine Zeit mehr. Ihm wurde kalt, ganz plötzlich fing er an zu frieren und sein Atem kondensierte an der Luft als herrsche tiefster Winter. Endlich zählte auch Tom eins und eins zusammen. Sein Durch- geknallter Hund. Die fremde Stimme, die ihn rief.
Tom bekam eine Gänsehaut und rannte, so schnell er konnte, los.
Es wurde der längste Lauf seines Lebens.

Paschas Kampf

Pascha lief nicht los. Er drehte sich um, und versuchte das Unbekannte mit all seinen Sinnen zu erfassen. Er sah nichts. Er hörte nichts. Er roch nichts. Und dennoch, irgendetwas näherte sich ihm. Das könnte er deutlich fühlen. Vollkommen automatisch versuchte sein Instinkt den fremden Gegner irgendwo in seiner Erinnerung einzuordnen. Aber da war keine Erinnerung. Pascha konnte diesmal nicht auf eine erprobte Strategie zurückgreifen um den fremden Gegner zu bekämpfen. Die Krallen seiner Läufe fuhren heraus und verankerten sich tief in der Erde um ihm den benötigen festen Stand, aber auch eine sichere Beschleunigung zu geben.
Pascha bellte nicht mehr. Er hörte nun nur noch auf seinen Instinkt.
Direkter Angriff? Sinnlos, kein sichtbares Ziel!
Möglichkeit einen Biss an der Kehle des Gegners anzubringen? Sinnlos, kein sichtbares Ziel! Andere Möglichkeit den Gegner aufzuhalten? Keine bekannt, kein sichtbares Ziel!
Kampflos aufgeben? Nicht möglich, Tom ist in Gefahr und zu beschützen!
Irgendwelche anderen brauchbaren Möglichkeiten? Gegner solange aufhalten, bis Tom den Wald erreicht hat, dann schnellstens selbst in Sicherheit bringen!
Paschas Augen blitzten auf. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte er die Lösung seines Problems gefunden.
Er drehte seinen Kopf in Richtung Wald, und sah Tom rennen.
Wann erreicht Tom den Wald? Cirka 50 Meter, etwa sieben Sekunden!
Pascha wendete seinen Kopf und versuchte nun die Entfernung zum Gegner zu schätzen.
Entfernung zum Gegner? Cirka 15 Meter, plus minus 3 Meter. Schnell näher kommend!
Günstigste Sprungdistanz? Aus vollem Lauf 5 Meter, aus dem Stand 3 Meter!
Verletzungsgefahr? Unbekannt!
Pascha ließ sich nun nur noch von seinem Instinkt leiten. Er sah nicht mehr die Welt um sich herum, er griff an.
Wild knurrend warf er sich seinem Gegner erneut entgegen. Sein Lauf war so gewaltig dass seine Läufe Gras und Erde aus der Wiese rissen. Und dann machte er einen riesigen Satz auf den Gegner zu und... landete wiederum im Gras. „Du hast keine Chance Köter! Gib auf bevor ich Dich vernichte!“
Damit hatte Pascha gerechnet, schnell überprüfte er, wann Tom den schützenden Wald erreichen würde. Cirka 10 Meter, Tom ist in Sicherheit!
Er hatte es geschafft. Das Unbekannte war durch seinen Angriff verlangsamt worden und er hatte Tom die Zeit verschaffen können, den schützenden Wald rechtzeitig zu erreichen.
Weiterer Angriff? Unnötig, Tom hat den Wald erreicht. Bring Dich selbst in Sicherheit!
Pascha gab Fersengeld und folgte Tom in den Wald.
„Du bist schlau Köter. Aber ich bekomme Ihn doch“
Pascha erreichte den Wald kurz nach Tom.

Tom hatte den Wald erreicht und tauchte in ihn ein. Sein Herz pochte wild und seine Wunde blutete heftig, doch er spürte den Schmerz nicht. Völlig außer Atem, drehte er sich um und suchte die Wiese nach Pascha ab. Pascha lief heute Weltrekord. Seine Läufe trommelten auf die Erde, und er suchte Tom. „Hier, Pascha, hierher!“ Tom winkte kurz zwischen den Tannen die hier sehr dicht standen, heraus. Sofort wurde er von Pascha entdeckt. Wenige Sekunden später krachte Pascha in den Wald. Ja, es krachte wirklich. Wie eine Kanonenkugel, durchbrach Pascha das dürre Unterholz des Waldrandes. Ein letzter Satz über einen schmalen Graben und er hatte Tom erreicht. Er ließ sich einfach auf den Boden fallen, so fertig war er. Seine Zunge hing aus dem Maul und er hechelte. Tom kniete sich besorgt vor ihn und streichelte ihn zärtlich über die Flanke. „Alles Okay, Pascha..., ist Dir was passiert!?“ Können Hunde grinsen? Pascha grinste, davon war Tom ab diesem Erlebnis überzeugt. Ja, Pascha grinste Tom an und seine Augen glänzten stolz. „Das hast Du gut gemacht, Pascha. Hast Du eine Ahnung was das war?“ Wuff!“ mehr wusste Pascha auch nicht. Tom umschlang Paschas Hals und drückte seinen Freund sanft. Pascha hielt ganz still als Tom leise schluchzte und zu weinen begann. Tom war so stolz auf seinen vierbeinigen Freund. So verhielten die beiden viele Minuten, und Tom beruhigte sich zusehends.
Vom Waldrand her krächzte ein Rabe.
„Wo sind wir hier eigentlich?“ Tom sah sich um. „Ach ja, da sind ja meine Tannen“. Tom und Pascha befanden sich am Rande eines alten Judenfriedhofes, der schon viele hundert Jahre hier sein musste. Tom stand auf und schaute sich die alten Gräber genauer an. Vor diesem Erlebnis hatten ihn die Gräber nie interessiert. Es waren alte Gräber, die Grabsteine verwittert und von Unkraut überwuchert. Dennoch, der Friedhof strahlte Ruhe und Frieden aus, hier schien die Zeit stillzustehen. „Jakob Stein, geb. 1856 gest. 1905“, las Tom. „Rachel Grünspan, geb. 1798
gest. 1860. Alle schon lange tot!“ Tom verlor das Interesse an den Gräbern und ging zu seinen Tannen. Kurz darauf stand er vor drei riesigen Tannen. Allesamt gut 20 Meter hoch. Er überlegte kurz ob er hochklettern sollte, überlegte es sich aber anders denn er hatte Schmerzen. Seine Wunde hatte zwar zu bluten aufgehört aber er fühlte sich nicht stark genug die ersten zwei Meter zum ersten Tannenwedel an dem er sich festhalten konnte, zu überwinden. Stattdessen legte er seinen Kopf an die größte Tanne und sagte leise „Danke“.

Rückweg

„Komm, Pascha wir gehen nach Hause“ Tom hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend als er und Pascha den Waldrand erreichten. Kilometerweit offenes Gelände. Nur hier und da ein Baum. Sonst war nichts zu sehen. Verspielt rannte Pascha an Tom vorbei auf die Wiese und suchte sich ein Spielzeug. „Ist wohl alles okay“ dachte Tom, und verließ ebenfalls den schützenden Wald.
Tom marschierte los. Er hatte vor sich zu beeilen denn er hatte Angst das Unbekannte würde hier draußen irgendwo auf ihn warten. Immer wieder drehte er sich um, aber er war alleine mit seinem Hund. Weit und breit war kein anderes menschliches Wesen zu sehen. Die beiden waren schon ein gutes Stück gegangen als Pascha plötzlich Witterung aufnahm. Er hielt seine Nase in den Wind, schnupperte, und sah sich aufmerksam um. Pascha hatte einen Hasen entdeckt der gut 50 Meter entfernt ruhig im Gras saß. Sofort rannte Pascha los um den Hasen zu fangen. Tom wusste was nun folgen würde. Pascha hatte keine Chance. Immer wenn er den Hasen fast erreicht hatte, schlug dieser einen Haken und Pascha rannte ins Leere. Das wiederholte sich vier- bis fünfmal, bis Pascha schließlich aufgab und den Hasen ziehen ließ.
Aber dieses Mal irrte sich Tom gewaltig. „Was..., was soll das...?“ Pascha raste auf den Hasen zu, schnell verkürzte sich der Abstand. Aber der Hase dachte gar nicht daran wegzulaufen. Auch Pascha spürte, das mit diesem Hasen etwas nicht stimmte. Kurz bevor er den Hasen erreichte, schlug er einen Bogen und bellte nur.
Tom setzte sich in Bewegung. Er wollte sehen ob der Hase verletzt war und ob er helfen konnte. „Geh da nicht hin Tom, bleib da weg bitte“ Toms Nackenhaare sträubten sich. Diese Stimme hatte ihn schon einmal gewarnt und aufgefordert in den Wald zu laufen. Toms Schritte stockten, und Angst kroch seinen Rücken hoch. „Pascha!!!...komm weg da!!“ schrie Tom so laut er konnte, aber Pascha hörte nicht. Wie toll umkreiste er den Hasen und bellte sich in Rage. „Pascha!!!“ Pascha hörte abermals nicht, stattdessen geschah etwas Unheimliches. Der Hase setzte sich auf die Hinterbeine und schien größer zu werden. Pascha zuckte zurück und begann irritiert zu knurren. Immer größer wurde der Hase und begann durchsichtig zu werden, sein braunes Fell verblasste. Pascha hatte genug und lief zurück zu Tom, der gespannte die Metamorphose des Hasen beobachtete. Die langen Löffel des Hasen bildeten sich zurück, Arme und Beine nahmen allmählich Form an. Tom begann sich, langsam rückwärtsgehend, von diesem unheimlichen Ort zu entfernen. Aber wohin, welche Richtung sollte er wählen? Der schützende Wald lag mindestens einen Kilometer entfernt. Sein zuhause noch ein gutes Stück weiter. Die unheimliche Gestalt veränderte sich weiter und hatte nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit einem Hasen. Die Gestalt bewegte sich in Toms Richtung. Tom glaubte, immer noch langsam rückwärtsgehend, zu träumen und er beruhigte sich schlagartig. „Davor muss ich doch keine Angst haben!“ schallt er sich einen Narren. Tom blieb stehen und Pascha setzte sich neben ihn.
Ein Mann, im Frack und mit einem Zylinder auf dem Kopf, einen schwarzen Stock mit einem silbernen Knauf an der einen Seite, den er spielerisch in der linken Hand rotieren ließ, kam auf Tom zu. Dieses Wesen war höchstens einen Meter groß. „Tom lauf weg! SCHNELL!“ Da war wieder die Stimme die ihn eindringlich warnte.

Tom zögerte, als er in das Gesicht des Unbekannten schaute. Er war kein Liliputaner, obwohl er so klein war und er hatte ein bezauberndes, ebenmäßiges Gesicht. „Wie ein Engel...“ Tom wurde bereits in den Bann des unbekannten gezogen. Pascha wurde nervös, fletschte die Zähne und knurrte den Fremden an. Die Schritte des Fremden stockten nicht, er ignorierte Pascha. Stetig war sein Gang, er hatte es nicht eilig. Siegessicher schauten zwei schwarze Augen Tom an, und Tom sah in diese Augen. „Böse...“raunte eine Stimme durch seinen Kopf. „Das ist böse! Lauf weg Tom, solange Du noch laufen kannst!“

Tom raste los. Er wusste die Richtung nicht mehr, er lief einfach und Pascha blieb dicht bei ihm. „Ha, ha, ha! Ja lauf nur, Tom. Lauf so schnell Dich Deine kleinen Füße tragen! Du gehörst mir, mir, MIR!!!“
Tom hörte nicht auf zu laufen. Er jagte die Anhöhe hoch. „Bald, bald bin ich zu Hause“ Er erreichte die Weide und konnte das Haus sehen. Er hörte nicht auf zu laufen. Schließlich erreichte er das Haus und er warf einen scheuen Blick zurück. Das fremde Wesen war ihm nicht gefolgt. „Mann, Pascha was war denn das?“ Pascha wedelte mit dem Schwanz und machte brav Platz. Tom öffnete die Haustüre und ging die Treppe hoch. Linda saß vor dem Fernseher und sah die Nachrichten. „Hallo, Tom, alles klar?“ „Ja, Mama. Ich bin müde und gehe ins Bett“. „Gesicht und Hände waschen nicht vergessen“. „Geht klar“. Tom Blick viel auf den Fernseher. „Wer ist das, Mama?“ „Das ist Robert Kennedy Tom. Dieser Mann wird wahrscheinlich der nächste Präsident der USA. Warum fragst Du?“ „Och ich weiß nicht, der Name kommt mir bekannt vor.“ „Das kann schon sein, Tom. Sein Bruder, John F. Kennedy, war ebenfalls Präsident der USA. Ich glaube...der 35zigste. John F. Kennedy wurde 1963 in Dallas erschossen. Er war ein guter Mann.“ „Vor 5 Jahren“ rechnete Tom nach. „Da war ich vier Jahre alt.“ Er setzte sich nun doch in einen Sessel und schaute interessiert auf den Bildschirm. Robert Kennedy hielt gerade eine Rede vor vielen Menschen, viele von Ihnen schwenkten bunte Fahnen. „Das Gesicht...ich kenne diesen Mann!“ Plötzlich viel Tom alles wieder ein. „Du, Mama ich habe von diesem Mann geträumt“. „Von Robert Kennedy?“. „Ja als ich vorhin auf der Couch eingeschlafen bin habe ich von Ihm geträumt“. „Was hast Du denn geträumt, Tom?“ „Ich habe sein Gesicht gesehen und dann berührte er mich an der Wange. Immer wieder, er sah ganz traurig aus“ „Komischer Traum, Tom. Du wirst Ihn wohl in den Nachrichten gesehen haben. Kinder träumen viel“. „Das stimmt, Mama“, „Was stimmt?“ „Ich habe den Mann im Fernsehen gesehen“. Tom kniff den Mund zusammen. Am liebsten hätte er jetzt Linda von seinen merkwürdigen Erlebnissen erzählt. Aber auch jetzt traute er sich nicht.

Es schepperte in der Küche. Pascha machte auf seine eigene Art und Weise darauf aufmerksam, dass er gehörigen Hunger hatte. „Ich komm schon, Pascha reg Dich nicht auf“ Tom erhob sich von seinem Sessel und ging zu seinem Freund in die Küche. Kurz darauf hatte Pascha eine riesige Portion Fleisch im Magen, und er legte sich zufrieden mitten ins Wohnzimmer. Dass Linda und Tom nun über ihn steigen mussten, störte Pascha nicht im Geringsten. Er schlief tief und fest.
„Ich geh ins Bett, Mama gute Nacht“ „Nacht, Tom. Schlaf gut!“
Tom ging ins Bad und zog sich denn Pulli aus. Zuerst hatte er befürchtet, dass sich das Gewebe seines Pullis wieder innig mit seiner Wunde verbunden hatte. Aber seine Sorge war unbegründet. Es floss kein Blut mehr, und Schmerzen hatte Tom auch nicht mehr. Die Wunde begann bereits zu heilen. Toms Immunsystem war wirklich auf Zack.
Er zog sich seinen Schlafanzug an und ging zu Bett.

„Ich möchte heute Nacht nicht träumen bitte!“
Sein Wunsch wurde erhört. Was er nicht sah, draußen vor dem Fenster seines Zimmers, auf der großen Esse, hatten sich zwei große Kolkraben niedergelassen. Sie schienen zu tuscheln und ab und zu krächzte einer der Vögel laut auf. Die beiden Raben beäugten den Horizont, schienen auf etwas zu warten. Und schließlich sahen sie Ihn; auf der Anhöhe, bei der Weide. Da saß ein Hase. Aber sie strahlten Ruhe aus und eine unerklärliche, kristallklare Kraft. Diese Ruhe war es die Tom fühlte und ihm die schlimmen Träume nahm. Jedenfalls diese Nacht.

Entscheidung am Abend

05.06.1968
8.30 Uhr

„Guten Morgen, Tom.. Zeit zum aufstehen! Oma und Opa kommen heute“
Tom öffnete die Augen. Sein Blick viel durch das Fenster auf die Esse und die Wiesen. Die Sonne strahlte. „Schöner Tag heute. Also, dann los“ dachte er. Heute kamen Opa und Oma. Das hatte er schon vergessen. Aber Tom freute sich, denn er mochte beide sehr gerne.
„Ist denn heute schon Samstag?“ rief er durch die leicht geöffnete Türe seines Zimmers.
„Ja mein lieber! So, jetzt raus aus dem Bett, Frühstück ist fertig!“
Tom hatte Hunger, mächtigen Hunger und nur eine riesige Portion Haferflocken mit Kakao und Milch konnte diesen Hunger stillen.
Er sprang aus dem Bett, zog sich an und flitzte ins Bad. Zwei Minuten später hielt er bereits den Esslöffel in der Hand und kaute zufrieden. „Wamm find sie denn hier?“ Was hast Du gesagt Tom?“ Tom schluckte und seine Aussprache wurde merklich besser. „Wann Oma und Opa hier sind?“ „Papa ist schon unterwegs sie zu holen, Tom. So gegen Mittag nehme ich an. Ich brauche noch Brot, Wurst und Butter. Bist Du so lieb, Tom und gehst ins Dorf ?“ „Na klar, Mama. Ich wollte sowieso noch zu Wolli. Wenn ich gegessen habe, fahre ich sofort los!“
Toms Tatendrang war grenzenlos.
„Was ist eigentlich mit Deiner Verletzung, Tom tut’s noch sehr weh?“ Nicht mehr so schlimm, Mama nur der Verband ist abgegangen.“ „Lass mal sehen, Tom... “ Linda sprach im Befehlston, hier war jeder Widerspruch sinnlos. Tom zog seinen Pulli hoch. „Na ja, Tom du hast ganz schönes Glück gehabt. Das hätte auch anders ausgehen können! Bitte sei in Zukunft vorsichtiger, sonst brichst du dir noch mal die Knochen“. „Ich pass ja auf, Mama aber ich konnte wirklich nichts dafür...!“ „Dann rase nicht immer so mit Deinem Fahrrad, Tom“. Tom ging das Thema ziemlich auf die Nerven. Linda hatte überhaupt keine Ahnung von dem was wirklich passiert war, und sie würde auch nichts von dem was Tom erlebt hatte verstehen. Sie hatte keine Sinne dafür. Instinktiv wechselte Tom das Thema. „Wo ist denn Pascha, Mama?“ „Keine Ahnung, ich glaube er ist unten und ärgert Mutti“ „Darf ich, Mama...?“ „Ja Du darfst, Tom. Moment, ich halte mir nur noch die Ohren zu!“ Nachdem Linda ihre beiden Zeigefinger tief in ihre Ohren versenkt hatte nickte sie nur kurz und Tom brüllte los. „PASCHA!!!“ rief er so laut er konnte. Fast augenblicklich krachte es in der unteren Wohnung, und Pascha bahnte sich mit absoluter Präzision seinen Weg. Er hatte zwar gerade ein Stück trockenes Brot gekaut das Mutti ihm gegeben hatte, aber Tom ging vor. Tom und Linda hörten die verschiedensten Geräusche, darunter einen kurzen Schrei, aus der unteren Wohnung und erwarteten das Getrappel von Paschas Läufen auf der Treppe. „Er ist an der Treppe...,“sagte Linda beiläufig. Tom nickte zustimmend. „Tatap, tatap, tatap“. Pascha rannte die Holztreppe hoch. „Tatap, tatap tatap,....Umpf...“ Pascha hatte eine Treppenstufe übersehen und war auf der Schnauze gelandet.
Linda öffnete die Wohnungstür, und Pascha kam um die Ecke geflogen. Als nächstes kam der Teppich...
Pascha war so schnell, dass der Teppich der im Wohnzimmer lag, Paschas Gewicht nicht gewachsen war. Er rutschte unter Paschas Läufen weg und Pascha flog durchs Wohnzimmer. Pascha ließ sich davon nicht beirren. Der freigelegte Linoleumboden unter seinen Läufen schien aus gefrorenem Eis zu sein. Pascha schleuderte auf Tom zu, stabilisierte sich kurz, und knallte schließlich mit voller Wucht gegen den Küchentisch.
„Brav Pascha. Du bist ein guter Hund“. Tom tätschelte seinem treuen Freund liebevoll den Kopf. „Mit dieser Nummer könntet ihr beiden im Zirkus auftreten, Tom... Als Clowns!“

9.30 Uhr

Tom machte sich auf den Weg ins Dorf. Er zog es vor den alten Weg zu fahren, vor der Teerstraße hatte er eine unerklärliche Angst. Tom sprang auf sein Fahrrad und trat in die Pedale. Der alte Weg war viel gefährlicher als die Straße, denn hier hatten Traktoren über viele Jahre hinweg, tiefe Spuren in die Fahrbahn gefahren. Schlaglöcher, herumliegende Äste und Steine. Obendrein verdeckten Hecken und Büsche an der Seite des Weges die freie Sicht. All das wartete nur darauf Tom zu Fall zu bringen, wenn er wieder einmal den Berg hinunter ins Dorf raste.
Aber Tom war gut. Niemals ist er gestürzt, wenn er den alten Weg fuhr, aber manchmal war es doch gefährlich.
Er hatte den Weg ins Dorf zur Hälfte geschafft und fuhr natürlich volle Geschwindigkeit. Die Tachonadel seines Geschwindigkeitsmessers zitterte irgendwo jenseits der 50km/h Marke. Er hatte den dritten Gang eingelegt und voll ausgefahren, schneller ging es nicht mehr. Sein Fahrrad ächzte und klapperte. Tom konzentrierte sich voll auf den Weg, permanent musste er Steinen und tiefen Schlaglöchern ausweichen. Dann tauchte vor ihm die einzige, leichte Kurve des alten Weges auf.
„Bremsen Tom! Du bist zu schnell!“ „Bremsen...!“ Tom erkannte die geheimnisvolle Stimme sofort, sie hatte ihn gestern aufgefordert in den Wald zu laufen.
Ohne Zögern stieg Tom auf die Bremse. Das Hinterrad blockierte und zog eine zehn Meter lange Bremsspur in den Boden. Wie ein Wildpferd bockte sein Fahrrad und es war schwierig die Richtung zu halten, aber das kannte Tom. Geschickt legte sich Tom leicht auf die linke Seite, und das Hinterrad schwang, noch immer blockierend, herum. Staub stieg auf und Steine wirbelten durch die Luft.
Tom war am Beginn der Kurve zum stehen gekommen. Irritiert stellte Tom sein Fahrrad auf den Ständer, denn es war nichts Gefährliches passiert. „So ein Mist Mann, jetzt fange ich wirklich an zu spinnen!“ konnte er noch denken, als plötzlich ein Traktor um die Kurve bog.

„Hallo, Tom wie geht’s?“ „Danke gut, Herr Gauer. Und selbst?“ „Gut gut, Tom danke“ Herr Gauer fuhr weiter ohne zu halten. „Mann oh Mann!“ dachte Tom, „da hab ich Glück gehabt“.
Tom hatte den Traktor nicht gehört und wäre, hätte er nicht angehalten, mit ihm unweigerlich zusammen gestoßen.
Tom sah sich um „kein Hase zu sehen...“; stieg auf sein Fahrrad und fuhr langsam weiter.

Kurz darauf erreichte er das Haus in dem Wolli wohnte. Das Haus war eher eine Baracke und stand direkt neben der evangelischen Kirche von Sohren. Wer diese Baracke erbaut hatte wusste Tom nicht, musste wohl etwas mit dem letzten Krieg zu tun haben.
Die Eingangstür stand offen und Tom marschierte geradewegs in die Küche.
„Hallo, Tante Erna ist Wolli da?“ „Hallo, Tom Wolli ist mit Paul auf dem Friedhof“ „Ist gut, Tante Erna“. Tom machte kehrt und verließ die Baracke so schnell, wie er sie betreten hatte. Erna rauchte ihm zu viel.
Unschlüssig schaute er Richtung Friedhof der hinter der Kirche lag. Onkel Paul war Gemeindearbeiter in Sohren und er musste auch die Gräber für Tote ausheben.
Tom schwang sich auf sein Rad und fuhr den schmalen Weg an der evangelischen Kirche entlang zum Seiteneingang des Friedhofes. Hier verstellte ein kleines Metalltor Tom den Weg. „Hoffentlich ist das Tor nicht abgeschlossen“ dachte er und drückte auf die Klinke. Das Tor ließ sich öffnen und Tom blieb der Umweg zum Haupteingang erspart.
Kaum hatte Tom das Tor durchschritten, konnte er bereits Paul fluchen hören. Paul und Wolli standen am Komposthaufen des Friedhofes. „Was die Leute hier so alles rein schmeißen, määh!“

Tom traf Onkel Paul stinksauer an. Paul zog gerade eine alte Gießkanne aus dem Komposthaufen des Friedhofes, und machte ein missmutiges Gesicht. Wolli grinste nur.
Paul war ein merkwürdiger Mensch, zumindest für Tom der ihn nicht besonders mochte, sich sogar ein wenig vor ihm fürchtete. Tom konnte in Menschen lesen, unbewusst zwar, aber er konnte die Gedanken anderer Menschen erahnen. Nur bei Paul nicht. Dort gab es nichts zu lesen. Pauls Gedanken blieben für Tom verborgen. Blieben, wie Tom es nannte, hinter schwarzen Wolken versteckt.
Paul schien Toms Fähigkeit zu ahnen und freute sich offensichtlich so sehr darüber, dass er Tom immer wieder ärgerte und wütend machte. Vorzugsweise ärgerte Paul Tom indem er behauptete, Pascha sei gar kein richtiger Schäferhund. Das trieb Tom jedes Mal wieder auf die Palme. Er konnte einfach nicht verstehen, wie Paul so blöd sein konnte und nicht sah, welch wunderschönes und stolzes Exemplar von einem Schäferhund Pascha war. Aber Pascha überzeugte Paul, ein knappes Jahr später, auf seine eigene Weise davon dass er ein echter Schäferhund war.
Und Pascha grinste dabei...
Pascha konnte Paul nicht leiden. Denn auch er fühlte, dass Paul etwas zu verbergen hatte. Natürlich hatte er Paul nie irgendetwas getan. Pascha hat niemals einem Menschen etwas zu leide getan. Es ergab sich aber, dass Paul in Muttis Haus eine neue Wasserleitung in der Küche verlegen wollte. Tom und Pascha spielten gerade vor dem Haus, als Paul mit einer Schubkarre voll mit Sand, Zement, einer Schaufel und diversen Wasserrohren beladen, die alte Weide erreicht hatte und eine kurze Pause einlegte. Ob es daran lag dass es wundervoller, sonniger Tag im Sommer gewesen war, oder weil Pascha zwei Stunden zuvor seine langjährige Freundin, die Schäferhündin Senta, endlich besteigen durfte, bleibt ein Geheimnis. Jedenfalls schoss Pascha, nachdem er Paul entdeckt hatte, sofort bellend los um ihn zu stellen. Paul sah Pascha kommen und versuchte, sich hinter der Schubkarre in Sicherheit zu bringen. Pascha jedoch interessierte dieses Hindernis nicht im Geringsten. Mit einem mächtigen Satz sprang er über die Schubkarre und stellte Paul. Der rannte laut \"Hilfe Hilfe\" schreiend los. Immer um die Schubkarre herum. Er umrundete die Schubkarre, mit Pascha auf den Fersen wieder und wieder. Das ging so 20 Sekunden lang als Pascha die Lust an diesem \"Spiel\" verlor, und sich zu Tom setzte, der mittlerweile ebenfalls am Ort des Geschehens eingetroffen war. Paul jedoch umkreiste die Schubkarre weiter. Eine gute Minute lang, rannte und rannte er als sei der Teufel hinter ihm her, immer im Kreis herum. Bis er endlich merkte, dass Pascha und Tom ihn lachend zusahen.
\"Du und dein blöder Schäferhund! Das werde ich deiner Mutter erzählen... Paul erwähnte dieses Erlebnis nie. Auch Toms Mutter gegenüber nicht. Es war ihm einfach zu peinlich. Ab diesem Zeitpunkt sprach er nie wieder abwertend über Pascha.
„Hallo, Wolli was machst Du denn heute noch?“ „Weiß nicht, Tom...“ „Wolfgang geht heute nicht weg, määh. Er muss mir hier helfen!“ Paul war bekannt als Spielverderber.
Wolli rollte mit den Augen und machte eine hilflose Geste. „Tut mir leid, Tom aber heute muss ich diesen Scheiß-Komposthaufen ausmisten“ „Schon gut, Wolli wir sehen uns Montag in der Schule“ Tom machte kehrt und verließ den Friedhof. „Onkel Paul ist doof, immer meckert er rum“

14.35 Uhr
Tom fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er spürte eine merkwürdige Unruhe in der Luft.
Er hatte sich so auf Oma und Opa gefreut, und jetzt waren sie da und nervten ihn mit allerlei Fragen. Er beschloss sich dünn zu machen. „Ich gehe ein bisschen spielen, Mama“
Tom verließ das Haus und überlegte was er tun könne.

14.45 Uhr
„Pascha such mich!“ Tom versteckte sich auf dem Flachdach vor seinem Zimmer. Dort hinauf zu kommen stellte für ihn kein Problem dar. Es war nicht hoch. Pascha, der gerade auf der anderen Seite des Hauses war, wirbelte sofort herum und suchte Tom.

14.47 Uhr
Tom stand auf dem Dach und freute sich ein Loch in den Bauch. Pascha irrte umher und suchte Tom. Er konnte Tom riechen, ihn aber nirgends sehen. Plötzlich witterte er einen Hasen, aber auch der war nirgends zu sehen. Trotzdem schlug sein Instinkt Alarm. Nun versuchte er noch intensiver Tom zu finden.

14.48 Uhr
Tom sah Pascha direkt unter sich laufen. Er beugte sich vor und wollte Pascha gerade rufen.
„Sirhan, Sirhan, Sirhaaaaan!!“ Mit voller Wucht wurde Tom von der fremden Stimme getroffen. Ihm wurde augenblicklich schwarz vor Augen, sofort verlor er das Gleichgewicht.
Bunte Lichter flackerten vor seinen Augen auf, als sein Körper alle Kraft verlor und die Schwerkraft abermals nach ihm griff. Er spürte nicht mehr den schweren Aufschlag auf dem Betonboden. Er hörte nicht das Krachen seines rechten Handgelenkes als es von der steinernen Treppenstufe zertrümmert wurde. Er sah auch nicht wie Pascha angerast kam und sich schützend und sichernd neben den am Boden liegenden Tom stellte.

14.48 und 17 Sekunden
Tom schrie. Er wusste nicht wo er war. Orientierungslos stand er auf und schrie.
Pascha fletschte die Zähne. Aber da war niemand, und auch sein Instinkt konnte ihm keine Richtung geben. Linda und die anderen schrecken auf.

20.00 Uhr
„Guten Abend, hier ist die Tagesschau.
Heute gegen 15.00 Uhr Mitteleuropäischer Zeit, wurde auf Senator Robert Kennedy ein Attentat verübt. Ein gewisser Sirhan Sirhan, schoss auf Senator Kennedy, der gerade das Hotel, in dem er eine Wahlkampfrede beendet hatte, durch den Küchenausgang verlassen wollte. Der Attentäter konnte überwältigt und festgenommen werden. Senator Kennedy erlag seinen schweren Verletzungen wenig später.“

21.52 Uhr
Tom ruft Linda, er hat starke Schmerzen. Sein gebrochenes Handgelenk wird erst am nächsten Tag behandelt.

Diese Stimme hat nie wieder zu Tom gesprochen. Die andere Stimme, die aus dem Wald, wurde seine ständige Begleiterin.
Den Hasen sollte er erst viele Jahre später wieder sehen.
Sein kleines Transistorradio war und blieb verschwunden
Pascha geht es gut

ENDE
© 2011 Larry Palmer

Tja, es passieren schön merkwürdige Dinge auf dieser Welt.
Und, es wird noch irrer.
In Tom und der Teufel begegnet Tom erneut dem Wesen dass ihm
schon in dieser Geschichte nachstellte.
Der kleine Mann mit dem Engelsgesicht, in Frack und Zylinder, sitzt nachts an seinem Bett, und schaut ihn einfach nur an.
Tom beginnt zu verstehen, was es mit der Zahl 7 auf sich hat.
Als sich diese Ziffer das erste Mal, in einem Traum, bei ihm zeigte, wurde er von
einem höheren Wesen (noch) davon abgehalten, durch ein golden leuchtendes Tor eine fremde Welt zu betreten.
Hinter diesem Tor lagen alle Antworten auf die Fragen die Tom hatte.
20 Jahre später gewährt das gleiche Wesen ihm Einlass in eine vollkommen andere, erschreckende Welt. Und endlich, Tom und seine mächtigen Freunde schlagen zurück, und weisen die fremdartigen Gestalten in ihre Schranken.
Pascha, seit über 15 Jahren tot, kommt zurück und schafft es, gemeinsam mit der Dalmatinerhündin Benita und dem Schäferhund Greif, das Tor in die Unterwelt für immer zu schließen.
Und auch die Raben haben einen wichtigen Auftrag:
Die Kurve der alten Kirchberger Straße, heute in Höhe des Pappelweges, in der Tom auf seinem Fahrrad das Bewusstsein verlor, trägt ein Geheimnis. Dort verbirgt sich ein weiteres Tor zur Unterwelt...
 



 
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