Tonleiter in den siebten Himmel

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Yoanna

Mitglied
Manu ist zweifellos einer der schönsten Männer, die Anna je gesehen hat. Sein schlanker, langgezogener Körper mit den schmalen Hüften und den ausladenden Schultern wurde ihm offensichtlich in einem gnadenreichen Augenblick von der Natur geschenkt und nicht, wie es oft geschieht, im Bodybuilding-Studio antrainiert. Von Anfang an hat sie gewusst, dass ihr ein Gesanglehrer mit einer derartigen Ausstrahlung gefährlich, ja verhängnisvoll werden kann. Trotzdem hat sie nichts Eiligeres zu tun gehabt, als sich auf den unerwartet frei gewordenen Unterrichtsplatz zu stürzen, um von IHM unterrichtet zu werden. Und jetzt fiebert sie sich von einem Dienstag Nachmittag zum anderen durch die Wochen.

Anna kann nicht mehr schlafen. Manus Gesicht, seine Stimme, ja sein Geruch, den sie wahrgenommen hat, als er ihr die ideale Singposition am konkreten Beispiel beibrachte, lassen sie nicht mehr los. Die regelmäßigen Atemzüge ihres ahnungslos daliegenden Ehemannes machen sie nervös. Dann stellt sie sich vor, wie sie inbrünstig singt - "Poppehehehehee, poppehehee, poppehehee" - und jenem Wunderwerk der Schöpfung dabei tief in die Augen schaut. Er singt mit ihr und begleitet sie auf dem Klavier. Seine Augen verfolgen die Bewegungen ihres Mundes, seine Lippen formen die Silben, die sie singt, beide atmen in harmonischem Gleichklang. In dem Raum, der zwischen ihnen liegt, werden sie eins, lassen sich forttragen von der Musik und dem Verlangen, sich endgültig fallen lassen zu dürfen. Anna schließt die Augen und lässt es zu, dass ihre Hände zu dem Schlafenden hinüberwandern, während der Film in ihrem Kopf weiterläuft.

Ödland trennt die Dienstage voneinander. Öde ist der Ehemann mit seinem ewig gleichen "Sag mal, wieso kaufst du den Kindern eigentlich immer den teuren Markenaufstrich und nicht die preiswerte Schoko-Nusspaste!" Öde sind die Kinder mit ihren fantasielosen Streitereien – "Den Löffel räum ich nicht weg, den hat der Dieter benutzt" – und öde ist auch die Arbeit im Büro – "Was, noch zwei Stunden bis Feierabend!" Anna kennt sich selbst nicht mehr. Das Leben? Nichts als Mittelmaß, leidenschaftslose Monotonie, Alltagsbanalität.

Und dann geschieht eines Tages das Ungeheuerliche: Ahnungslos und gelangweilt schiebt Anna wieder einmal ihren Einkaufswagen durch den Supermarkt an der Ecke, als ihr Blick sich plötzlich an einer schlanken Gestalt fest saugt. Sie kann es nicht fassen. Er hier? Schon will sie auf ihn zugehen, legt sich bereits einige Worte der Begrüßung zurecht, hebt die Hand, um zu winken – und lässt sie entsetzt wieder fallen. Abrupt schwenkt sie nach links, reißt hektisch eine Tüte Chips aus dem Regal und vertieft sich in das Studium der Nährwertanalyse.

"Sag mal, Elke", dringt Manus genervte Stimme an ihr gespitztes Ohr, "musst du eigentlich immer den Markenaufstrich nehmen? Hier diese Schoko-Nusspaste tut's doch auch. Keine Widerrede, Tim, sonst bleibst du nächstens zu Hause, wenn wir einkaufen." Anna wird schwindelig. Manu kauft ein, Manu spart, Manu meckert mit seinem Sohn. Rasch hält sie sich an einem überdimensionalen Keks-Paket fest. "Riesen-Finger" steht darauf.

Fassungslos riskiert Anna einen Blick hinter sich und sieht Manu mit Frau und Kind gerade noch wild diskutierend hinter einer Ecke verschwinden. Langsam schiebt sie hinterher, tränenblind und zuweilen wahllos ins Regal greifend.

Als sie an diesem Tag vom Einkaufen nach Hause kommt, staunt die Familie nicht nur über ihre roten Augen – "ach, das ist diese schreckliche Allergie" – sondern auch über das Mitgebrachte: haufenweise Chips, Kekse, Schokolade und Wein, aber kein Brot, keine Milch, keine Butter.

Betreten stehen alle um den Küchentisch herum und starren auf die Schätze aus dem Supermarkt. Anna schnieft, schneuzt sich in ein Taschentuch, sagt leise "Na ja" und deutet ein schwaches Grinsen an. Auf dieses Stichwort scheint Dieter nur gewartet zu haben. "Toll", bricht es aus ihm heraus, "jetzt können wir uns endlich mal so richtig die Wampe voll hauen."

Niemand widerspricht. Schweigend greifen sie zu, erst zögernd, dann immer beherzter und, unter vergnügten Glucksern, immer gieriger. Kurze Zeit später gleicht die Küche einem Schlachtfeld: Chips- und Kekskrümel bedecken den Fußboden, leere Verpackungen stapeln sich auf einem Stuhl, Organgensaft läuft über die Tischkante, und auf der Anrichte thront eine leere Weinflasche. Annas Augen leuchten.

"Morgen ist wieder Dienstag", schießt es ihr auf einmal durch den Kopf, wobei ihr Blick durch die Küche schweift und an ihrem Ehemann hängenbleibt. Dieser wischt sich gerade genüsslich die Schokolade vom Mund und schickt sich an, die nächste Flasche zu öffnen. Zufrieden grinst sie zu ihm hinüber und murmelt kaum vernehmlich: "Na und?"
 

Nina Trebesi

Mitglied
Coucou Yoanna!!
Ja, super! Am besten gefällt mir die Passage , in der Anna im Kopf "popeheheheheee" singt. Wunderbar! Der Schluss ist auch klasse. Nun kann sie sich nicht mehr von Dienstag nach Dienstag hangeln. Seufz.
Herzlichen Dank für Deine Reaktion auf Spiegelschrift!!
Bis bald!
Nina Trebesi
 

Yoanna

Mitglied
Dankeschön

Hallo Nina, hallo Flammarion,
vielen Dank für euer Lob; dass ich mich sehr drüber freue, versteht sich ja von selbst. Da macht's noch mehr Spaß!!
Liebe Grüße,
Yoanna
 

GabiSils

Mitglied
Liebe Yoanna,

ein, zwei Sätze zur Reaktion des Ehemanns fehlen mir noch. Dieter ist doch eins der Kinder? (Das schließe ich aus der Löffelszene, oder nennen die Kinder den Vater beim Vornamen?)

Gruß,
Gabi
 

Yoanna

Mitglied
Ehemann

Hallo GabiSils,
na gut, wenn Du meinst, der Ehemann sollte auch noch mal Erwähnung finden, dann soll ihm Recht geschehen. Besser so? Danke jedenfalls!!
Gruß,
Yoanna
 



 
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