Tourismus ins Unglück

Pinky

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"Willkommen, sehr verehrte Damen und Herren! Ich darf sie herzlichst begrüßen zur Führung durch diese pittoreske Kleinstadt inmitten des krisengeschüttelten Kriegsgebiets.
Die Stadt wurde im fünfzehnten Jahrhundert gegründet und mußte seither bereits etliche Male Kriege, Hungersnöte und Seuchen überstehen. 1789 fand hier die erste große ethnische Säuberung durch europäische Kolonialisten statt und seither ist es hier immer wieder zu schweren Spannungen gekommen.
Lassen Sie unseren Rundgang mit einer Besichtigung durch die geschichtsträchtige Altstadt beginnen. Beachten Sie bitte die schwer zerschossenen Häuserfronten, die diesem Stadtteil dadurch ein besonderes Ambiente verleihen, das sowohl Freiheitskämpfer als auch Regierungstruppen immer wieder zu schweren Kämpfen veranlaßt. Besonders erwähnenswert sind hier die kleinen, stilvollen Restaurants, von denen jedoch derzeit die meisten geschlossen sind, da Koch oder Besitzer den ethnischen Säuberungen zum Opfer gefallen sind. Auch all die kleinen Lokale, die früher das Nachtleben der Stadt belebten, sind heute meist geschlossen und dienen bestenfalls noch als Deckung für Heckenschützen. Sehen Sie hier zu Ihrer Linken zum Beispiel einen Vertreter dieser Gruppe, wie er eben auf eine junge Mutter anlegt. Beachten Sie bitte seine vollständige Konzentration und seine Gefühlskälte wenn er den Abzug betätigt. Diese Leute sind Meister ihres Fachs, wahre Künstler, sozusagen. Bitte, achten sie darauf, nicht auf die Tote zu treten! Die Einheimischen reagieren oft recht empfindlich auf solche Dinge.
Hier am Rande der Altstadt sehen Sie zu Ihrer Rechten die berühmte Kirche, erbaut im zerschossen-neugotischen Stil, der besondere Vollendung durch das Loch in der Ostseite des Daches erhält. Verursacht wurde diese kunstvolle Zerstörung durch schwere Artillerie, wobei bisher nicht geklärt ist, von welcher Seite. Freiheitskämpfer und Regierungstruppen werfen sich diese Tat gegenseitig vor.
Wir kommen nun in einen weniger frequentierten Teil der Stadt, der sowohl für Touristen als auch für Einheimische lediglich durch seine ausgedehnten Minenfelder interessant ist. Die Bewohner sind größtenteils geflohen und die meisten Häuser zu schwer beschädigt, um darin zu wohnen. Doch finden sich immer wieder Wagemutige hier ein, um ihren Mut bei einem Gang durch das Minenfeld zu beweisen. Auch Sie fanden natürlich eine solche Option in Ihrem Programm, denn schließlich ist dies eine All-inclusive-Reise, bei der auch das Abenteuer nicht zu kurz kommen soll. Beachten Sie bitte hier zu Ihrer Linken den ausgebrannten Reisebus. Seit auch einer unserer Busse auf eine Panzermine aufgefahren ist, veranstalten wir keine Busfahrten mehr durch die Stadt, da Führungen zu Fuß meist weniger Opfer fordern. Nun, wie ich sehe, bereiten sich hier einige Freiheitskämpfer auf einen Sturm auf eine Stellung der Regierungstruppen vor, doch ... Ja, wie ich sehe, meine Damen und Herren, haben Sie heute Glück, denn nicht immer ist es einer Reisegruppe möglich, ein Gefecht hautnah mitzuerleben. Sie sehen hier, wie die Freiheitskämpfer nun ihrerseits von Regierungstruppen aus einem Hinterhalt heraus angegriffen werden. Treten Sie bitte ein Stück zurück, um die Kämpfenden nicht zu behindern, danke. Achten Sie bitte genau auf die Taktik der überlegenen Regierungstruppen, wie sie die Freiheitskämpfer nicht nur von allen Seiten gleichzeitig unter Beschuß nehmen, sondern sie auch gleichzeitig zurücktreiben. Es ist immer wieder ein Erlebnis für Aug' und Ohr, solchen Gefechten beizuwohnen. Natürlich nicht zu vergleichen mit Kämpfen in Indien oder im kolumbianischen Dschungel, wo sich Militär und Drogenbarone erbitterte Kämpfe liefern, oder dem Beobachten eines Attentats islamischer Fundamentalisten, doch kann man auch diesen erbitterten Gefechten einen gewissen Reiz nicht absprechen. Sehen Sie nun, wie die Regierungstruppen die Freiheitskämpfer gekonnt überwältigen, um sie dann kurzerhand an Ort und Stelle hinzurichten. Lassen Sie uns nun unseren Weg fortsetzen - bitte wieder auf die Leichen achten! -, und sehen Sie nun das hochmoderne, erst vor wenigen Jahren errichtete Geschäfts- und Industrieviertel der Stadt. Nur wenige Monate nach Ausbruch der Unruhen ist die Wirtschaft im gesamten Land verständlicherweise zusammengebrochen - abgesehen natürlich vom Tourismus, der besser blüht und gedeiht als zuvor -, und so ist es nur verständlich, daß nun sämtliche Betriebe stillstehen und wir uns in einem einstmals recht regsamen, doch nun weitgehend verlassenen Teil der Stadt befinden. Von hier aus hat man einen guten Blick auf die Geschützstellungen der Regierungstruppen, die soeben dabei sind, eine strategisch wichtige Brücke, die man von hier bedauerlicherweise nicht sehen kann, zu beschießen. Solche Geschützfeuer ergeben immer wieder einen faszinierenden Effekt, besonders nachts und vor den Glasfassaden der hohen Bürogebäude. Aber bedauerlicherweise ist es nicht Nacht und die Glasfassaden der hohen Bürogebäude sind weitgehend zerschossen. So müssen wir uns leider mit dem Aufblitzen der Geschütze und den Explosionen zufriedengeben. Nur selten hört man heute noch die Schreie von Getroffenen.
Kommen wir nun mit diesem optischen und akustischen Eindruck zum Ende unserer Führung. Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen und ich darf Sie wieder einmal auf einer unserer Führungen durch Krisen- und Katastrophengebiete begrüßen. Derzeit hat unser Reisebüro Erdbebengebiete im Angebot. Zum Abschluß möchte ich Sie noch darauf hinweisen, daß es auch hier bei unserer lokalen Vertretung die üblichen Souvenirs wie Ansichtskarten, Videofilme, Autogrammkarten mit den bedeutensten Anführern von Regierungstruppen und Freiheitskämpfern, entschärfte Minen, Granatsplitter, zerschossene Helme, T-Shirts und Keramikfiguren für die Vitrine, wie, zum Beispiel, ein Landminenopfer, einen Freiheitskämpfer bei seiner Hinrichtung oder eine vergewaltigte Frau, zu kaufen gibt. Broschüren und Prospekte sind gratis erhältlich. Halten Sie sich abseits von Führungen von Gefechten und Minenfeldern fern und berühren Sie möglichst nichts. Wenn Sie noch irgendwelche Fragen haben, so richten Sie diese nun bitte an mich. Ja, bitte? Ja, der Staat wird an diesen Führungen beteiligt. Jedes Reisebüro muß einen bestimmten Prozentsatz der Einnahmen als Abgabe an die Krisengebiete in ihrem Angebot abgeben. Wieviel? Dazu bin ich leider nicht befugt, das bekanntzugeben. Aber dafür garantiert man uns, daß den Touristen nichts geschieht. Was? Herr Meier ist nicht mehr bei uns? Naja, manchmal kann es natürlich zu unvorhersehbaren Unglücksfällen kommen. Höhere Gewalt und so. Vermutlich eine Anti-Personenmine. Aber dazu haben Sie ja unsere Selbstverantwortlichkeitserklärung zu Beginn der Reise unterzeichnet. Sie reisen hier also auf eigene Verantwortung. Wie? Nein, die UNO unternimmt hiergegen nichts. Sie wird auch in keinem anderen Krisengebiet einschreiten, denn immerhin wird sie mit fünf Prozent an den Werbe- und Sponsoreneinnahmen beteiligt. Und das gibt schon ein hübsches Sümmchen. Menschenverachtend? Ach, menschenverachtend nennen Sie das? Soso! Und wie würden Sie sich bitte selbst bezeichnen, wenn sie an solch einer Führung teilnehmen? Guten Tag!"
 



 
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