Willi Corsten
Mitglied
Meine Großmutter war eine kluge Frau, die sich im Reich der Zauberwesen gut auskannte. Nacht für Nacht humpelte sie durch unsere Dorfstraße und sammelte heimlich alle Liebesträume ein, die aus den Fenstern der jungen Leute schwebten. Sie trug die hauchfeinen Gebilde in ihre Stube, füllte Stück für Stück in bereit stehende Gläser und stellte sie in den Küchenschrank. Obenauf klebten bunte Zettel, die mit den Namen der Träumer versehen waren.
Eines Tages geschahen in der Stube geheimnisvolle Dinge. Wie durch Geisterhand öffnete sich der Schrank, das Glas mit der Aufschrift Rudolf purzelte herunter von seinem Platz und zerschellte auf dem steinernen Fußboden. Behutsam nahm Großmutter den Traum in die Hand, zupfte die Scherben aus seinem Gewebe und suchte nach einem neuen Gefäß für den Unglücksraben. Allein, ihr Vorrat war erschöpft, weil im Mai die Liebe Purzelbäume schlägt. Oma krauste besorgt die Stirn. Eile war geboten, denn ein Traum verliert viel von seiner Hoffnung, wenn er schutzlos der rauhen Welt ausgeliefert ist. Die Turmuhr schlug Zwölf, das Traumgebilde in Großmutters Hand zitterte wie ein versagendes Herz.
Da huschte ein Lächeln über das Gesicht der alten Frau. Mit schelmisch blitzenden Augen nahm sie aus der unteren Reihe das Glas, auf dem Renate geschrieben stand, öffnete den Deckel und fügte den Traum des jungen Mannes hinzu. Dann fegte sie den Boden, schlenderte zu ihrer Truhe und kramte Stoff für einen dunklen Anzug heraus.
Ein paar Jahre später wurde Großmutter krank und musste lange Zeit das Bett hüten. Sie erholte sich jedoch wieder von der bösen Erkältung und setzte ihre nächtlichen Streifzüge fort. Kinderträume waren es nun, die sie in der Dorfstraße sammelte und behutsam in die Stube trug.
Wenn aber der Sturmwind an den Dachziegeln rüttelte, und die graue Nebelfee über die Felder und Wiesen geisterte, saß die Alte am Tisch und schaute verträumt hinüber zu dem kleinen Hausaltar. Neben der Bibel war ein Ehrenplatz reserviert. Im Kerzenlicht funkelte dort ein fein geschliffenes Kristallglas, das Großmutter fest in ihr Herz geschlossen hatte. ‚Julianes Traum‘ stand in zierlichen Buchstaben darauf geschrieben.
Omas Gedanken wanderten zurück, zurück zu der Taufe des Kindes, zurück auch zu den stolzen Eltern, die Renate und Rudolf heißen. Großmutter lächelte weise, holte Wolle aus dem Handarbeitskörbchen und klapperte bald schon munter mit den Stricknadeln. Diesmal war es ein rotes Sommerkleidchen, an dem sie arbeitete.
Eines Tages geschahen in der Stube geheimnisvolle Dinge. Wie durch Geisterhand öffnete sich der Schrank, das Glas mit der Aufschrift Rudolf purzelte herunter von seinem Platz und zerschellte auf dem steinernen Fußboden. Behutsam nahm Großmutter den Traum in die Hand, zupfte die Scherben aus seinem Gewebe und suchte nach einem neuen Gefäß für den Unglücksraben. Allein, ihr Vorrat war erschöpft, weil im Mai die Liebe Purzelbäume schlägt. Oma krauste besorgt die Stirn. Eile war geboten, denn ein Traum verliert viel von seiner Hoffnung, wenn er schutzlos der rauhen Welt ausgeliefert ist. Die Turmuhr schlug Zwölf, das Traumgebilde in Großmutters Hand zitterte wie ein versagendes Herz.
Da huschte ein Lächeln über das Gesicht der alten Frau. Mit schelmisch blitzenden Augen nahm sie aus der unteren Reihe das Glas, auf dem Renate geschrieben stand, öffnete den Deckel und fügte den Traum des jungen Mannes hinzu. Dann fegte sie den Boden, schlenderte zu ihrer Truhe und kramte Stoff für einen dunklen Anzug heraus.
Ein paar Jahre später wurde Großmutter krank und musste lange Zeit das Bett hüten. Sie erholte sich jedoch wieder von der bösen Erkältung und setzte ihre nächtlichen Streifzüge fort. Kinderträume waren es nun, die sie in der Dorfstraße sammelte und behutsam in die Stube trug.
Wenn aber der Sturmwind an den Dachziegeln rüttelte, und die graue Nebelfee über die Felder und Wiesen geisterte, saß die Alte am Tisch und schaute verträumt hinüber zu dem kleinen Hausaltar. Neben der Bibel war ein Ehrenplatz reserviert. Im Kerzenlicht funkelte dort ein fein geschliffenes Kristallglas, das Großmutter fest in ihr Herz geschlossen hatte. ‚Julianes Traum‘ stand in zierlichen Buchstaben darauf geschrieben.
Omas Gedanken wanderten zurück, zurück zu der Taufe des Kindes, zurück auch zu den stolzen Eltern, die Renate und Rudolf heißen. Großmutter lächelte weise, holte Wolle aus dem Handarbeitskörbchen und klapperte bald schon munter mit den Stricknadeln. Diesmal war es ein rotes Sommerkleidchen, an dem sie arbeitete.