Tragik eines Waldbewohners

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zyranikum

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Tragik eines Waldbewohners


Endlich wurde es wieder Winter in ihrer Heimat! Man spürte schon den frostigen Hauch des Windes durch die Wipfel pfeifen, aber in dem jungen Bäumchenspross, über dessen Schicksal noch in diesem Jahr gerichtet werden sollte, verursachte dieser Umstand keinerlei Missbehagen. Im Gegenteil, denn er freute sich über den weißen Winterzauber der die Äste so zärtlich bedeckte, als hätte man sie in den wohligsten Stoff gebettet. Die anderen Bäume neigten oft dazu über dieses Laster zu murren, doch die junge Tanne sah es als eine besondere Herausforderung immer mehr Schnee in ihren Ärmchen zu umklammern, bis sie die ganze Beute irgendwann nicht mehr halten konnte und mit einem Schlag alles zu Boden fiel. Sie selbst war, entsprechend ihrem Alter noch nicht besonders hoch gewachsen und so kam es auch vor, dass der Schnee der von den Nadelbäumen über ihr heruntertropfte, sie selbst traf und ihr den gesammelten Schatz aus den Händen riss. Die Laubbäume des Waldes hatten bereits ihre Blätter vom Wind in weite Ferne tragen lassen und etwas schadenfroh blickte die kleine Tanne oft die mächtigen Stämme der Eichen und Kastanien empor, da sie dieses lustige Spiel nicht spielen konnten. Da konnten ihre Äste noch so dick sein, der Herbst hatte schon längst ihr Kleid verspeist und durch das Land verstreut. Fast sah es so aus, als hätte er es gleich wieder hochgewürgt und halb verdaut die bunten Flecken wahllos auf dem Waldboden verteilt, so kam es zumindest der kleinen Tanne vor, aber die musste sich ja nicht mit solchen Problemen auseinandersetzen. Ganz andere Sorgen beschäftigten ihr sanftes Gemüt, denn wie in jedem Jahr wünschte sie sich nichts sehnlicher als von einem Menschen in den Stand des Weihnachtsbaumes gehoben zu werden. Schon vielen ihrer Bekannten und auch ihren Eltern wurde diese Ehre in den vergangenen Wintern zuteil und kaum noch erwarten konnte sie es, bis auch sie an der Reihe war gefällt zu werden, um ihren Körper in eine andere Welt tragen zu lassen. Wie konnte dieses neue Heim nur Gutes für sie bedeuten! Über Generationen wurde sich unter den Tannen des Waldes die Geschichte erzählt, wie einmal von Menschenhand ausgewählt dem Glücklichen ein Leben voller Aufmerksamkeit und Pflege entgegenstrahlte. Geschmückt und bewundert wurde man und kein Menschlein konnte sich je daran satt gesehen haben. So blieb ihr nur das unerträgliche Warten bis auch ihr Stamm die richtige Größe erreicht hatte, was sich vermengt mit dem ewigen Hoffen, dass sie auch schön genug war, zu einem tiefen Wehleid entwickelte. Wie oft schon hatte sie im Sommer den Kindern hinterhergeschaut die im Wald verstecken spielten und wie oft hatte sie ihnen dann zugerufen, dass sie sie im Winter zu ihrem Weihnachtsbaum krönen sollten, doch geantwortet hatten sie nie. "Was waren das nur für seltsame Wesen", dachte sie manchmal, "wie sie so beweglich durch die Gegend springen, als gäbe es kein Morgen!"
Beneidenswert waren sie in ihren Augen und so wünschte sie sich schon in jungen Jahren nichts sehnlicher als in Ewigkeit in ihrer Gegenwart zu weilen.
Nicht länger müsste sie im Schatten der größeren Bäume um ein wenig Licht bitten und auch der ewige Wurzelkampf im harten Boden fände so sein jähes Ende. Die Menschen würden künftig für sie sorgen und sie pflegen. Die Kinder würden mit ihr in den schönsten Tänzen in himmlischer Freude verglühen und für immer wäre sie befreit von all dem Konkurrenzkampf der im Wald so grausam tobte.
Die Eichhörnchen vergruben bereits ihre letzten Nüsslein vor der großen Ruhe des Winters, als die ersten Menschen mit der Absicht einen Baum auszuerwählen durch den Forst streiften. Viele gingen ohne sie nur im Geringsten zu beachten an der jungen Tanne vorbei, andere betrachteten sie kurz, gingen aber trotzdem weiter in den Wald hinein. Dabei rief sie doch jedem von ihnen zu! Dass sie es kaum noch erwarten könne, dass sie stark genug sei und beinah flehend klang es wie sie ihre Sehnsucht, sie müsse sterben wenn sie nicht in diesem Winter befreit werden würde zu panischer Angst steigerte. Niemals wieder wollte sie sich durch ein weiteres Jahr quälen, erst recht nicht noch einen Frühling erleben, in dem all das Glück der Wiedergeburt aus jedem Keim rauschte. Ewig unglücklich wäre sie bei diesem Anblick geworden, da ihr einziger Wunsch, ihr einziges Lebensglück mit diesem Winter von dannen geweht wäre. Manisch schlug es auf ihr Gemüt, dieser Drang nach Bewegung, nach Veränderung! Nicht länger wollte sie an diese kahle, eintönige Landschaft gekettet sein um Tag für Tag, Jahr um Jahr, an dieser unerträglichen Wiederholung des Lebenszyklus zu Grunde zu gehen. Wie sicher würde der nächste Frühling ihr Ende sein, wenn es nicht bald geschehe!
Schließlich kamen sie. Ein junges Mädchen, an der Hand des Vaters geleitet, erklärte mit emphatischer Stimme, dass sie jene junge Tanne zu Hause haben wollte, die sich so sehnsüchtig nach der Menschennähe streckte. Schon blitzte die scharfe Axt auf und mit wenigen Schlägen lag das Bäumchen flach gebettet im kalten Schnee. Schmerzvoll drangen die Hiebe durch ihr Fleisch, doch sie biss die Zähne zusammen um keinen Laut aus ihrem Leib dringen zu lassen. Die anderen Bäume hatten nie von solch einer Pein berichtet, doch war auch sie still, sie sollten ja nicht denken, sie sei zu schwach um mitgenommen zu werden. Nur ein kleines Opfer hatte sie zu bringen, bevor sie in ewigem Glück so sorglos ihr neues Dasein verkosten konnte, so dachte sie noch kurz zuvor, ehe ihr das Gegenteil bewiesen werden sollte. Gänzlich verschmutzt vom Umherschleifen durch den matschigen Schnee wurde der entwurzelte Leib dann unsanft auf ein Autodach katapultiert, auf dem er erneut gefesselt seine Reise antrat. Zu den Schmerzen der abgetrennten Wunde kam nun noch das Leid, dass sie bei jedem abgebrochenen Ästlein zu spüren bekam. Das waren wahrlich nicht wenige und wie ein Blitz fuhr es bei jedem Glied durch ihre Zellen, dass sie für ihr Glück zu opfern gedachte, doch selbst als sie die hellen Lichter der Stadt so fürchterlich blendeten kamen ihr noch keine Zweifel an dieser Entführung. Immer noch berauscht von ihren Erwartungen kompensierte sich die imaginäre Vorfreude mit dem Leid, welches sie zu durchstehen hatte. Doch es kam zu keiner Wende, denn auch als sie in dem großen Haus der Familie angekommen waren, stand das Bäumlein noch mehrere Tage eingespannt in einer widerlich schmeckenden Sieche, die sie gänzlich ohne Nährwerte nicht lange am Leben halten konnte. Erst als ihr Kleid endlich geschmückt wurde, atmete sie wieder auf und voll Hoffnung blickte sie erneut auf den ersehnten Tag, an dem ihr Glück in die Endlosigkeit verlagert werden sollte. Wie glitzerten ihre Äste plötzlich! Mit welch Prunk wurde ihre sterbende Hülle für den Tod verziert! Wie einfältig war ihr Wesen nur, dass sie noch immer nicht erkannte welch eigentliches Unheil der Mensch an ihr verrichtet hatte. Auch der große Festtag von dem ihr soviel erzählt wurde kam, doch auch diesen hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Das Mädchen, übrigens Else genannt, sang sehr seltsame Lieder, noch dazu mit einem etwas gequälten Gesichtsausdruck, doch die abendliche Gesellschaft schien davon hoch entzückt zu sein. Welch entsetzliche Todesangst machte sich in ihr breit, als auf einmal der seltsame Schmuck, der an ihren schwachen Ärmchen zog, auf einmal angezündet wurde! Unheimlich nah züngelten die Flammen um ihren trockenen Körper und wie außerordentlich gemein sie erst kicherten! "Lecke Wunden", schienen sie zu flüstern und sie wusste schon gar nicht mehr zu unterscheiden, ob ihr nun von den vielen Flammen, oder von ihrer Aufregung so heiß ums Gemüt wurde.
Ihr einziges Glück an ihrem Raub war, dass sie nicht mehr darüber nachdenken konnte, wie schön es doch im Wald gewesen war, da sie am nächsten Morgen schon welkend, mit vielen anderen ihrer damaligen Freunde, an einem Mülleimer ihren letzten Halt gefunden hatte. Unterschätzt hatte sie die Falschheit der Menschen, überschätzt hingegen das Vertrauen zu ihren Verwandten.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
das

ist von anderen leuten schon trefflicher beschrieben worden. außer der falschheit der menschen ist kein neuer gedanke drin. und den finde ich auch noch unangebracht, denn nicht die menschen hatten der tanne was vorgegaukelt, sondern ihre artgenossen.
lg
 



 
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