Trans European Airways

Martin

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"Meine Damen und Herren, wir sind jetzt startbereit. Ich möchte Sie bitten, nun auch die Tische hochzuklappen und die Lehnen senkrecht zu stellen! Vielen Dank!"
Maik überflog noch einmal die Checkliste und schaltete die Scheinwerfer ein. Grell bohrten sich die Lichtstrahlen in die Dunkelheit, die sonst nur von den weißen Begrenzungsleuchten und der beleuchteten Mittelline der Bahn aufgehellt wurde. In der Kabine hinter ihm wurde jetzt endlich auch die sterile Hintergrundmusik von James Last abgestellt, die während der ganzen Zeit aus den Lautsprechern geplätschert war. Die Manager der Trans European glaubten wohl, daß die Fluggäste daran Gefallen fanden.
Nachdem eine DC-9 der Swissair vor ihnen in den Nachthimmel geklettert war, spulte Maik routiniert seine Meldung ab:
"Frankfurt Ground, Trans European Zero-Two-Nine, Rollhalt Startbahn 25 Rechts, abflugbereit."
Die Antwort des Fluglotsen krächzte im Kopfhörer: "Trans European 029, cleared for takeoff, Wind aus 180 Grad, 10 Knoten. Guten Flug und schönen Feierabend noch!"
Maiks Herzschlag beschleunigte sich, während er langsam die beiden Gashebel nach vorn schob. Das anschwellende Grummeln und Vibrieren übertrug sich durch den Fußboden bis in die Steuersäule, die Maik in den Händen hielt. Die Maschine rollte an.
"80 Knoten", meldete der Copilot wenig später. Die Stöße der Räder auf den Betonplatten folgten in immer kürzeren Abständen.
"V-1". Das war die kritische Geschwindigkeit, jetzt war kein Startabbruch mehr möglich. Noch ein paar Sekunden später strich die Nadel des Fahrtmessers über die Zahl 140.
"Rotate!", befahl der Copilot.
Ganz vorsichtig zog Maik die Steuersäule nach hinten. Die Nase der Maschine hob sich, die weißen Lichterketten auf der Bahn wanderten nach unten aus seinem Blickfeld.
"Positive climb", kam es vom Co.
"Gear up!"
Das Fahrwerk rumpelte beim Einfahren. Maik stellte befriedigt fest, daß die drei grünen Lampen über dem Fahrwerkshebel kurz nacheinander erloschen.
"Flaps 10 Grad!"
Sirrend fuhren nun auch die Klappen ein.
"Bremsautomatik auf 'disarmed', Nicht-Rauchen-Zeichen aus!"
Er entspannte sich. War man einmal in der Luft, so war die erste kritische Phase überwunden.
Sie überflogen gerade den Beginn der Startbahn 18, und dahinter sah man schemenhaft die Lichter des nächsten Ortes. Während er die Triebwerksleistung auf 97 Prozent zurücknahm und die Maschine in eine langgestreckte Rechtskurve legte, mußte er an die Protestdemo denken, die für heute abend am Flughafenzaun unter ihm angekündigt war. Er stellte sich vor, wie seine Maschine im Nieselregen mit aufgeblendeten Scheinwerfern über die Köpfe eines verlorenen, frierenden Grüppchens von DemonstrantInnen - mit großem I - hinwegzog und wie Plakate in den Nachthimmel gereckt wurden. Darauf standen Parolen wie "Mütter gegen Flughafenausbau" oder "Frauen fordern Nachtflugverbot". Maik mußte unwillkürlich grinsen.
"TEA 029, hier Frankfurt Radar, steigen Sie auf Flugfläche 245, Radial 328 Funkfeuer COLA."
Über der dichten Wolkendecke schien der Vollmond durch die Cockpitscheiben. Wenn man genau hinsah, konnte man die charakteristische Silhouette der 737 als Schatten auf den Wolken unter ihnen entlanghuschen sehen. Sollte die Wolkendecke nur für einen Moment aufreißen, so würde man in ein paar Minuten vielleicht auch das Lichtermeer von Bonn und Köln erkennen können. Maik schaltete den Autopiloten ein und lehnte sich zurück.
"Pling! Meine Damen und Herren, Ihre Kabinencrew wird jetzt mit dem Service beginnen. Bitte beachten Sie auch die attraktiven Angebote unseres Inflight Value Shops, die Sie in der Broschüre in Ihrer Sitztasche finden: internationale Spirituosen, exclusive Parfums, stilvolle Accessoires - fragen Sie uns einfach nach Ihrem Lieblingsprodukt!"
Er nahm sich seinen Pappbecher mit Apfelsaft und griff in die Tüte mit den Gummibärchen. Es war eine winzig kleine Tüte, so wie sie an Bord üblich war. Zu einer richtige Mahlzeit kam er nur selten, wenn er flog. Obwohl er kaute, beobachtete er unablässig die Instrumente. Die Außentemperatur betrug in dieser Höhe minus 29 Grad.
Eine infernalische Sirene ließ ihn plötzlich zusammenfahren. Grell blinkten mehrere rote Warnleuchten. Feuer in Triebwerk Nummer Zwei! Mit geübten Griffen zog Maik das Kraftstoffventil zu, kappte mehrere elektrische Verbindungen und betätigte dann den Knopf für die Löschvorrichtung. Gott sei Dank, das rote Feuerwarnlicht erlosch nach einigen Sekunden. Das Flugzeug schlingerte noch etwas, aber der Autopilot kompensierte die Störung nach kurzer Zeit.
Ruhig bleiben, redete er sich ein. Er holte tief Luft und griff nach dem Mikrofon:
"Meine Damen und Herren, wir hatten eine kleine technische Störung am rechten Triebwerk, das wir aus Sicherheitsgründen abgestellt haben. Es besteht aber keinerlei Gefahr, da unsere Maschine auch mit nur einem Triebwerk sicher weiterfliegen kann. Wir erwarten eine planmäßige Landung in London-Heathrow!"

Die Tür hinter ihm ging plötzlich auf. Er schob sich den Kopfhörer in den Nacken.
"Stell' bloß dieses Dröhnen leiser! Und du mußt auch bald ins Bett!" Die Stimme hörte sich gereizt an.
"Nur noch kurz nach London", murmelte er, ohne vom Bildschirm aufzublicken, "nur noch 20 Minuten bis zur Landung."
"London! Du solltest dich mehr um deine Berufsschule..."
"Scheiß Berufsschule. Ich muß mich auf eine One-Engine-Out-Landung vorbereiten! Stör' mich nicht!" Er kniff die Augen zusammen und wedelte mit der Checkliste.
"Habt ihr nicht morgen eine Prüfungsarbeit?"
"Jaa.... Ich dachte, du bist zur Startbahn-Demo mit deiner Fraueninitiative."
"Bei dem Nieselwetter macht es keinen Sinn. Da sieht uns doch keiner."
"Ist wohl auch besser so."
"Nun sei nicht so rotzig. Kannst deine Mutter ruhig auch mal unterstützen."
"Euren Öko-Schnepfen-Verein unterstütz' ich nicht. Auch wenn Franz deswegen uunheimlich betroffen ist." Er grinste bösartig, als er erkannte, daß sie schluckte und daß sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Franz war ihr neuester Schwarm, ging mit ihr auf fast jede ihrer Demos und war wie sie Lehrer für Deutsch und Kunst.
"Dann mach' wenigstens den Computer leiser. Es reicht, wenn wir das dauernd von oben kriegen."
"Na gut." Er schnaubte.
Wortlos verließ die Mutter das Zimmer. Einen Moment lang verfolgte Maik noch den Weiterflug der 737 auf dem Monitor, aber die Atmosphäre war weg, und ohne Sound machte es keinen Spaß mehr. Er fuhr den Computer hinunter, dann löste er die Bremsen seines Rollstuhls und stieß sich von der Tischplatte ab.
Vielleicht sollte ich doch noch mal in den Schulhefter für morgen gucken, dachte er. Mühsam fingerte er den Ordner aus seiner Tasche.
"Verwaltungslehre: Kommunales Abgabenrecht und Öffentliches Haushaltsrecht", las er gelangweilt, "...die Reformierte Kommunalabgabenverordnung (RefKomAbgVO) in der Fassung vom 12.2.1971 umfaßt neben erweiterten steuerrechtlich relevanten Abschreibungsregelungen erstmals auch eine dezidiert öffentlich-rechtlich orientierte Komponente der körperschaftlichen Investitionstätigkeit, die essentiell für die kommunale Selbstverwaltung und somit letztlich für den Fortbestand der verwaltungsrechtlichen..." Womit habe ich das bloß verdient, dachte er, und das soll ich nun mein ganzes Leben lang... Besser nicht so lange darüber nachgrübeln, redete er sich ein und warf entnervt den Hefter auf den Boden.
Er manövrierte den Rollstuhl in seine Schlaf- und Fernsehecke. Über seinem Bett hingen vier Uhren, die verschiedene Zeitzonen anzeigten, und darunter ein großer bunter Plan mit der Überschrift "Luftfahrtkarte ICAO 1:500 000".
Auf dem Tischchen neben dem Fernseher lag auch noch der Pappbogen, den er heute nachmittag, nachdem er das Lernen für die Schularbeit zum ersten Mal hingeschmissen hatte, mit seinem Grafikprogramm gestaltet hatte. In der Mitte war ein stilisiertes Flugzeug abgebildet, daneben einer Reihe von comicartigen Symbolen, und über allem eine vielsprachige Beschriftung: "Für Ihre Sicherheit - For your safety - Pour votre sécurité". Mit einem gewissen Stolz betrachtete er sein Werk. Obwohl alles selbst gemalt war, sah es sehr professionell aus.
Mit viel Kraft gelang es ihm, sich aus dem Rollstuhl auf das Bett zu ziehen. Auf der Bettkante sitzend griff er nach der Fernbedienung seines Fernsehers, aber ein lautes, anschwellendes Pfeifen ließ ihn zum Fenster hinausschauen.
Eine der letzten Maschinen, die heute abend rausgingen, bevor die Nachtflugbeschränkung begann. Das Pfeifen ging in Donnern über, als die Maschine am Haus vorbeizog und eine sanfte Kurve begann. Maik reckte den Kopf. An der Anordnung der Scheinwerfer und Lichter konnte er erkennen, daß es sich um eine Boeing 737-300 oder -500 handeln mußte. Er stellte sich eine halbleere, schummrig beleuchtete Passagierkabine mit dösenden Geschäftsleuten und Urlaubern vor. Die Weltzeituhr über dem Bett zeigte jetzt 22:30 Greenwich Mean Time. Flug 029 der Trans European war planmäßig nach Heathrow gestartet.
 

La Luna

Mitglied
Hallo Martin,

eine sehr traurige Geschichte, die mal wieder verdeutlicht,
das nichts im Leben selbstverständlich ist.
Viele Menschen haben nicht viel mehr, als ihre Träume.

Sehr gut geschrieben, deine Geschichte.


Liebe Grüße
Julia
 

Martin

Mitglied
Liebe Julia,

danke für Deine nachdenkliche Antwort... hatte die Geschichte eine ganze Zeit lang auf dem PC und wußte nicht, ob ich sie hier veröffentlichen sollte...

Viele Grüße

Martin
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
re

lieber martin, genau das habe ich vor etwa einem jahr in einer usa-fersehserie gesehen. du hast das recht gut geschrieben, aber für meinen geschmack ein klein wenig zu lang. ganz lieb grüßt
 

Martin

Mitglied
Marion,

das ist ja lustig, daß es diese Geschichte schon mal im Fernsehen gab. Habe es - das ist wirklich ehrlich - nicht gewußt... naja, vielleicht ist die Idee nun ja auch wieder nicht so originell. Aber mich würde schon interessieren, was es für eine Serie war und wie groß die Ähnlichkeit der Handlung ist...

Viele Grüße
 



 
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