Traum einer jahrelang verkannten Schönheit

Traum einer jahrelang verkannten Schönheit

Also gut, dass ich mit meinen knapp 46 Jahren keine Modelkarriere mehr anzustreben brauche, ist mir schon seit einigen wenigen Tagen klar. Um ehrlich zu sein: schon seit meinem 18. Geburtstag.
Bereits damals hatte ich die vage Vermutung, dass auch mit der gezieltesten und ausdauerndsten Gymnastik aus meinen Bohnenstangen sehr wahrscheinlich keine Beine mehr werden würden. Und immer wenn ich in den Spiegel schaue, stelle ich mit Bedauern fest, dass da, wo andere Frauen einen mehr oder weniger wohlgeformten Busen haben, bei mir bestenfalls die Markierung dafür zu entdecken ist, dass mir unter gewissen Umständen auch einer hätte wachsen können.
Natürlich sind das mit der Zeit nicht die einzigen Mängel geblieben. Nach drei Schwangerschaften schlabbern ca. 2,5m² Haut zuviel um meine Hüften und mein Hals erinnert stark an einen an Altersschwäche leidenden Truthahn.
Tja, und die Zähne, die ich voller Stolz noch mein eigen nennen darf, kann ich auch an einer Hand abzählen.
Seit über 2o Jahren unterstütze ich die Industrie für Haarfärbeprodukte mit einem regelmäßigen monatlichen Beitrag, weil grau Frauen nun mal nicht interessant, sondern eifach nur alt aussehen lässt.
Jedenfalls muss ich mir wohl oder übel selbst eingestehen, dass die letzte Schublade zweifellos gezogen ist. Alles, was ich jetzt noch tun kann, ist mit dem Wort Schadensbegrenzung wohl am ehesten zu beschreiben.
Nichtsdestotrotz habe ich mir einige Illusionen bewahrt. Noch immer träume ich davon, dass mir ein großer, gutgebauter, schwarzgelockter Unbekannter auf der Straße mit schmachtendem Blick und sabbernd vor Begierde entgegentritt und mein Selbstbewusstsein als Frau mit irgendeinem blödsinnigen Kompliment in schwindelnde Höhen treibt.
Neulich war ich meinem tollkühnen Traum verdammt nahe. Ich sitze mit meiner knapp zweijährigen Tochter versonnen am Ufer eines Badesees auf der Bank. Da taucht neben mir plötzlich ein eindeutig als männlich zu bezeichnendes Wesen auf. In wilder Erwartung des Augenblicks, der gleich unweigerlich auf mich zukommen wird, beobachte ich ihn aus den Augenwinkeln. Na ja, groß ist er nicht gerade. Er ist eher klein. Um ehrlich zu sein, er reicht mir gerade mal bis zu den Schultern. Nun gut, ich bin ja durchaus bereit Abstriche zu machen. Verstohlen blicke ich auf seine spiegelblanke Glatze. Auch mit noch so viel Fantasie kann ich keine noch so winzige schwarze Locke entdecken. Auch gut, meine Erwartungen waren halt ziemlich hoch geschraubt. Ich bin wild entschlossen, mir diesen sehsüchtig erhofften Moment nicht durch irgendwelche lächerlichen Äußerlichkeiten zunichte machen zu lassen. Er öffnet seinen mehr oder weniger zahnlosen Mund und sagt: „Ich muss schon sagen,Sie...." Halt, lass es mich noch ein bisschen genießen. In Gedanken sehe ich mich schon hoch erhobenen Hauptes als jahrelang verkannte Schönheit nach Hause trippeln. Jetzt kommt’s. Jetzt sagt er gleich: Sie haben die wunderschönsten Augen, in die ich je geblickt habe. Vorbei sind die Zeiten, wo ich als graue Maus mein Dasein fristen musste. Endlich mal jemand, der mir nicht unterjubeln will,dass es im Leben doch nur auf die inneren Werte ankommt.
Na, komm schon, spucks aus!
Da hör ich den Unbekannten neben mir sagen: „ Hallo? Hören sie mir überhaupt zu? Es ist zwar nicht meine Art, fremde Frauen anzusprechen, aber bei diesem Anblick muss ich es einfach loswerden.“ Seufzend vor Wonne denke ich: Ja, jaaa, nun bring’s schon auf den Punkt. Sag schon,dass ich hübsch und attrktiv und jung aussehe.
„Sie haben eine ganz entzückende Enkeltochter, die mich total neugierig auf die Mutter macht.“
Danke!!!
 
K

Klopfstock

Gast
Liebe Gerda,

was habe ich mich gerade über Deinen "Traum....." amüsiert.
Zeigt er mir doch, daß ich nicht allein auf dieser
schönheitssüchtigen Welt bin und verstanden werde...*zwinker*. Die Pointe, die finde ich besonders
reizend gesetzt, wenn auch hart, sehr hart :((((
Alles in allem, es hat mir wahnsinnig gefallen und ich
danke Dir dafür!!!

Wünsche Dir ein schönes Wochenende
und sende liebe Grüße :)))
 

aboreas

Mitglied
Hallo Gerda Häusler.

Also wenn man die negative Selbsteinschätzung der holden Weiblichkeit für bare Münze nimmt, dann müsste der glatzige Herr am See seiner vordergründigen Schmeichelei die Frage hinzufügen, ob das Kind vielleicht vertauscht worden ist im Krankenhaus? Vielleicht wollte er auch einfach nur um Feuer fragen oder nach einen Euro für die Duschkabine.

Wie dem auch sei. Geschmäcker sind verschieden. Was mir wirklich missfallen hat, dass war dieses Klischee von den schwarzen Locken. Schwarze Locken... Wie furchtbar!! Dabei kann Schönheit so einfach sein... :)

Und jetzt das, worauf es ankommt: Es ist der Ton, der die Person interessant macht, der ironisch-verspielte Umgang mit den biologischen Vorgaben und den Spuren, die das Leben hinterlässt, die, wie ich finde, einen Menschen oft erst adeln.
Und das habe ich wirklich sehr genossen beim Lesen des Textes.

Gruß. aboreas
 



 
Oben Unten