Traum von Fliegen / Aus gegebenem Anlass: 50. Wiederkehr des Mauerbaus in Berlin

Lyrischa

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Traum vom Fliegen

Purer Zufall, dass wir einander begegneten , ich - die Studentin hier aus dem Dorf, zukünftige Lehrerin - und er, Handballer aus dem Westen.

Ich lebe an der Ostsee, studiere in Greifswald und werde in zwei Jahren mit dem Diplom für Lehramt an Erweiterten Oberschulen abschließen. Zur Zeit verbringe ich die Semesterferien in meinem Heimatort.
Durch meinen Bruder, Abwehrspieler in der Handballmannschaft, erfahre ich, dass Gäste aus Hanau und Offenbach am Main zum Sportlertreffen und Freundschaftsspiel in unseren Ort gekommen sind. Das ist nicht außergewöhnlich, Hessen und Thüringen hatten schon bald nach Kriegsende derartige Kontakte aufgenommen. Die Mitglieder der Gastmannschaft logieren bei ihren Sportfreunden, wo sie auch frühstücken. Das Mittagessen, getragen vom Handballverein, wird gemeinsam in der Dorfgaststätte eingenommen.
Zwischen den Begegnungen und Freundschaftsspielen halten die Sportler aus Ost und West brieflich und telefonisch Kontakt; Freundschaften wachsen. Er - zweiundzwanzig - ist unter ihnen.

Vielleicht gibt es ja Liebe auf den ersten Blick?
Ich trete aus unserem Hoftor und schaue in zwei leuchtend blaue Augen! Spätestens abends beim Sportlerball sind wir unsterblich in einander verliebt. Wir sehen uns täglich.
Was ist schon eine Woche?

Am Ende der Zeit Tränen beim Abschied,...Adressentausch,...das Versprechen, oft zu schreiben und sich möglichst ein paar mal im Jahr zu treffen. Leicht ist das nicht; man braucht dazu offizielle Legitimation. Aber wir schaffen es. Regelmäßig kommen Briefe. Und diese wunderschönen Ansichtskarten! Von den herrlichsten Gegenden der Bundesrepublik: der Loreley am Rhein, von den Gipfeln der Alpen und Fotos aus Spanien und der Mittelmeer-Region.

Ich habe verlängertes Wochenende...Osterfeiertage...Er besucht seinen Freund, schräg gegenüber meinem Elternhaus.
Inzwischen sind wir bereits ein Jahr befreundet. In dieser Zeit hat er, um einen offiziellen Reisegrund zu haben, sogar an gesellschaftlichen Ereignissen in der DDR teilgenommen.
Plötzlich schreibt er mir, dass er sich am Wartburgtreffen der deutschen Jugend beteiligen wird. Er zahlt das Hotelzimmer für mich. So haben wir noch mal einen gemeinsamen Tag.
Auf Dauer aber können diese Fernkontakte und Kurzbegegnungen keine Lösung sein, oder? Meine Nähe fehlt ihm, sagt er.
Bald geht das zweite Jahr zu Ende, danach wird mein Berufseinsatz beginnen.
Wir vereinbaren, die nächsten Semesterferien bei seinen Eltern, in seiner Heimat zu verbringen, deren Schönheit er mir zeigen will.In Vorbereitung darauf steht im nächsten Brief:
"Ich habe mir also mein erstes Auto gekauft, einen Käfer, für uns beide groß genug. Mit dem werden wir eine Tour entlang dem Rhein machen, vom Main bis nach Schaffhausen!
Nach deinem letzten Tag in Greifswald wirst du auf der Heimfahrt wie immer in Berlin umsteigen, nur diesmal in Tempelhof! In eine PAN-AM-Maschine nach Frankfurt am Main. Ich werde das Flugticket für dich hinterlegen lassen und werde dich in Frankfurt am Flughafen abholen!"

Unsicher frage ich am Flugschalter nach den Papieren auf meinen Namen. Selbstverständlich sind sie da! Abfertigung ohne Komplikation. Wie vorhergesagt. Die Maschine startet ins Blau.

Mein erster Flug! Ich bin dem Himmel nah...! Ein Sommerabend 1960 über dem Rhein-Main-Gebiet. Unter mir die sternen- bestückte Metropole, der lichtüberflutete Großflughafen!
Die Passagiermenge schiebt mich durch sich selbständig öffnende Glaswände.Ich komme aus dem Dunkel; angestrengt schaue ich ins gleißende Licht auf vorwärts strebende Menschenströme.
Wie soll ich da jemand erkennen? Wie würden wir uns da finden?
Mein Kopf sucht krampfhaft nach einer Lösung...Da werde ich von zwei kräftigen Armen gepackt, höre wie aus dem Jenseits meinen Namen...Wir fallen uns um den Hals!
Ich kann es nicht fassen,...Wie selbstverständlich steht er da, wo ich entlang kommen muss. So einfach ist das!

Vor uns liegen drei wundervolle Wochen! Mit Familie und Freunden und mit Äppelwoi, dem hessischen Nationalgetränk!
Obstwiesenhänge am Main, das rebenumrankte Fachwerkhaus. Ein sauber gefliester Hof, an der Rückseite drei Garagen, wo einst Schweine und Ziegen ihre Stallung hatten.
Im Innern des Hauses bestaune ich den großen, geschmackvollen Wohnraum, der aus drei ehemaligen Kammern entstanden ist. Selbstverständlich bekomme ich sein Zimmer; er hat nebenan die Couch. Im Untergeschoss, einem großen, komfortablen Bad, dusche oder bade ich täglich. Es ist ein heißer Sommer...
In der zweiten und dritten Woche werden unsere Erkundungsräume weiter. Uns allein gehört die Märchenlandschaft der Weinberge, das Panorama des Rheingrabens, Deutsches Eck, Stolzenfels, Rüdesheim...und...und...und...Eine Bilderbuchwelt!
Gäbe es auch ein Bilderbuchleben? Man müsste es ausprobieren. Am besten sofort! Wer weiß, ob es eine zweite Gelegenheit gibt?

Zu Hause warten der Berufseinsatz, die Lehrertätigkeit, vor allem aber die Eltern, die jüngeren Brüder. Einer gerade das Abitur in der Tasche. Er will studieren.
Das aber liegt in diesem Moment in meinen Händen. Sie würden ihn nicht zulassen zum Studium, wenn ich in den Westen ginge. Auf keinen Fall! Seine Zukunft, das Schicksal der ganzen Familie hängt jetzt von meiner Entscheidung ab. Er muss erst Fuß gefasst haben an der Uni, ehe ich einen solchen Schritt tun kann. Ein Jahr muss ich noch warten!
Und auch mir selbst will ich etwas beweisen...
Zehn Monate später: das Diplom in der Tasche! Ich unterrichte bis zur zehnten Klasse.
Helmut und ich treffen uns wieder zu Pfingsten; die fortschrittliche deutsche Jugend in Eisenach!
"Der Sommer ist nicht mehr weit. Wir wissen ja, wie's funktioniert. Nur noch zwei Monate. Dann Neuauflage, wie gehabt", sagt er.
"Bis Mitte August habe ich Dienst: Ferienlager mit den Klassen. Da komme ich nicht weg. Das geht alles nach Vorschrift und Terminplan. Wir stehen unter ständiger Kontrolle."
"Alles klar. Bleib ganz ruhig. - Es läuft, sobald du Urlaub hast."

Ich freue mich, Urlaubsstimmung kommt auf, nur noch ein paar Tage, dann habe ich frei!
Ich lege erste Wäschestücke in das leichte Köfferchen, verfalle ins Träumen. Ich sehe mich im Flugzeug zwischen silbrigen Schäfchenwolken durch das azurblaue Himmelsmeer gleiten. Unter mir die saftig grünen Mittelgebirge, ab und an durch ein schmales, helles Schleifenband zerschnitten.
Beliebig eingestreut oder willkürlich in Mulden und an sanfte Hänge gebettet, winzige und größere rote und goldbraun in der Sonne glänzende Kleckse: Städte und Dörfer.

Im Kopf das beruhigende sonore Brummen des Flugzeugs sinke ich in den Sessel, schließe die Augen...
Aus dem Lautsprecher kommt eine Durchsage. Ein Hinweis der Flugbegleitung?
Er könnte wichtig sein; ich konzentriere mich.
Doch das ist gar nicht die angenehme Stimme des Flugkapitäns und erst recht nicht der liebliche Klang einer Stewardess. Militant, grob der Ton dieser Nachricht!
Sofort hellwach, die Augen offen, sitze ich aufrecht. Misstrauisch verfolge ich jetzt die Meldung, die aus dem Radio kommt:
"Zur Sicherung des Friedens und zum Schutz der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik ist die offene Grenze zum kapitalistischen Ausland heute in Berlin ein für allemal geschlossen worden!"

Heute?...In Berlin?...Ein für allemal?
Von der Ostsee bis zum Fichtelgebirge zieht sich bereits doppelter Stacheldrahtzaun mit Minenstreifen zwischen Ost und West. Berlin ist bisher der einzige Ort geblieben, an dem man noch ohne staatliche Erlaubnis zwischen den Zonen, zwischen den Gesellschaften wechseln kann.
Heute? - Quer durch Berlin, direkt am Brandenburger Tor vorbei,dreiundvierzig Kilometer mitten durch die Stadt und einhundertzwölf Kilometer um die Westsektoren herum, wurde über Nacht eine Mauer - die Mauer - gebaut!
Friedrichstraße ist Endstation für alle Ostdeutschen und Ostberliner! Volkspolizei kontrolliert die Zugänge zu den Bahnsteigen und die Pässe in der S-Bahn.
Tempelhof ist unerreichbar geworden, und damit auch Frankfurt am Main!
Meine Vorfreude ausgelöscht durch bittere Enttäuschung. Schwermut breitet sich in mir aus. Vorbei mein Traum vom Fliegen!
Heute ist der 13. August 1961...Das Aus für eine Liebe!


- Ende -
 
M

Marlene M.

Gast
eine berührende Geschcihte, liebe Lyrischa.
Ich persönlich hatte mehr Glück-lächel. Wir haben uns ers nach dem mauerfall kennen gelernt...
Ein Lächeln von Marlene
 



 
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