Trauma

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DaBink

Mitglied
"So ein Affe!", murmelte Sarah. Mit einem Nicken stimmte ich ihr zu, schaute aber nicht weg. Ich starrte ihn an wie man einen Schwerverbrecher anstarrt. Ich hasste Steve abgrundtief. Er ging gerade wieder seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Er schikanierte einen der neuen Fünftklässler, umringt von belustigten Mitschülern. Ich stand am Anfang des Flurs, nah genug, um alles zu sehen aber zu weit entfernt, um jedes Wort verstehen zu können. Steve nahm die Tasche des Kleinen, hielt sie hoch in die Luft, um sich darüber lustig zu machen, dann drehte er sie um und ihr Inhalt ergoss sich über den Schulflur. Bücher, Hefte, Stifte, lose Blätter.

"Hah! Was hast du denn für ein behindertes T-shirt an?"
Martin lachte laut und seine Freunde gröhlten mit. Mit den Stoppeln im Gesicht sah er bereits aus wie ein Zwölftklässler, aber ich wusste, er war noch nicht so alt. Man sagte von den Ältesten, dass sie die Neuen nicht mobben. Er riss mir meine Schultasche aus der Hand und warf sie auf den Flur; sie flog in hohem Bogen durch die Luft bevor sie auf dem Boden aufschlug und platzte wie ein mit Konfetti gefüllter Luftballon. Nach der letzten Stunde hatte ich meine Sachen so schnell es eben ging in meine Tasche gestopft, um ihm nicht über den Weg laufen zu müssen, dabei hatte ich mein Etui wohl nicht geschlossen. Meine Stifte verteilten sich also auf dem Schulflur wie Schüler auf dem Pausenhof. Martins Freunde traten auf den Inhalt meiner Tasche ein und kickten sie herum. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich war hilflos.

"Ooh, musst du weinen? Bist du noch ein kleines Baby?"
Steves Freunde bekamen sich vor Lachen gar nicht mehr ein. Ich ballte die Fäuste. Sarah tippte mich von hinten an.
"Der Unterricht fängt an, kommst du?"
Ich starrte immernoch in dieselbe Richtung, fest entschlossen. Steve kniete sich vor dem Kleinen hin und hob einen Textmarker auf.
"Ich hab' noch was zu erledigen.", meinte ich zu ihr.

Ich lief los. Ich wollte meinen ersten Schultag wirklich nicht mit dem Kopf in der Toilette krönen. Doch Martin war natürlich schneller als ich. Er packte mit seiner riesigen Hand mein Genick und hielt mich fest. Dann schwang er mich über die Schulter. Ich schrie, dann heulte ich. Das Lehrerzimmer war auf der anderen Seite der Schule und dazwischen war die lärmerfüllte Pausenhalle, schreien half nichts. Verzweifelt ballte ich die Fäuste und schlug mit aller Kraft auf seinen Rücken ein, während er mich zu den Toilette trug.

Ich stand nun hinter Steve. "Steh' mal auf", sagte ich unerwartet laut. Der Junge sah mich mit verheultem Gesicht an. Dann stand Steve auf. Er war etwas größer als ich, das bemerkte ich erst jetzt. Ich hatte mich noch nie so nah an ihn herangetraut.
"Was gibt's? Oh hey, du kannst die andere Seite vom Schnurrbart malen, wenn du-"
Ich unterbrach ihn mit meiner Faust in seinem Gesicht. Erschrocken sah er mich an, das hatte er wohl noch nie erlebt. Seine Freunde hatten das Lachen inzwischen eingestellt. Ich schlug erneut zu. Und erneut. Er fiel auf den Boden. Er war scheinbar viel zu verdutzt um sich wehren zu können. "WAS IST LOS?", brüllte ich. "HAU AB, LASS DIE KLEINEN KINDER IN RUHE!". Ich kam mir furchtbar laut vor. Steve sah mich entsetzt an. Dann stand er auf.
"Also schön, wenn du dich unbedingt Prügeln-"
Ich schlug und schlug auf ihn ein. Er blutete schon, er konnte nicht reagieren. Seine Freunde rannten weg, ich trat ihm ins Gemächt. Er fiel wieder hin, kroch von mir weg.
"Los, verschwinde!" Er zögerte nicht, er rannte einfach weg. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Es schien, als würde sich gerade in meiner Brust etwas lösen, was sich vor langer Zeit dort festgesetzt hatte. Das war wohl das Gefühl des Sieges. Ich half dem Jungen, seine Sachen einzupacken. Er stammelte dann etwas von wegen 'Danke' und eilte davon. Aber das war nicht wichtig.
Beschwingt ging ich in den Unterricht, der Lehrer war noch nicht eingetroffen.
"Was hast du noch gemacht?", fragte Sarah.
"Ich habe Martin die Stirn geboten", antwortete ich stolz. "Äh, ich meine Steve."
 

DaBink

Mitglied
"So ein Affe!", murmelte Sarah. Mit einem Nicken stimmte ich ihr zu, schaute aber nicht weg. Ich starrte ihn an, wie man einen Schwerverbrecher anstarrt. Ich hasste Steve abgrundtief. Er ging gerade wieder seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Er schikanierte einen der neuen Fünftklässler, umringt von belustigten Mitschülern. Ich stand am Anfang des Flurs; nahe genug, um alles zu sehen, aber zu weit entfernt, um jedes Wort verstehen zu können. Steve nahm die Tasche des Kleinen, hielt sie hoch in die Luft, um sich darüber lustig zu machen; dann drehte er sie um und ihr Inhalt ergoss sich über den Schulflur. Bücher, Hefte, Stifte, lose Blätter.

"Hah! Was hast du denn für ein behindertes T-shirt an?"
Martin lachte laut und seine Freunde gröhlten mit. Mit den Stoppeln im Gesicht sah er bereits aus wie ein Zwölftklässler, aber ich wusste, er war noch nicht so alt. Man sagte von den Ältesten, dass sie die Neuen nicht mobben. Er riss mir meine Schultasche aus der Hand und warf sie auf den Flur; sie flog in hohem Bogen durch die Luft, bevor sie auf dem Boden aufschlug und platzte wie ein mit Konfetti gefüllter Luftballon. Nach der letzten Stunde hatte ich meine Sachen so schnell es eben ging in meine Tasche gestopft, um ihm nicht über den Weg laufen zu müssen. Dabei hatte ich mein Etui wohl nicht geschlossen. Meine Stifte verteilten sich also auf dem Schulflur wie Schüler auf dem Pausenhof. Martins Freunde traten auf den Inhalt meiner Tasche ein und kickten sie herum. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich war hilflos.


"Ooh, musst du weinen? Bist du noch ein kleines Baby?"
Steves Freunde bekamen sich vor Lachen gar nicht mehr ein. Ich ballte die Fäuste. Sarah tippte mich von hinten an.
"Der Unterricht fängt an, kommst du?"
Ich starrte immernoch in dieselbe Richtung, fest entschlossen. Steve kniete sich vor dem Kleinen hin und hob einen Textmarker auf.
"Ich hab' noch was zu erledigen.", meinte ich zu ihr.

Ich lief los. Ich wollte meinen ersten Schultag wirklich nicht mit dem Kopf in der Toilette krönen. Doch Martin war natürlich schneller als ich. Er packte mit seiner riesigen Hand mein Genick und hielt mich fest. Dann schwang er mich über die Schulter. Ich schrie, dann heulte ich. Das Lehrerzimmer war auf der anderen Seite der Schule und dazwischen war die lärmerfüllte Pausenhalle - schreien half nichts. Verzweifelt ballte ich die Fäuste und schlug mit aller Kraft auf seinen Rücken ein, während er mich zu den Toilette trug.

Ich stand nun hinter Steve. "Steh' mal auf", sagte ich unerwartet laut. Der Junge sah mich mit verheultem Gesicht an. Dann stand Steve auf. Er war etwas größer als ich, das bemerkte ich erst jetzt. Ich hatte mich noch nie so nah an ihn herangetraut.
"Was gibt's? Oh hey, du kannst die andere Seite vom Schnurrbart malen, wenn du-"
Ich unterbrach ihn mit meiner Faust in seinem Gesicht. Erschrocken sah er mich an; das hatte er wohl noch nie erlebt. Seine Freunde hatten das Lachen inzwischen eingestellt. Ich schlug erneut zu. Und erneut. Er fiel auf den Boden. Er war scheinbar viel zu verdutzt um sich wehren zu können. "WAS IST LOS?", brüllte ich. "HAU AB, LASS DIE KLEINEN KINDER IN RUHE!". Ich kam mir furchtbar laut vor. Steve sah mich entsetzt an. Dann stand er auf.
"Also schön, wenn du dich unbedingt prügeln-"
Ich schlug und schlug auf ihn ein. Er blutete schon; er konnte nicht reagieren. Seine Freunde rannten weg, ich trat ihm ins Gemächt. Er fiel wieder hin, kroch von mir weg.
"Los, verschwinde!" Er zögerte nicht, rannte einfach weg. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Es schien, als würde sich gerade in meiner Brust etwas lösen, was sich vor langer Zeit dort festgesetzt hatte. Das war wohl das Gefühl des Sieges. Ich half dem Jungen, seine Sachen einzupacken. Er stammelte dann etwas von wegen 'Danke' und eilte davon. Aber das war nicht wichtig.
Beschwingt ging ich in den Unterricht; der Lehrer war noch nicht eingetroffen.
"Was hast du noch gemacht?", fragte Sarah.
"Ich habe Martin die Stirn geboten", antwortete ich stolz. "Äh, ich meine Steve."
 

Val Sidal

Mitglied
DaBink,

ein gelungener Text. Die Idee, die beiden Erlebnisräume und -zeiten zu verschachteln ist der Erzählweise angemessen, selbst wenn die Markierung der Differenz nur mit den Namen und mit dem Schrifttyp realisiert wird.
Hierin liegt auch die Gelegenheit, aus einer intensiven, aber dem Thema "Trauma" doch (noch) nicht ganz gerecht werdenden Geschichte, mehr zu machen.

Ein Entwicklungspfad wäre zum Beispiel, wenn der Text den emotionalen Prozess des Ich-Erzählers vom Beobachter zum Handelnden mit dem geeigneten Zoom zeigen würde. Das darin liegende Spannungspotenzial würde die Katarsiswirkung am Ende steigern: der Leser würde es ahnen/befürchten/hoffen - jedenfalls gespannt und mitfühlend seiner Reaktion entgegenlesen.
Oder wenn die Auswirkungen des Traumas auf den Ich-Erzähler, zum Beispiel in der Interaktion mit Sarah, gezeigt würden. Oder ...

Die Erruption am Ende
Ich schlug und schlug auf ihn ein. Er blutete schon; er konnte nicht reagieren. Seine Freunde rannten weg, ich trat ihm ins Gemächt. Er fiel wieder hin, kroch von mir weg.
ist märchen- aber nicht kurzgeschichtenhaft.

Hier würde ich lieber den inneren Kampf des Ich-Erzählers erleben, wie aus dem vergegenwärtigten Trauma sein explosiver Konflikt hervorströmt, ihn überwäligt oder lähmt oder über sich hinaus wachsen lässt - in die Richtung: "Ich muss schlagen! Ich werde schlagen!" einerseits, und "Ich habe Angst! Ich fürchte den Schmerz!", und "Ich muss das beenden - aber ich bin zu schwach!"

Ein offenes Ende, im Zusammenspiel des Ich-Erzählers mit Sarah gestaltet, ließe unterschiedliche und spannende Ausgänge zu, die dem Thema nicht abträglich wären - den Punkt hatte der Text vorher schon gemacht.

Wenn meine Anmerkungen nicht hilfreich sind, dann - Pardon.
 



 
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