Traumberuf

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xavia

Mitglied
Maria schlendert durch den Park und erfreut sich an dem Lichterspiel, das die Sonne durch das frische, noch nicht ganz dichte Frühlingskleid der großen Bäume auf den Weg malt. Auf einer großen Rasenfläche, die sich bis zu einem schmalen Wasserlauf erstreckt, spielen ein paar Kinder ein Spiel, dessen Regeln wohl nur Kinder kennen, bei dem man einander nachläuft und sich gelegentlich zu zweit fallenlässt und juchzend über den Rasen kugelt, von begeistertem Applaus der übrigen begleitet, um dann die wilde Jagd wieder aufzunehmen. Eine Gruppe Jugendlicher kauert mit mehreren „Sixpacks“ Bier am Ufer auf einer blauen Decke. Zwei sitzen eng umschlungen, eine spielt Gitarre, mehrere summen mit, ein lauer Wind trägt die Töne zu ihr herüber. Maria fragt sich, warum sie wohl in so einer Situation rauchen und Bier trinken. – Ist es zu viel Glück für ihre jungen Seelen? Ein Mädchen steht allein mitten auf dem Rasen und guckt zu ihr her. Als sie hinsieht, guckt es weg und geht ein paar Schritte, aber aus den Augenwinkeln kann sie bald darauf sehen, dass das Kind sie weiterhin beobachtet. Ein Mann sitzt mit dem Rücken an einen Kinderwagen gelehnt auf der Wiese und liest in einem Buch.

Maria hat eine Tüte mit zwei belegten Brötchen dabei und eine kleine Flasche Orangensaft, Mittagessen. Ihre Lieblingsbank ist noch frei, wie schön! Sie setzt sich in den Schatten und betrachtet eine Weile das fröhliche Leben und Treiben auf der Wiese, bevor sie eines der Brötchen auswickelt und mit großem Appetit hineinbeißt.

Als sie ihr Mahl fast beendet hat, merkt sie, dass das Mädchen jetzt seitlich von ihrer Bank steht und sie immer noch ansieht. Es hat kluge braune Augen und glattes hellbraunes Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt und in der Sonne glänzt. Die Kleine ist vielleicht zehn Jahre alt, trägt blaue Jeans und Turnschuhe und einen leuchtend roten Kapuzenpulli, in dessen Taschen sie ihre Fäuste versenkt hat. Im Gegensatz zu der entschiedenen Pose ihrer Hände steht sie eher wackelig auf dem rechten Fuß, während der linke notdürftig dabei hilft, das Gleichgewicht zu halten, aber den Eindruck erweckt, er wisse nicht so recht, wohin.

Anscheinend sucht das Kind den Kontakt zu ihr und Maria versucht, es ihm leichter zu machen, indem sie ihm einen Platz auf der Bank anbietet, den die Kleine ohne zu zögern annimmt und dann wie gebannt auf die Wiese vor ihnen blickt.
Maria kaut weiter und trinkt einen Schluck. Sie merkt, dass das Mädchen nicht gekommen ist um zu sitzen, dass es sich nicht entspannt sondern mit etwas ringt. So macht sie einen weiteren Schritt:
„Ich heiße Maria, und du?“
„Caroline“, und nach einer Pause: „Wir haben da so eine Hausaufgabe …“
„Ja?“
„Wir sollen 'rausfinden, was unser Traumberuf ist und einen Aufsatz darüber schreiben.“
„Oh, wie interessant. Und wie willst du das herausfinden?“
„Wir sollen Leute fragen.“
Na, denkt Maria, da ist sie ja an die Richtige geraten und schweigt nachdenklich.
„Ich möchte Sie fragen.“ Caroline sieht Maria erwartungsvoll von der Seite an.
„Was mein Traumberuf ist? Wieso gerade mich? Wäre es nicht naheliegend, deine Eltern zu fragen? Tanten? Onkels?“
Ein tiefer Seufzer. Das Kind guckt wieder auf die Wiese. „Die haben alle nicht ihren Traumberuf, bestimmt nicht: Die sind gehetzt und genervt und wissen ganz genau, in wie vielen Jahren sie Rente kriegen werden. Die haben Montags ganz schlechte Laune und Freitags nachmittags gute, die aber nicht lange bleibt. Abends sind sie müde und interessieren sich für nichts, nur für Fernsehen und Zeitung.“
„Da hast du ja schon ordentlich über das Thema nachgedacht. Willst du das nicht auch in deinen Aufsatz hineinschreiben?“
„Nee, das weiß doch jeder.“
„Und wieso glaubst du, dass das bei mir anders ist?“ will Maria wissen.
Caroline muss nicht lange nachdenken, das hat sie anscheinend schon auf der Wiese getan: „Ich hab' jemanden gesucht, der glücklich aussieht. Heute ist Montag. Den Mann da hinten mit dem Kinderwagen, den könnte ich auch fragen, aber der liest ja. Sie essen nur. Da kann man reden.“
Maria lächelt über die Klugheit dieses Kindes: „Und nun möchtest du wissen, was mein Beruf ist? Was mein Traumberuf ist?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich soll ja über meinen Traumberuf schreiben. Ich möchte wissen, wie Sie es gemacht haben. Wie Sie gefunden haben, was Sie machen wollten.“

Maria staunt darüber, wie zielgerichtet dieses Mädchen mit der Aufgabe umgeht und will nun ihrerseits einen ihm gebührenden Beitrag leisten:

„Ich bin nicht gerne zur Schule gegangen. Nicht, dass es mir schwergefallen wäre, aber ich hatte einfach keine Lust dazu, nach deren Regeln zu funktionieren. Als ich so alt war wie du, da wusste ich eigentlich nur, was ich nicht werden wollte: Lehrerin, Verwaltungsangestellte, Polizistin, Kellnerin, Politikerin, Putzfrau, Verkäuferin, Tischlerin, Ärztin, Briefträgerin, … Das alles sind Berufe, bei denen ich nach jemandes Pfeife tanzen müsste.“
„Ja“, freut sich Caroline, „da sind die meisten Berufe meiner Verwandten schon dabei!“ Gespannt faltet sie die Hände im Schoß und blickt zu ihrer Bank-Nachbarin auf, wartet auf weitere Informationen.
„Ich habe in der Zeit, in der ich zur Schule gehen musste, allerlei gelernt. Damit meine ich nicht Algebra oder die Geschichte des Römischen Reichs. Ich habe gelernt, wie Menschen funktionieren. Jeden Tag konnte ich beobachten, wie unsere Lehrer und Lehrerinnen um ihre Autorität kämpften – oder sie einfach hatten. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, woran es liegt, dass wir der einen gehorchten und dem anderen auf der Nase herumtanzten. Stundenlang konnte ich jeden Tag studieren, was da ablief und meine Schlüsse daraus ziehen. In den Klassenarbeiten reichte meist eine strebsame Nachbarin zum Abschreiben oder ein Schummelzettel. Viel war es ja nicht, was sie von uns erwarteten und da ich auch meine Mitschüler und Mitschülerinnen eingehend studierte, fand ich stets eine helfende Hand.“

Caroline lauscht atemlos diesen Ausführungen. Noch nie im Leben hat sie gehört, dass eine Erwachsene ihr gegenüber Klartext redet über die Schule. Alle haben immer nur dieselben eintönigen Ermahnungen für sie. Maria fährt fort:

„Als ich mit der Schule fertig war, wusste ich, was ich werden wollte. Meine Eltern waren dagegen und sie waren entsetzt. Vielleicht hat mein Berufswunsch damit zu tun gehabt, dass ich sie ärgern wollte, ich weiß es nicht genau, aber das spielt heute ja auch keine Rolle mehr. Ich hatte zu der Zeit schon mehrere feste Freunde gehabt, aber das hat nie länger als ein paar Wochen gedauert. Da war es nämlich genau dasselbe: Jeder von ihnen wollte, dass ich ihm gehöre und nach seinen Regeln funktioniere.“

„Sie wollen alle nur das Eine“, sagt meine Mutter.

„Ja, das auch“ bestätigt Maria, „aber damit ist es ja noch nicht genug. Die meisten von ihnen wollten, dass ich mein Leben mit ihnen verbringe. Das war mir entschieden zu lange. So interessant fand ich keinen von ihnen. Manche sehe ich jetzt noch gelegentlich und ich hatte Recht: Sie sind so geworden wie deine Verwandten: Langweilig.“

Caroline ist jetzt restlos überzeugt: „Das ist ja so cool! So will ich das auch machen! Meine eigenen Regeln, nur tun, was ich will!“

„Na ja, ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht“, räumt Maria ein, „man braucht wohl auch ein wenig Glück. In meinem Fall war es eine Tante, die im richtigen Moment gestorben ist und mir ihre Eigentumswohnung vererbt hat. Ohne das hätte ich mich nicht selbständig machen können. Aber ich glaube“, tröstet sie das erschrocken dreinblickende Mädchen, „wenn du weißt, was du willst, dann ist das Glück auf deiner Seite.“

„Mein Papa sagt dazu: ‚Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.‘“

„Ganz genau“, freut sich Maria, ein wenig erschrocken über die derben Worte aus dem zarten Kindermund. „Weißt du nun alles was du brauchst für deinen Aufsatz?“

„Ja! Vielen, vielen Dank!“

„Und was ist nun dein Traumberuf?“

„Ich will Psychologin werden mit einer eigenen Praxis.“

Interessante Entwicklung, denkt Maria und verabschiedet sich lächelnd von Caroline. „Viel Erfolg mit dem Aufsatz und mit deinem Berufswunsch. Ich muss jetzt nach Hause, habe heute noch einen Termin.“

Zufrieden mit sich und der Welt schlendert Maria zurück zu dem nahe gelegenen Hochhaus, in dessen oberstem Stockwerk ihre exklusive Wohnung mit traumhaftem Blick über den Park liegt. Dort zieht sie sich in aller Ruhe um und blättert auf dem Sofa sitzend in einer Illustrierten, bis der Gong an der Haustür ertönt. Sie greift nach der Peitsche, schreitet zum Eingang und öffnet die Tür. Ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, etwa so groß wie sie selbst, hätte sie nicht diese atemberaubend hohen schwarzen Lederstiefel an, steht im Flur.

„Du bist drei Minuten zu früh“, sagt sie in gebieterischem Ton, „du bist ein wirklich böser, böser Junge.“ Sie lässt ihre weiche Lederpeitsche langsam und drohend mit der rechten in die linke Hand klatschen. „Komm rein, wenn du dich traust. Ich habe mir eine ganz besondere Strafe für dich ausgedacht.“
 

Soean

Mitglied
Eine richtig schöne kleine Geschichte, mit viel Tiefe bei dieser Länge. Ich habe das kleine Mädchen sehr lieb gewonnen und hätte noch Stunden (oder Seiten), dem Gespräch folgen können.

Der Sprung zur Psychologie des Mädchens, gefällt mir sehr gut und ist im ersten Moment das naheliegenste. Fast hätte man meinen können, dass Maria ebenfalls Psychologin ist. Weit gefehlt. glänzend inszeniert!

Hat Spass gemacht!!!!

Liebe Grüße, Sören
 

Wipfel

Mitglied
Hi,
ich bin nicht ganz so euphorisch, was den Text betrifft. Sprachlich hätte er mehr Sorgfalt verdient.
Ein Mädchen steht allein mitten auf dem Rasen und guckt zu ihr her. Als sie hinsieht, guckt es weg
Hm. Das Gucken ist nicht mein Ding. Oder hier:
[blue]In den Klassenarbeiten reichte meist[/blue] eine strebsame Nachbarin zum Abschreiben oder ein Schummelzettel. Viel war es ja nicht, was sie [blue](Die Nachbarin und der Schummelzettel?)[/blue] von uns erwarteten und da ich auch meine Mitschüler und Mitschülerinnen eingehend studierte, fand ich stets [blue]eine helfende Hand[/blue]
Frage: Was reichte die Nachbarin? Die helfende Hand? Ich versteh das als Mann, oder eben auch nicht. Hat sicher etwas mit dem Ende der Geschichte zu tun? Dann müsste es heißen: fand[blue]en[/blue] [strike]ich[/strike] [blue]sie[/blue] stets [blue]eine helfende Hand.[/blue]
Ich hatte zu der Zeit schon mehrere feste Freunde [blue]gehabt[/blue], aber das hat nie länger als ein paar Wochen gedauert.
Hm. Jetzt würde ich gerne wissen, wie lange man als Junge aushalten muss, um ein fester Freund zu sein? Wohl gemerkt, hier fehlt es mir an sprachlicher Sorgfalt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit ein letztes Beisspiel:
Zufrieden ... schlendert Maria ...zu dem nahe gelegenen Hochhaus, in dessen oberstem Stockwerk ihre exklusive Wohnung ...liegt. Dort zieht sie sich in aller Ruhe um ..., bis der Gong an der Haustür ertönt.
Das ist dann aber ein weiter Weg - zumindest für den Klang des Gongs...

Grüße von wipfel
 

xavia

Mitglied
Maria schlendert durch den Park und erfreut sich an dem Lichterspiel, das die Sonne durch das frische, noch nicht ganz dichte Frühlingskleid der großen Bäume auf den Weg malt. Auf einer großen Rasenfläche, die sich bis zu einem schmalen Wasserlauf erstreckt, spielen ein paar Kinder ein Spiel, dessen Regeln wohl nur Kinder kennen, bei dem man einander nachläuft und sich gelegentlich zu zweit fallenlässt und juchzend über den Rasen kugelt, von begeistertem Applaus der übrigen begleitet, um dann die wilde Jagd wieder aufzunehmen. Eine Gruppe Jugendlicher kauert mit mehreren „Sixpacks“ Bier am Ufer auf einer blauen Decke. Zwei sitzen eng umschlungen, eine spielt Gitarre, mehrere summen mit, ein lauer Wind trägt die Töne zu ihr herüber. Maria fragt sich, warum sie wohl in so einer Situation rauchen und Bier trinken. – Ist es zu viel Glück für ihre jungen Seelen? Ein Mädchen steht allein mitten auf dem Rasen und schaut zu ihr her. Als sie hinsieht, wendet es sich ab und geht ein paar Schritte, aber aus den Augenwinkeln kann sie bald darauf sehen, dass das Kind sie weiterhin beobachtet. Ein Mann sitzt mit dem Rücken an einen Kinderwagen gelehnt auf der Wiese und liest in einem Buch.

Maria hat eine Tüte mit zwei belegten Brötchen dabei und eine kleine Flasche Orangensaft, Mittagessen. Ihre Lieblingsbank ist noch frei, wie schön! Sie setzt sich in den Schatten und betrachtet eine Weile das fröhliche Leben und Treiben auf der Wiese, bevor sie eines der Brötchen auswickelt und mit großem Appetit hineinbeißt.

Als sie ihr Mahl fast beendet hat, merkt sie, dass das Mädchen jetzt seitlich von ihrer Bank steht und sie immer noch ansieht. Es hat kluge braune Augen und glattes hellbraunes Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt und in der Sonne glänzt. Die Kleine ist vielleicht zehn Jahre alt, trägt blaue Jeans und Turnschuhe und einen leuchtend roten Kapuzenpulli, in dessen Taschen sie ihre Fäuste versenkt hat. Im Gegensatz zu der entschiedenen Pose ihrer Hände steht sie eher wackelig auf dem rechten Fuß, während der linke notdürftig dabei hilft, das Gleichgewicht zu halten, aber den Eindruck erweckt, er wisse nicht so recht, wohin.

Anscheinend sucht das Kind den Kontakt zu ihr und Maria versucht, es ihm leichter zu machen, indem sie ihm einen Platz auf der Bank anbietet, den die Kleine ohne zu zögern annimmt und dann wie gebannt auf die Wiese vor ihnen blickt.
Maria kaut weiter und trinkt einen Schluck. Sie merkt, dass das Mädchen nicht gekommen ist um zu sitzen, dass es sich nicht entspannt sondern mit etwas ringt. So macht sie einen weiteren Schritt:
„Ich heiße Maria, und du?“
„Caroline“, und nach einer Pause: „Wir haben da so eine Hausaufgabe …“
„Ja?“
„Wir sollen 'rausfinden, was unser Traumberuf ist und einen Aufsatz darüber schreiben.“
„Oh, wie interessant. Und wie willst du das herausfinden?“
„Wir sollen Leute fragen.“
Na, denkt Maria, da ist sie ja an die Richtige geraten und schweigt nachdenklich.
„Ich möchte Sie fragen.“ Caroline sieht Maria erwartungsvoll von der Seite an.
„Was mein Traumberuf ist? Wieso gerade mich? Wäre es nicht naheliegend, deine Eltern zu fragen? Tanten? Onkels?“
Ein tiefer Seufzer. Das Kind guckt wieder auf die Wiese. „Die haben alle nicht ihren Traumberuf, bestimmt nicht: Die sind gehetzt und genervt und wissen ganz genau, in wie vielen Jahren sie Rente kriegen werden. Die haben Montags ganz schlechte Laune und Freitags nachmittags gute, die aber nicht lange bleibt. Abends sind sie müde und interessieren sich für nichts, nur für Fernsehen und Zeitung.“
„Da hast du ja schon ordentlich über das Thema nachgedacht. Willst du das nicht auch in deinen Aufsatz hineinschreiben?“
„Nee, das weiß doch jeder.“
„Und wieso glaubst du, dass das bei mir anders ist?“ will Maria wissen.
Caroline muss nicht lange nachdenken, das hat sie anscheinend schon auf der Wiese getan: „Ich hab' jemanden gesucht, der glücklich aussieht. Heute ist Montag. Den Mann da hinten mit dem Kinderwagen, den könnte ich auch fragen, aber der liest ja. Sie essen nur. Da kann man reden.“
Maria lächelt über die Klugheit dieses Kindes: „Und nun möchtest du wissen, was mein Beruf ist? Was mein Traumberuf ist?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich soll ja über meinen Traumberuf schreiben. Ich möchte wissen, wie Sie es gemacht haben. Wie Sie gefunden haben, was Sie machen wollten.“

Maria staunt darüber, wie zielgerichtet dieses Mädchen mit der Aufgabe umgeht und will nun ihrerseits einen ihm gebührenden Beitrag leisten:

„Ich bin nicht gerne zur Schule gegangen. Nicht, dass es mir schwergefallen wäre, aber ich hatte einfach keine Lust dazu, nach deren Regeln zu funktionieren. Als ich so alt war wie du, da wusste ich eigentlich nur, was ich nicht werden wollte: Lehrerin, Verwaltungsangestellte, Polizistin, Kellnerin, Politikerin, Putzfrau, Verkäuferin, Tischlerin, Ärztin, Briefträgerin, … Das alles sind Berufe, bei denen ich nach jemandes Pfeife tanzen müsste.“
„Ja“, freut sich Caroline, „da sind die meisten Berufe meiner Verwandten schon dabei!“ Gespannt faltet sie die Hände im Schoß und blickt zu ihrer Bank-Nachbarin auf, wartet auf weitere Informationen.
„Ich habe in der Zeit, in der ich zur Schule gehen musste, allerlei gelernt. Damit meine ich nicht Algebra oder die Geschichte des Römischen Reichs. Ich habe gelernt, wie Menschen funktionieren. Jeden Tag konnte ich beobachten, wie unsere Lehrer und Lehrerinnen um ihre Autorität kämpften – oder sie einfach hatten. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, woran es liegt, dass wir der einen gehorchten und dem anderen auf der Nase herumtanzten. Stundenlang konnte ich jeden Tag studieren, was da ablief und meine Schlüsse daraus ziehen. In den Klassenarbeiten fand ich meist eine strebsame Nachbarin zum Abschreiben oder brachte einen Schummelzettel mit. Viel war es ja nicht, was die Lehrer von uns erwarteten und da ich auch meine Mitschüler und Mitschülerinnen eingehend studierte, fand ich stets eine helfende Hand.“

Caroline lauscht atemlos diesen Ausführungen. Noch nie im Leben hat sie gehört, dass eine Erwachsene ihr gegenüber Klartext redet über die Schule. Alle haben immer nur dieselben eintönigen Ermahnungen für sie. Maria fährt fort:

„Als ich mit der Schule fertig war, wusste ich, was ich werden wollte. Meine Eltern waren dagegen und sie waren entsetzt. Vielleicht hat mein Berufswunsch damit zu tun gehabt, dass ich sie ärgern wollte, ich weiß es nicht genau, aber das spielt heute ja auch keine Rolle mehr. Ich hatte zu der Zeit schon mehrere feste Freunde gehabt, aber das hat nie länger als ein paar Wochen gedauert. Da war es nämlich genau dasselbe: Jeder von ihnen wollte, dass ich ihm gehöre und nach seinen Regeln funktioniere.“

„Sie wollen alle nur das Eine“, sagt meine Mutter.

„Ja, das auch“ bestätigt Maria, „aber damit ist es ja noch nicht genug. Die meisten von ihnen wollten, dass ich mein Leben mit ihnen verbringe. Das war mir entschieden zu lange. So interessant fand ich keinen von ihnen. Manche sehe ich jetzt noch gelegentlich und ich hatte Recht: Sie sind so geworden wie deine Verwandten: Langweilig.“

Caroline ist jetzt restlos überzeugt: „Das ist ja so cool! So will ich das auch machen! Meine eigenen Regeln, nur tun, was ich will!“

„Na ja, ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht“, räumt Maria ein, „man braucht wohl auch ein wenig Glück. In meinem Fall war es eine Tante, die im richtigen Moment gestorben ist und mir ihre Eigentumswohnung vererbt hat. Ohne das hätte ich mich nicht selbständig machen können. Aber ich glaube“, tröstet sie das erschrocken dreinblickende Mädchen, „wenn du weißt, was du willst, dann ist das Glück auf deiner Seite.“

„Mein Papa sagt dazu: ‚Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.‘“

„Ganz genau“, freut sich Maria, ein wenig erschrocken über die derben Worte aus dem zarten Kindermund. „Weißt du nun alles was du brauchst für deinen Aufsatz?“

„Ja! Vielen, vielen Dank!“

„Und was ist nun dein Traumberuf?“

„Ich will Psychologin werden mit einer eigenen Praxis.“

Interessante Entwicklung, denkt Maria und verabschiedet sich lächelnd von Caroline. „Viel Erfolg mit dem Aufsatz und mit deinem Berufswunsch. Ich muss jetzt nach Hause, habe heute noch einen Termin.“

Zufrieden mit sich und der Welt schlendert Maria zurück zu dem nahe gelegenen Hochhaus, in dessen oberstem Stockwerk ihre exklusive Wohnung mit traumhaftem Blick über den Park liegt. Dort zieht sie sich in aller Ruhe um und blättert auf dem Sofa sitzend in einer Illustrierten, bis der Gong an der Haustür ertönt. Sie greift nach der Peitsche, schreitet zum Eingang und öffnet die Tür. Ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, etwa so groß wie sie selbst, hätte sie nicht diese atemberaubend hohen schwarzen Lederstiefel an, steht im Flur.

„Du bist drei Minuten zu früh“, sagt sie in gebieterischem Ton, „du bist ein wirklich böser, böser Junge.“ Sie lässt ihre weiche Lederpeitsche langsam und drohend mit der rechten in die linke Hand klatschen. „Komm rein, wenn du dich traust. Ich habe mir eine ganz besondere Strafe für dich ausgedacht.“
 

xavia

Mitglied
Dank euch beiden, Soean und Wipfel!

Ich freue mich, dass die Geschichte auf Interesse stößt und habe versucht, in der neuen Version ein paar Unklarheiten zu beseitigen.

Was den festen Freund angeht: Bei uns war das so, dass er ein fester Freund war, wenn man das verabredet hat: „Willst du mit mir gehen?“ und nicht mehr, wenn man „Schluss gemacht“ hat. Das kann ratzfatz gehen, ein paar Wochen ist da schon viel ;)

Die Bemerkung zum Gong verstehe ich nicht: Ist da das zeitliche Nacheinander nicht klar?

Grüße A.
 

Wipfel

Mitglied
Hey,

die Haustür bleibt unten und wandert nicht mit der Zeit. Auch im Hochhaus.

Und das mit dem festen Freund: Jo. Da war ich halt anders... So mit Rosen und so.
 

xavia

Mitglied
Ach so, du meinst, derjenige, der den Gong auslöst, muss unten stehen und erst hochkommen? Das wäre in der Tat ein Problem. Kann die untere Tür nicht tagsüber offen sein und man gongt dann vor Ort, also oben? So hatte ich es mir vorgestellt.
 

xavia

Mitglied
Problem gelöst, lieber Wipfel: Von einem vertrauenswürdigen Bewohner eines Mehrfamilienhauses wurde mir versichert, dass die untere Tür zwar meistens geschlossen sei, Besucher aber oft von Menschen hereingelassen werden, die das Haus verlassen. Wenn dann der Gong ertönt, stehen sie bereits vor der oberen Haustür. Ein Treppauf-Treppab wäre der Handlung in meiner Geschichte sicher nicht dienlich. Gruß A.
 

xavia

Mitglied
Maria schlendert durch den Park und erfreut sich an dem Lichterspiel, das die Sonne durch das frische, noch nicht ganz dichte Frühlingskleid der großen Bäume auf den Weg malt. Auf einer großen Rasenfläche, die sich bis zu einem schmalen Wasserlauf erstreckt, spielen ein paar Kinder ein Spiel, dessen Regeln wohl nur Kinder kennen, bei dem man einander nachläuft und sich gelegentlich zu zweit fallenlässt und juchzend über den Rasen kugelt, von begeistertem Applaus der übrigen begleitet, um dann die wilde Jagd wieder aufzunehmen. Eine Gruppe Jugendlicher kauert mit mehreren „Sixpacks“ Bier am Ufer auf einer blauen Decke. Zwei sitzen eng umschlungen, eine spielt Gitarre, mehrere summen mit, ein lauer Wind trägt die Töne zu ihr herüber. Maria fragt sich, warum sie wohl in so einer Situation rauchen und Bier trinken. – Ist es zu viel Glück für ihre jungen Seelen? Ein Mädchen steht allein mitten auf dem Rasen und schaut zu ihr her. Als sie hinsieht, wendet es sich ab und geht ein paar Schritte, aber aus den Augenwinkeln kann sie bald darauf sehen, dass das Kind sie weiterhin beobachtet. Ein Mann sitzt mit dem Rücken an einen Kinderwagen gelehnt auf der Wiese und liest in einem Buch.

Zwei belegte Brötchen und eine kleine Flasche Orangensaft auf ihrer Lieblingsbank sind Maria lieber als eine warme Mahlzeit am Arbeitsplatz. Sie setzt sich in den Schatten und betrachtet eine Weile das fröhliche Leben und Treiben auf der Wiese, bevor sie eines der Brötchen auswickelt und mit großem Appetit hineinbeißt.

Als sie ihr Mahl fast beendet hat, merkt sie, dass das Mädchen jetzt seitlich von ihrer Bank steht und sie immer noch ansieht. Es hat kluge braune Augen und glattes hellbraunes Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt und in der Sonne glänzt. Die Kleine ist vielleicht zehn Jahre alt, trägt blaue Jeans und Turnschuhe und einen leuchtend roten Kapuzenpulli, in dessen Taschen sie ihre Fäuste versenkt hat. Im Gegensatz zu der entschiedenen Pose ihrer Hände steht sie eher wackelig auf dem rechten Fuß, während der linke notdürftig dabei hilft, das Gleichgewicht zu halten, aber den Eindruck erweckt, er wisse nicht so recht, wohin.

Anscheinend sucht das Kind den Kontakt zu ihr und Maria versucht, es ihm leichter zu machen, indem sie ihm einen Platz auf der Bank anbietet, den die Kleine ohne zu zögern annimmt und dann wie gebannt auf die Wiese vor ihnen blickt.
Maria kaut weiter und trinkt einen Schluck. Sie merkt, dass das Mädchen nicht gekommen ist um zu sitzen, dass es sich nicht entspannt sondern mit etwas ringt. So macht sie einen weiteren Schritt:
„Ich heiße Maria, und du?“
„Caroline“, und nach einer Pause: „Wir haben da so eine Hausaufgabe …“
„Ja?“
„Wir sollen 'rausfinden, was unser Traumberuf ist und einen Aufsatz darüber schreiben.“
„Oh, wie interessant. Und wie willst du das herausfinden?“
„Wir sollen Leute fragen.“
Na, denkt Maria, da ist sie ja an die Richtige geraten und schweigt nachdenklich.
„Ich möchte Sie fragen.“ Caroline sieht Maria erwartungsvoll von der Seite an.
„Was mein Traumberuf ist? Wieso gerade mich? Wäre es nicht naheliegend, deine Eltern zu fragen? Tanten? Onkels?“
Ein tiefer Seufzer. Das Kind guckt wieder auf die Wiese. „Die haben alle nicht ihren Traumberuf, bestimmt nicht: Die sind gehetzt und genervt und wissen ganz genau, in wie vielen Jahren sie Rente kriegen werden. Die haben Montags ganz schlechte Laune und Freitags nachmittags gute, die aber nicht lange bleibt. Abends sind sie müde und interessieren sich für nichts, nur für Fernsehen und Zeitung.“
„Da hast du ja schon ordentlich über das Thema nachgedacht. Willst du das nicht auch in deinen Aufsatz hineinschreiben?“
„Nee, das weiß doch jeder.“
„Und wieso glaubst du, dass das bei mir anders ist?“ will Maria wissen.
Caroline muss nicht lange nachdenken, das hat sie anscheinend schon auf der Wiese getan: „Ich hab' jemanden gesucht, der glücklich aussieht. Heute ist Montag. Den Mann da hinten mit dem Kinderwagen, den könnte ich auch fragen, aber der liest ja. Sie essen nur. Da kann man reden.“
Maria lächelt über die Klugheit dieses Kindes: „Und nun möchtest du wissen, was mein Beruf ist? Was mein Traumberuf ist?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich soll ja über meinen Traumberuf schreiben. Ich möchte wissen, wie Sie es gemacht haben. Wie Sie gefunden haben, was Sie machen wollten.“

Maria staunt darüber, wie zielgerichtet dieses Mädchen mit der Aufgabe umgeht und will nun ihrerseits einen ihm gebührenden Beitrag leisten:

„Ich bin nicht gerne zur Schule gegangen. Nicht, dass es mir schwergefallen wäre, aber ich hatte einfach keine Lust dazu, nach deren Regeln zu funktionieren. Als ich so alt war wie du, da wusste ich eigentlich nur, was ich nicht werden wollte: Lehrerin, Verwaltungsangestellte, Polizistin, Kellnerin, Politikerin, Putzfrau, Verkäuferin, Tischlerin, Ärztin, Briefträgerin, … Das alles sind Berufe, bei denen ich nach jemandes Pfeife tanzen müsste.“
„Ja“, freut sich Caroline, „da sind die meisten Berufe meiner Verwandten schon dabei!“ Gespannt faltet sie die Hände im Schoß und blickt zu ihrer Bank-Nachbarin auf, wartet auf weitere Informationen.
„Ich habe in der Zeit, in der ich zur Schule gehen musste, allerlei gelernt. Damit meine ich nicht Algebra oder die Geschichte des Römischen Reichs. Ich habe gelernt, wie Menschen funktionieren. Jeden Tag konnte ich beobachten, wie unsere Lehrer und Lehrerinnen um ihre Autorität kämpften – oder sie einfach hatten. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, woran es liegt, dass wir der einen gehorchten und dem anderen auf der Nase herumtanzten. Stundenlang konnte ich jeden Tag studieren, was da ablief und meine Schlüsse daraus ziehen. In den Klassenarbeiten fand ich meist eine strebsame Nachbarin zum Abschreiben oder brachte einen Schummelzettel mit. Viel war es ja nicht, was die Lehrer von uns erwarteten und da ich auch meine Mitschüler und Mitschülerinnen eingehend studierte, fand ich stets eine helfende Hand.“

Caroline lauscht atemlos diesen Ausführungen. Noch nie im Leben hat sie gehört, dass eine Erwachsene ihr gegenüber Klartext redet über die Schule. Alle haben immer nur dieselben eintönigen Ermahnungen für sie. Maria fährt fort:

„Als ich mit der Schule fertig war, wusste ich, was ich werden wollte. Meine Eltern waren dagegen und sie waren entsetzt. Vielleicht hat mein Berufswunsch damit zu tun gehabt, dass ich sie ärgern wollte, ich weiß es nicht genau, aber das spielt heute ja auch keine Rolle mehr. Ich hatte zu der Zeit schon mehrere feste Freunde gehabt, aber das hat nie länger als ein paar Wochen gedauert. Da war es nämlich genau dasselbe: Jeder von ihnen wollte, dass ich ihm gehöre und nach seinen Regeln funktioniere.“

„Sie wollen alle nur das Eine“, sagt meine Mutter.

„Ja, das auch“ bestätigt Maria, „aber damit ist es ja noch nicht genug. Die meisten von ihnen wollten, dass ich mein Leben mit ihnen verbringe. Das war mir entschieden zu lange. So interessant fand ich keinen von ihnen. Manche sehe ich jetzt noch gelegentlich und ich hatte Recht: Sie sind so geworden wie deine Verwandten: Langweilig.“

Caroline ist jetzt restlos überzeugt: „Das ist ja so cool! So will ich das auch machen! Meine eigenen Regeln, nur tun, was ich will!“

„Na ja, ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht“, räumt Maria ein, „man braucht wohl auch ein wenig Glück. In meinem Fall war es eine Tante, die im richtigen Moment gestorben ist und mir ihre Eigentumswohnung vererbt hat. Ohne das hätte ich mich nicht selbständig machen können. Aber ich glaube“, tröstet sie das erschrocken dreinblickende Mädchen, „wenn du weißt, was du willst, dann ist das Glück auf deiner Seite.“

„Mein Papa sagt dazu: ‚Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.‘“

„Ganz genau“, freut sich Maria, ein wenig erschrocken über die derben Worte aus dem zarten Kindermund. „Weißt du nun alles was du brauchst für deinen Aufsatz?“

„Ja! Vielen, vielen Dank!“

„Und was ist nun dein Traumberuf?“

„Ich will Psychologin werden mit einer eigenen Praxis.“

Interessante Entwicklung, denkt Maria und verabschiedet sich lächelnd von Caroline. „Viel Erfolg mit dem Aufsatz und mit deinem Berufswunsch. Ich muss jetzt nach Hause, habe heute noch einen Termin.“

Zufrieden mit sich und der Welt schlendert Maria zurück zu dem nahe gelegenen Hochhaus, in dessen oberstem Stockwerk ihre exklusive Wohnung mit traumhaftem Blick über den Park liegt. Dort zieht sie sich in aller Ruhe um und blättert auf dem Sofa sitzend in einer Illustrierten, bis der Gong an der Haustür ertönt. Sie greift nach der Peitsche, schreitet zum Eingang und öffnet die Tür. Ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, etwa so groß wie sie selbst, hätte sie nicht diese atemberaubend hohen schwarzen Lederstiefel an, steht im Flur.

„Du bist drei Minuten zu früh“, sagt sie in gebieterischem Ton, „du bist ein wirklich böser, böser Junge.“ Sie lässt ihre weiche Lederpeitsche langsam und drohend mit der rechten in die linke Hand klatschen. „Komm rein, wenn du dich traust. Ich habe mir eine ganz besondere Strafe für dich ausgedacht.“
 

Soean

Mitglied
Soweit ich das verstanden habe, ist das Mädchen noch sehr jung, oder? Ich fände es unglaubhaft, wenn man in dem Alter eine feste Beziehung führt, mit Rosen und so. Das passiert doch nur in Ausnahmen, gerade i nder heutigen Zeit. Mit 12 - 16 Jahren tastet man sich doch nur ab, erlebt ein bisschen das Kribbeln im Bauch. Mehr ja nicht.
Mit dem Gong der Haustür finde ich schon ok. Aber, da würde ein Treppauf Treppab dazu kommen. Das würde nicht passen.

Insgesamt finde ich es aber gut, das ein paar Sachen kurz gehalten worden sind. Ich finde auch, dass man als leser sehr wohl einige Sachen versteht, auch wenn die Bezüge hier und da nicht 100%ig sind. Leser sind meistens nicht blöd und verstehen das. Das ist halt Sprech.
In den Klassenarbeiten reichte meist eine strebsame Nachbarin zum Abschreiben oder ein Schummelzettel. Viel war es ja nicht, was sie (Die Nachbarin und der Schummelzettel?) von uns erwarteten und da ich auch meine Mitschüler und Mitschülerinnen eingehend studierte, fand ich stets eine helfende Hand
Daher finde ich den Absatz auch nicht so schlimm. Jeder weiß, was mit alledem gemeint ist, auch wenn es sprachlich nicht 100%ig ist. Aber es sind ja auch nur Gedanken, oder? Liest sich für mich zumindest so. Und dann denkt man das genau so, wie es da geschrieben steht.

Aber, in dem Thema bin ich eh ganz anderer Meinung ;-)
 
A

Alberta

Gast
Hallo, Anonymus - mir gefällt Deine Geschichte, ob nun mit Gong an der Haustür oder Wohnungstür ...;)
 

xavia

Mitglied
Traumberuf

Maria schlendert durch den Park und erfreut sich an dem Lichterspiel, das die Sonne durch das frische, noch nicht ganz dichte Frühlingskleid der großen Bäume auf den Weg malt. Auf einer großen Rasenfläche, die sich bis zu einem schmalen Wasserlauf erstreckt, spielen ein paar Kinder ein Spiel, dessen Regeln wohl nur Kinder kennen, bei dem man einander nachläuft und sich gelegentlich zu zweit fallenlässt und juchzend über den Rasen kugelt, von begeistertem Applaus der übrigen begleitet, um dann die wilde Jagd wieder aufzunehmen. Eine Gruppe Jugendlicher kauert mit mehreren »Sixpacks« Bier am Ufer auf einer blauen Decke. Zwei sitzen eng umschlungen, eine spielt Gitarre, mehrere summen mit, ein lauer Wind trägt die Töne zu ihr herüber. Maria fragt sich, warum sie wohl in so einer Situation rauchen und Bier trinken. – Ist es zu viel Glück für ihre jungen Seelen?

Ein Mädchen steht allein mitten auf dem Rasen und schaut zu ihr her. Als sie hinsieht, wendet es sich ab und geht ein paar Schritte, aber aus den Augenwinkeln kann sie bald darauf sehen, dass das Kind sie weiterhin beobachtet. Ein Mann sitzt mit dem Rücken an einen Kinderwagen gelehnt auf der Wiese und liest in einem Buch.
[ 5] Zwei belegte Brötchen und eine kleine Flasche Orangensaft auf ihrer Lieblingsbank sind Maria lieber als eine warme Mahlzeit am Arbeitsplatz. Sie setzt sich in den Schatten und betrachtet eine Weile das fröhliche Leben und Treiben auf der Wiese, bevor sie eines der Brötchen auswickelt und mit großem Appetit hineinbeißt.
[ 5] Als sie ihr Mahl fast beendet hat, merkt sie, dass das Mädchen jetzt seitlich von ihrer Bank steht und sie immer noch ansieht. Es hat kluge braune Augen und glattes hellbraunes Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt und in der Sonne glänzt. Die Kleine ist vielleicht zehn Jahre alt, trägt blaue Jeans und Turnschuhe und einen leuchtend roten Kapuzenpulli, in dessen Taschen sie ihre Fäuste versenkt hat. Im Gegensatz zu der entschiedenen Pose ihrer Hände steht sie eher wackelig auf dem rechten Fuß, während der linke notdürftig dabei hilft, das Gleichgewicht zu halten, aber den Eindruck erweckt, er wisse nicht so recht, wohin.
[ 5] Anscheinend sucht das Kind den Kontakt zu ihr und Maria versucht, es ihm leichter zu machen, indem sie ihm einen Platz auf der Bank anbietet, den die Kleine ohne zu zögern annimmt und dann wie gebannt auf die Wiese vor ihnen blickt.
[ 5] Maria kaut weiter und trinkt einen Schluck. Sie merkt, dass das Mädchen nicht gekommen ist um zu sitzen, dass es sich nicht entspannt sondern mit etwas ringt. So macht sie einen weiteren Schritt:
[ 5] »Ich heiße Maria, und du?«
[ 5] »Caroline«, und nach einer Pause: »Wir haben da so eine Hausaufgabe …«
[ 5] »Ja?«
[ 5] »Wir sollen 'rausfinden, was unser Traumberuf ist und einen Aufsatz darüber schreiben.«
[ 5] »Oh, wie interessant. Und wie willst du das herausfinden?«
[ 5] »Wir sollen Leute fragen.«
[ 5] Na, denkt Maria, da ist sie ja an die Richtige geraten und schweigt nachdenklich.
[ 5] »Ich möchte Sie fragen.« Caroline sieht Maria erwartungsvoll von der Seite an.
[ 5] »Was mein Traumberuf ist? Wieso gerade mich? Wäre es nicht naheliegend, deine Eltern zu fragen? Tanten? Onkels?«
[ 5] Ein tiefer Seufzer. Das Kind guckt wieder auf die Wiese. »Die haben alle nicht ihren Traumberuf, bestimmt nicht: Die sind gehetzt und genervt und wissen ganz genau, in wie vielen Jahren sie Rente kriegen werden. Die haben Montags ganz schlechte Laune und Freitags nachmittags gute, die aber nicht lange bleibt. Abends sind sie müde und interessieren sich für nichts, nur für Fernsehen und Zeitung.«
[ 5] »Da hast du ja schon ordentlich über das Thema nachgedacht. Willst du das nicht auch in deinen Aufsatz hineinschreiben?«
[ 5] »Nee, das weiß doch jeder.«
[ 5] »Und wieso glaubst du, dass das bei mir anders ist?« will Maria wissen.
[ 5] Caroline muss nicht lange nachdenken, das hat sie anscheinend schon auf der Wiese getan: »Ich hab' jemanden gesucht, der glücklich aussieht. Heute ist Montag. Den Mann da hinten mit dem Kinderwagen, den könnte ich auch fragen, aber der liest ja. Sie essen nur. Da kann man reden.«
[ 5] Maria lächelt über die Klugheit dieses Kindes: »Und nun möchtest du wissen, was mein Beruf ist? Was mein Traumberuf ist?«
[ 5] »Nein, eigentlich nicht. Ich soll ja über meinen Traumberuf schreiben. Ich möchte wissen, wie Sie es gemacht haben. Wie Sie gefunden haben, was Sie machen wollten.«

Maria staunt darüber, wie zielgerichtet dieses Mädchen mit der Aufgabe umgeht und will nun ihrerseits einen ihm gebührenden Beitrag leisten:
[ 5] »Ich bin nicht gerne zur Schule gegangen. Nicht, dass es mir schwergefallen wäre, aber ich hatte einfach keine Lust dazu, nach deren Regeln zu funktionieren. Als ich so alt war wie du, da wusste ich eigentlich nur, was ich nicht werden wollte: Lehrerin, Verwaltungsangestellte, Polizistin, Kellnerin, Politikerin, Putzfrau, Verkäuferin, Tischlerin, Ärztin, Briefträgerin, … Das alles sind Berufe, bei denen ich nach jemandes Pfeife tanzen müsste.«
[ 5] »Ja«, freut sich Caroline, »da sind die meisten Berufe meiner Verwandten schon dabei!« Gespannt faltet sie die Hände im Schoß und blickt zu ihrer Bank-Nachbarin auf, wartet anscheinend auf weitere Informationen.
[ 5] »Ich habe in der Zeit, in der ich zur Schule gehen musste, allerlei gelernt. Damit meine ich nicht Algebra oder die Geschichte des Römischen Reichs. Ich habe gelernt, wie Menschen funktionieren. Jeden Tag konnte ich beobachten, wie unsere Lehrer und Lehrerinnen um ihre Autorität kämpften – oder sie einfach hatten. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, woran es liegt, dass wir der einen gehorchten und dem anderen auf der Nase herumtanzten. Stundenlang konnte ich jeden Tag studieren, was da ablief und meine Schlüsse daraus ziehen. In den Klassenarbeiten fand ich meist eine strebsame Nachbarin zum Abschreiben oder brachte einen Schummelzettel mit. Viel war es ja nicht, was die Lehrer von uns erwarteten und da ich auch meine Mitschüler und Mitschülerinnen eingehend studierte, fand ich stets eine helfende Hand.«

Caroline lauscht atemlos diesen Ausführungen. Noch nie im Leben hat sie gehört, dass eine Erwachsene ihr gegenüber Klartext redet über die Schule. Alle haben immer nur dieselben eintönigen Ermahnungen für sie. Maria fährt fort:

»Als ich mit der Schule fertig war, wusste ich, was ich werden wollte. Meine Eltern waren dagegen und sie waren entsetzt. Vielleicht hat mein Berufswunsch damit zu tun gehabt, dass ich sie ärgern wollte, ich weiß es nicht genau, aber das spielt heute ja auch keine Rolle mehr. Ich hatte zu der Zeit schon mehrere feste Freunde gehabt, aber das hat nie länger als ein paar Wochen gedauert. Da war es nämlich genau dasselbe: Jeder von ihnen wollte, dass ich ihm gehöre und nach seinen Regeln funktioniere.«
[ 5] »Sie wollen alle nur das Eine«, sagt meine Mutter.
[ 5] »Ja, das auch“ bestätigt Maria lachend, »aber damit ist es ja noch nicht genug. Die meisten von ihnen wollten, dass ich mein Leben mit ihnen verbringe. Das war mir entschieden zu lange. So interessant fand ich keinen von ihnen. Manche sehe ich jetzt noch gelegentlich und ich hatte Recht: Sie sind so geworden wie deine Verwandten: Langweilig.«
[ 5] Caroline ist jetzt restlos überzeugt: »Das ist ja so cool! So will ich das auch machen! Meine eigenen Regeln, nur tun, was ich will!«
[ 5] »Na ja, ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht«, räumt Maria ein, »man braucht wohl auch ein wenig Glück. In meinem Fall war es eine Tante, die im richtigen Moment gestorben ist und mir ihre Eigentumswohnung vererbt hat. Ohne das hätte ich mich nicht selbständig machen können. Aber ich glaube«, tröstet sie das erschrocken dreinblickende Mädchen, »wenn du weißt, was du willst, dann ist das Glück auf deiner Seite.«
[ 5] »Mein Papa sagt dazu: ‚Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.‘«
[ 5] »Ganz genau«, freut sich Maria, ein wenig erschrocken über die derben Worte aus dem zarten Kindermund. »Weißt du nun alles was du brauchst für deinen Aufsatz?«
[ 5] »Ja! Vielen, vielen Dank!«
[ 5] »Und was ist nun dein Traumberuf?«
[ 5] »Ich will Psychologin werden mit einer eigenen Praxis.«
[ 5] Interessante Entwicklung, denkt Maria und verabschiedet sich lächelnd von Caroline. »Viel Erfolg mit dem Aufsatz und mit deinem Berufswunsch. Ich muss jetzt nach Hause, habe heute noch einen Termin.«

Zufrieden mit sich und der Welt schlendert Maria zurück zu dem nahe gelegenen Hochhaus, in dessen oberstem Stockwerk ihre exklusive Wohnung mit traumhaftem Blick über den Park liegt. Dort zieht sie sich in aller Ruhe um und blättert auf dem Sofa sitzend in einer Illustrierten, bis der Gong an der Haustür ertönt. Sie geht und betätigt den Summer. Dann schweift ihr prüfender Blick über die exklusive Einrichtung, und bleibt wohlgefällig für einen Moment an ihrem Spiegelbild haften. Entschlossen greift sie nach der Peitsche, schreitet zum Eingang und öffnet die Tür. Ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, etwa so groß wie sie selbst, hätte sie nicht diese atemberaubend hohen schwarzen Lederstiefel an, steht im Flur.
[ 5] »Du bist drei Minuten zu früh«, sagt sie in gebieterischem Ton, »du bist ein wirklich böser, böser Junge.« Sie lässt ihre weiche Lederpeitsche langsam und drohend mit der rechten in die linke Hand klatschen. »Komm rein, wenn du dich traust. Ich habe mir eine ganz besondere Strafe für dich ausgedacht.«
 

xavia

Mitglied
Traumberuf

Maria schlendert durch den Park und erfreut sich an dem Lichterspiel, das die Sonne durch das frische, noch nicht ganz dichte Frühlingskleid der großen Bäume auf den Weg malt. Auf einer großen Rasenfläche, die sich bis zu einem schmalen Wasserlauf erstreckt, spielen ein paar Kinder ein Spiel, dessen Regeln wohl nur Kinder kennen, bei dem man einander nachläuft und sich gelegentlich zu zweit fallenlässt und juchzend über den Rasen kugelt, von begeistertem Applaus der übrigen begleitet, um dann die wilde Jagd wieder aufzunehmen. Eine Gruppe Jugendlicher kauert mit mehreren »Sixpacks« Bier am Ufer auf einer blauen Decke. Zwei sitzen eng umschlungen, eine spielt Gitarre, mehrere summen mit, ein lauer Wind trägt die Töne zu ihr herüber. Maria fragt sich, warum sie wohl in so einer Situation rauchen und Bier trinken. – Ist es zu viel Glück für ihre jungen Seelen?
[ 5] Ein Mädchen steht allein mitten auf dem Rasen und schaut zu ihr her. Als sie hinsieht, wendet es sich ab und geht ein paar Schritte, aber aus den Augenwinkeln kann sie bald darauf sehen, dass das Kind sie weiterhin beobachtet. Ein Mann sitzt mit dem Rücken an einen Kinderwagen gelehnt auf der Wiese und liest in einem Buch.
[ 5] Zwei belegte Brötchen und eine kleine Flasche Orangensaft auf ihrer Lieblingsbank sind Maria lieber als eine warme Mahlzeit am Arbeitsplatz. Sie setzt sich in den Schatten und betrachtet eine Weile das fröhliche Leben und Treiben auf der Wiese, bevor sie eines der Brötchen auswickelt und mit großem Appetit hineinbeißt.

Als sie ihr Mahl fast beendet hat, merkt sie, dass das Mädchen jetzt seitlich von ihrer Bank steht und sie immer noch ansieht. Es hat kluge braune Augen und glattes hellbraunes Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt und in der Sonne glänzt. Die Kleine ist vielleicht zehn Jahre alt, trägt blaue Jeans und Turnschuhe und einen leuchtend roten Kapuzenpulli, in dessen Taschen sie ihre Fäuste versenkt hat. Im Gegensatz zu der entschiedenen Pose ihrer Hände steht sie eher wackelig auf dem rechten Fuß, während der linke notdürftig dabei hilft, das Gleichgewicht zu halten, aber den Eindruck erweckt, er wisse nicht so recht, wohin.
[ 5] Anscheinend sucht das Kind den Kontakt zu ihr und Maria versucht, es ihm leichter zu machen, indem sie ihm einen Platz auf der Bank anbietet, den die Kleine ohne zu zögern annimmt und dann wie gebannt auf die Wiese vor ihnen blickt.
[ 5] Maria kaut weiter und trinkt einen Schluck. Sie merkt, dass das Mädchen nicht gekommen ist um zu sitzen, dass es sich nicht entspannt sondern mit etwas ringt. So macht sie einen weiteren Schritt:
[ 5] »Ich heiße Maria, und du?«
[ 5] »Caroline«, und nach einer Pause: »Wir haben da so eine Hausaufgabe …«
[ 5] »Ja?«
[ 5] »Wir sollen 'rausfinden, was unser Traumberuf ist und einen Aufsatz darüber schreiben.«
[ 5] »Oh, wie interessant. Und wie willst du das herausfinden?«
[ 5] »Wir sollen Leute fragen.«
[ 5] Na, denkt Maria, da ist sie ja an die Richtige geraten und schweigt nachdenklich.
[ 5] »Ich möchte Sie fragen.« Caroline sieht Maria erwartungsvoll von der Seite an.
[ 5] »Was mein Traumberuf ist? Wieso gerade mich? Wäre es nicht naheliegend, deine Eltern zu fragen? Tanten? Onkels?«
[ 5] Ein tiefer Seufzer. Das Kind guckt wieder auf die Wiese. »Die haben alle nicht ihren Traumberuf, bestimmt nicht: Die sind gehetzt und genervt und wissen ganz genau, in wie vielen Jahren sie Rente kriegen werden. Die haben Montags ganz schlechte Laune und Freitags nachmittags gute, die aber nicht lange bleibt. Abends sind sie müde und interessieren sich für nichts, nur für Fernsehen und Zeitung.«
[ 5] »Da hast du ja schon ordentlich über das Thema nachgedacht. Willst du das nicht auch in deinen Aufsatz hineinschreiben?«
[ 5] »Nee, das weiß doch jeder.«
[ 5] »Und wieso glaubst du, dass das bei mir anders ist?« will Maria wissen.
[ 5] Caroline muss nicht lange nachdenken, das hat sie anscheinend schon auf der Wiese getan: »Ich hab' jemanden gesucht, der glücklich aussieht. Heute ist Montag. Den Mann da hinten mit dem Kinderwagen, den könnte ich auch fragen, aber der liest ja. Sie essen nur. Da kann man reden.«
[ 5] Maria lächelt über die Klugheit dieses Kindes: »Und nun möchtest du wissen, was mein Beruf ist? Was mein Traumberuf ist?«
[ 5] »Nein, eigentlich nicht. Ich soll ja über meinen Traumberuf schreiben. Ich möchte wissen, wie Sie es gemacht haben. Wie Sie gefunden haben, was Sie machen wollten.«

Maria staunt darüber, wie zielgerichtet dieses Mädchen mit der Aufgabe umgeht und will nun ihrerseits einen ihm gebührenden Beitrag leisten:
[ 5] »Ich bin nicht gerne zur Schule gegangen. Nicht, dass es mir schwergefallen wäre, aber ich hatte einfach keine Lust dazu, nach deren Regeln zu funktionieren. Als ich so alt war wie du, da wusste ich eigentlich nur, was ich nicht werden wollte: Lehrerin, Verwaltungsangestellte, Polizistin, Kellnerin, Politikerin, Putzfrau, Verkäuferin, Tischlerin, Ärztin, Briefträgerin, … Das alles sind Berufe, bei denen ich nach jemandes Pfeife tanzen müsste.«
[ 5] »Ja«, freut sich Caroline, »da sind die meisten Berufe meiner Verwandten schon dabei!« Gespannt faltet sie die Hände im Schoß und blickt zu ihrer Bank-Nachbarin auf, wartet anscheinend auf weitere Informationen.
[ 5] »Ich habe in der Zeit, in der ich zur Schule gehen musste, allerlei gelernt. Damit meine ich nicht Algebra oder die Geschichte des Römischen Reichs. Ich habe gelernt, wie Menschen funktionieren. Jeden Tag konnte ich beobachten, wie unsere Lehrer und Lehrerinnen um ihre Autorität kämpften – oder sie einfach hatten. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, woran es liegt, dass wir der einen gehorchten und dem anderen auf der Nase herumtanzten. Stundenlang konnte ich jeden Tag studieren, was da ablief und meine Schlüsse daraus ziehen. In den Klassenarbeiten fand ich meist eine strebsame Nachbarin zum Abschreiben oder brachte einen Schummelzettel mit. Viel war es ja nicht, was die Lehrer von uns erwarteten und da ich auch meine Mitschüler und Mitschülerinnen eingehend studierte, fand ich stets eine helfende Hand.«

Caroline lauscht atemlos diesen Ausführungen. Noch nie im Leben hat sie gehört, dass eine Erwachsene ihr gegenüber Klartext redet über die Schule. Alle haben immer nur dieselben eintönigen Ermahnungen für sie. Maria fährt fort:

»Als ich mit der Schule fertig war, wusste ich, was ich werden wollte. Meine Eltern waren dagegen und sie waren entsetzt. Vielleicht hat mein Berufswunsch damit zu tun gehabt, dass ich sie ärgern wollte, ich weiß es nicht genau, aber das spielt heute ja auch keine Rolle mehr. Ich hatte zu der Zeit schon mehrere feste Freunde gehabt, aber das hat nie länger als ein paar Wochen gedauert. Da war es nämlich genau dasselbe: Jeder von ihnen wollte, dass ich ihm gehöre und nach seinen Regeln funktioniere.«
[ 5] »Sie wollen alle nur das Eine«, sagt meine Mutter.
[ 5] »Ja, das auch“ bestätigt Maria lachend, »aber damit ist es ja noch nicht genug. Die meisten von ihnen wollten, dass ich mein Leben mit ihnen verbringe. Das war mir entschieden zu lange. So interessant fand ich keinen von ihnen. Manche sehe ich jetzt noch gelegentlich und ich hatte Recht: Sie sind so geworden wie deine Verwandten: Langweilig.«
[ 5] Caroline ist jetzt restlos überzeugt: »Das ist ja so cool! So will ich das auch machen! Meine eigenen Regeln, nur tun, was ich will!«
[ 5] »Na ja, ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht«, räumt Maria ein, »man braucht wohl auch ein wenig Glück. In meinem Fall war es eine Tante, die im richtigen Moment gestorben ist und mir ihre Eigentumswohnung vererbt hat. Ohne das hätte ich mich nicht selbständig machen können. Aber ich glaube«, tröstet sie das erschrocken dreinblickende Mädchen, »wenn du weißt, was du willst, dann ist das Glück auf deiner Seite.«
[ 5] »Mein Papa sagt dazu: ‚Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.‘«
[ 5] »Ganz genau«, freut sich Maria, ein wenig erschrocken über die derben Worte aus dem zarten Kindermund. »Weißt du nun alles was du brauchst für deinen Aufsatz?«
[ 5] »Ja! Vielen, vielen Dank!«
[ 5] »Und was ist nun dein Traumberuf?«
[ 5] »Ich will Psychologin werden mit einer eigenen Praxis.«
[ 5] Interessante Entwicklung, denkt Maria und verabschiedet sich lächelnd von Caroline. »Viel Erfolg mit dem Aufsatz und mit deinem Berufswunsch. Ich muss jetzt nach Hause, habe heute noch einen Termin.«

Zufrieden mit sich und der Welt schlendert Maria zurück zu dem nahe gelegenen Hochhaus, in dessen oberstem Stockwerk ihre exklusive Wohnung mit traumhaftem Blick über den Park liegt. Dort zieht sie sich in aller Ruhe um und blättert auf dem Sofa sitzend in einer Illustrierten, bis der Gong an der Haustür ertönt. Sie geht und betätigt den Summer. Dann schweift ihr prüfender Blick über die exklusive Einrichtung, und bleibt wohlgefällig für einen Moment an ihrem Spiegelbild haften. Entschlossen greift sie nach der Peitsche, schreitet zum Eingang und öffnet die Tür. Ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, etwa so groß wie sie selbst, hätte sie nicht diese atemberaubend hohen schwarzen Lederstiefel an, steht im Flur.
[ 5] »Du bist drei Minuten zu früh«, sagt sie in gebieterischem Ton, »du bist ein wirklich böser, böser Junge.« Sie lässt ihre weiche Lederpeitsche langsam und drohend mit der rechten in die linke Hand klatschen. »Komm rein, wenn du dich traust. Ich habe mir eine ganz besondere Strafe für dich ausgedacht.«
 

xavia

Mitglied
Traumberuf

Maria schlendert durch den Park und erfreut sich an dem Lichterspiel, das die Sonne durch das frische, noch nicht ganz dichte Frühlingskleid der großen Bäume auf den Weg malt. Auf einer großen Rasenfläche, die sich bis zu einem schmalen Wasserlauf erstreckt, spielen ein paar Kinder ein Spiel, dessen Regeln wohl nur Kinder kennen, bei dem man einander nachläuft und sich gelegentlich zu zweit fallenlässt und juchzend über den Rasen kugelt, von begeistertem Applaus der übrigen begleitet, um dann die wilde Jagd wieder aufzunehmen. Eine Gruppe Jugendlicher kauert mit mehreren »Sixpacks« Bier am Ufer auf einer blauen Decke. Zwei sitzen eng umschlungen, eine spielt Gitarre, mehrere summen mit, ein lauer Wind trägt die Töne zu ihr herüber. Maria fragt sich, warum sie wohl in so einer Situation rauchen und Bier trinken. – Ist es zu viel Glück für ihre jungen Seelen?
[ 5] Ein Mädchen steht allein mitten auf dem Rasen und schaut zu ihr her. Als sie hinsieht, wendet es sich ab und geht ein paar Schritte, aber aus den Augenwinkeln kann sie bald darauf sehen, dass das Kind sie weiterhin beobachtet. Ein Mann sitzt mit dem Rücken an einen Kinderwagen gelehnt auf der Wiese und liest in einem Buch.
[ 5] Zwei belegte Brötchen und eine kleine Flasche Orangensaft auf ihrer Lieblingsbank sind Maria lieber als eine warme Mahlzeit am Arbeitsplatz. Sie setzt sich in den Schatten und betrachtet eine Weile das fröhliche Leben und Treiben auf der Wiese, bevor sie eines der Brötchen auswickelt und mit großem Appetit hineinbeißt.

Als sie ihr Mahl fast beendet hat, merkt sie, dass das Mädchen jetzt seitlich von ihrer Bank steht und sie immer noch ansieht. Es hat kluge braune Augen und glattes hellbraunes Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt und in der Sonne glänzt. Die Kleine ist vielleicht zehn Jahre alt, trägt blaue Jeans und Turnschuhe und einen leuchtend roten Kapuzenpulli, in dessen Taschen sie ihre Fäuste versenkt hat. Im Gegensatz zu der entschiedenen Pose ihrer Hände steht sie eher wackelig auf dem rechten Fuß, während der linke notdürftig dabei hilft, das Gleichgewicht zu halten, aber den Eindruck erweckt, er wisse nicht so recht, wohin.
[ 5] Anscheinend sucht das Kind den Kontakt zu ihr und Maria versucht, es ihm leichter zu machen, indem sie ihm einen Platz auf der Bank anbietet, den die Kleine ohne zu zögern annimmt und dann wie gebannt auf die Wiese vor ihnen blickt.
[ 5] Maria kaut weiter und trinkt einen Schluck. Sie merkt, dass das Mädchen nicht gekommen ist um zu sitzen, dass es sich nicht entspannt sondern mit etwas ringt. So macht sie einen weiteren Schritt:
[ 5] »Ich heiße Maria, und du?«
[ 5] »Caroline«, und nach einer Pause: »Wir haben da so eine Hausaufgabe …«
[ 5] »Ja?«
[ 5] »Wir sollen 'rausfinden, was unser Traumberuf ist und einen Aufsatz darüber schreiben.«
[ 5] »Oh, wie interessant. Und wie willst du das herausfinden?«
[ 5] »Wir sollen Leute fragen.«
[ 5] Na, denkt Maria, da ist sie ja an die Richtige geraten und schweigt nachdenklich.
[ 5] »Ich möchte Sie fragen.« Caroline sieht Maria erwartungsvoll von der Seite an.
[ 5] »Was mein Traumberuf ist? Wieso gerade mich? Wäre es nicht naheliegend, deine Eltern zu fragen? Tanten? Onkels?«
[ 5] Ein tiefer Seufzer. Das Kind guckt wieder auf die Wiese. »Die haben alle nicht ihren Traumberuf, bestimmt nicht: Die sind gehetzt und genervt und wissen ganz genau, in wie vielen Jahren sie Rente kriegen werden. Die haben Montags ganz schlechte Laune und Freitags nachmittags gute, die aber nicht lange bleibt. Abends sind sie müde und interessieren sich für nichts, nur für Fernsehen und Zeitung.«
[ 5] »Da hast du ja schon ordentlich über das Thema nachgedacht. Willst du das nicht auch in deinen Aufsatz hineinschreiben?«
[ 5] »Nee, das weiß doch jeder.«
[ 5] »Und wieso glaubst du, dass das bei mir anders ist?« will Maria wissen.
[ 5] Caroline muss nicht lange nachdenken, das hat sie anscheinend schon auf der Wiese getan: »Ich hab' jemanden gesucht, der glücklich aussieht. Heute ist Montag. Den Mann da hinten mit dem Kinderwagen, den könnte ich auch fragen, aber der liest ja. Sie essen nur. Da kann man reden.«
[ 5] Maria lächelt über die Klugheit dieses Kindes: »Und nun möchtest du wissen, was mein Beruf ist? Was mein Traumberuf ist?«
[ 5] »Nein, eigentlich nicht. Ich soll ja über meinen Traumberuf schreiben. Ich möchte wissen, wie Sie es gemacht haben. Wie Sie gefunden haben, was Sie machen wollten.«

Maria staunt darüber, wie zielgerichtet dieses Mädchen mit der Aufgabe umgeht und will nun ihrerseits einen ihm gebührenden Beitrag leisten:
[ 5] »Ich bin nicht gerne zur Schule gegangen. Nicht, dass es mir schwergefallen wäre, aber ich hatte einfach keine Lust dazu, nach deren Regeln zu funktionieren. Als ich so alt war wie du, da wusste ich eigentlich nur, was ich nicht werden wollte: Lehrerin, Verwaltungsangestellte, Polizistin, Kellnerin, Politikerin, Putzfrau, Verkäuferin, Tischlerin, Ärztin, Briefträgerin, … Das alles sind Berufe, bei denen ich nach jemandes Pfeife tanzen müsste.«
[ 5] »Ja«, freut sich Caroline, »da sind die meisten Berufe meiner Verwandten schon dabei!« Gespannt faltet sie die Hände im Schoß und blickt zu ihrer Bank-Nachbarin auf, wartet anscheinend auf weitere Informationen.
[ 5] »Ich habe in der Zeit, in der ich zur Schule gehen musste, allerlei gelernt. Damit meine ich nicht Algebra oder die Geschichte des Römischen Reichs. Ich habe gelernt, wie Menschen funktionieren. Jeden Tag konnte ich beobachten, wie unsere Lehrer und Lehrerinnen um ihre Autorität kämpften – oder sie einfach hatten. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, woran es liegt, dass wir der einen gehorchten und dem anderen auf der Nase herumtanzten. Stundenlang konnte ich jeden Tag studieren, was da ablief und meine Schlüsse daraus ziehen. In den Klassenarbeiten fand ich meist eine strebsame Nachbarin zum Abschreiben oder brachte einen Schummelzettel mit. Viel war es ja nicht, was die Lehrer von uns erwarteten und da ich auch meine Mitschüler und Mitschülerinnen eingehend studierte, fand ich stets eine helfende Hand.«

Caroline lauscht atemlos diesen Ausführungen. Noch nie im Leben hat sie gehört, dass eine Erwachsene ihr gegenüber Klartext redet über die Schule. Alle haben immer nur dieselben eintönigen Ermahnungen für sie. Maria fährt fort:
[ 5] »Als ich mit der Schule fertig war, wusste ich, was ich werden wollte. Meine Eltern waren dagegen und sie waren entsetzt. Vielleicht hat mein Berufswunsch damit zu tun gehabt, dass ich sie ärgern wollte, ich weiß es nicht genau, aber das spielt heute ja auch keine Rolle mehr. Ich hatte zu der Zeit schon mehrere feste Freunde gehabt, aber das hat nie länger als ein paar Wochen gedauert. Da war es nämlich genau dasselbe: Jeder von ihnen wollte, dass ich ihm gehöre und nach seinen Regeln funktioniere.«
[ 5] »Sie wollen alle nur das Eine«, sagt meine Mutter.
[ 5] »Ja, das auch“ bestätigt Maria lachend, »aber damit ist es ja noch nicht genug. Die meisten von ihnen wollten, dass ich mein Leben mit ihnen verbringe. Das war mir entschieden zu lange. So interessant fand ich keinen von ihnen. Manche sehe ich jetzt noch gelegentlich und ich hatte Recht: Sie sind so geworden wie deine Verwandten: Langweilig.«
[ 5] Caroline ist jetzt restlos überzeugt: »Das ist ja so cool! So will ich das auch machen! Meine eigenen Regeln, nur tun, was ich will!«
[ 5] »Na ja, ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht«, räumt Maria ein, »man braucht wohl auch ein wenig Glück. In meinem Fall war es eine Tante, die im richtigen Moment gestorben ist und mir ihre Eigentumswohnung vererbt hat. Ohne das hätte ich mich nicht selbständig machen können. Aber ich glaube«, tröstet sie das erschrocken dreinblickende Mädchen, »wenn du weißt, was du willst, dann ist das Glück auf deiner Seite.«
[ 5] »Mein Papa sagt dazu: ‚Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.‘«
[ 5] »Ganz genau«, freut sich Maria, ein wenig erschrocken über die derben Worte aus dem zarten Kindermund. »Weißt du nun alles was du brauchst für deinen Aufsatz?«
[ 5] »Ja! Vielen, vielen Dank!«
[ 5] »Und was ist nun dein Traumberuf?«
[ 5] »Ich will Psychologin werden mit einer eigenen Praxis.«
[ 5] Interessante Entwicklung, denkt Maria und verabschiedet sich lächelnd von Caroline. »Viel Erfolg mit dem Aufsatz und mit deinem Berufswunsch. Ich muss jetzt nach Hause, habe heute noch einen Termin.«

Zufrieden mit sich und der Welt schlendert Maria zurück zu dem nahe gelegenen Hochhaus, in dessen oberstem Stockwerk ihre exklusive Wohnung mit traumhaftem Blick über den Park liegt. Dort zieht sie sich in aller Ruhe um und blättert auf dem Sofa sitzend in einer Illustrierten, bis der Gong an der Haustür ertönt. Sie geht und betätigt den Summer. Dann schweift ihr prüfender Blick über die exklusive Einrichtung, und bleibt wohlgefällig für einen Moment an ihrem Spiegelbild haften. Entschlossen greift sie nach der Peitsche, schreitet zum Eingang und öffnet die Tür. Ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, etwa so groß wie sie selbst, hätte sie nicht diese atemberaubend hohen schwarzen Lederstiefel an, steht im Flur.
[ 5] »Du bist drei Minuten zu früh«, sagt sie in gebieterischem Ton, »du bist ein wirklich böser, böser Junge.« Sie lässt ihre weiche Lederpeitsche langsam und drohend mit der rechten in die linke Hand klatschen. »Komm rein, wenn du dich traust. Ich habe mir eine ganz besondere Strafe für dich ausgedacht.«
 



 
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