Traumzeit, Aborigine, Australien

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SiggiH

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Traumzeit

Die Traumzeit gilt als Ursprung für alle Regeln des menschlichen Zusammenlebens, für Recht und Gesetz. Aus der Traumzeit leiten sich die sozialen Regeln ab, wobei Verstöße gegen den Verhaltenskodex sanktioniert werden. (Wikipedia)
In der Vorstellung der Aborigines ist eine »träumende Landschaft« eine Verkörperung mystischer Wirklichkeiten, welche mit Worten nur schwer erklärbar sind. (Cowan: Offenbarungen. S. 29)


Was war da nur eben passiert?
War es meine Schuld? Hätte ich es verhindern können?
Ich gehe den selben Weg zurück zum Lager, nur dieses mal langsam. Was soll ich den Anderen sagen? Die Wahrheit? Wie würden sie darauf reagieren. Ich hab das Gefühl, mein Kopf platzt gleich. Eben noch angenehm vom Alkohol berauscht, arbeitet mein Verstand plötzlich wieder auf Hochtouren. Denk, denk - denk nach. Ich atme den Geruch von Eukalyptus ein, versuche klar zu denken. Wenn nur diese Musik aufhören würde...
...Welche Musik eigentlich? Ich schaue mich verstört um. Mitten im australischem Gebirge, und ich höre Musik. Ich kenne diesen Sound. In der City von Darwin haben wir uns noch über ein paar Eingeborene mit ihren mords Rohren amüsiert - Didgeridoo heißt das Teil. Aber wo kommen diese schrecklich nervigen Klänge jetzt her? Wo ist dieser Möchtegern-Musiker? Und viel wichtiger: Hat er etwas gesehen? Ich kann die Anderen hören. Die Party ist noch voll im Gange. Da ist die Lichtung.
Nichts ahnend blicken sie mir erwartungsvoll entgegen. Sheilas Blick ist sogar besonders erwartungsvoll. Der rechte Träger ihres Tops ist verrutscht. Ich kann mehr sehen als ich sollte. Ja, bis vor 15 Minuten war ich mir noch ziemlich sicher, sie heute noch zu nageln. Aber jetzt will ich nur noch in mein Zelt - schlafen.
\"He, Mike wo ist der Junge?\"
\"Weg - zu schnell für mich. Ich hau mich auf\'s Ohr! Gute Nacht!\"
\"Du kannst doch jetzt nicht schon schlafen gehen!\" Sheila schaut mich enttäuscht und gleichzeitig verführerisch an, während sie mich mit ner Flasche Jacky locken will.
\"Sorry, bin einfach nur müde. Morgen ist auch noch ein Tag.\"
Ich verkrieche mich in mein Zelt, ziehe mich bis auf T-Shirt und Unterhose aus und schlüpfe in den Schlafsack.
Draußen unterhalten sie sich mit gedämpfter Stimme. Ob sie über mich reden? Ich lausche angestrengt, aber das Einzige was ich höre ist wieder das Didgeridoo. Es macht mich irre, dieser Krach! Ich krame in meinem Rucksack und werde schnell fündig: Valium, Mama sei dank! Ich werfe eine ein und spüle sie mit nem Schluck Wasser runter. Das war heute wirklich ein anstrengender Tag. Die Hitze, der Gewaltmarsch hier hoch und dann die Aktion mit dem Jungen...
Meine Augenlider werden immer schwerer - Schlaf, komm und sei meine Zuflucht.

Ich hetze durch den Wald. Zwischen den Bäumen kann ich immer wieder den Jungen erkennen. Er ist vielleicht 15 Jahre alt, dunkle Haut, dunkle wilde Locken und dunkle Augen. Ein echter Aborigine. Der Abstand wird immer geringer, gleich hab ich ihn. Ich kann seinen Atem hören und das Rauschen des Wasserfalls. Strecke die Hand nach ihm aus. Dann - die drängend rhythmische Melodie eines Didgeridoo. Ich schaue mich ängstlich um, und da steht er: Ein uralter Aborigine, weiße Haare und schwarze Augen. Das Didgeridoo lehnt an seiner Schulter. Langsam hebt er die Hand - richtet anklagend den Finger auf mich.

\"Wach auf! Was ist denn los? Das klingt ja, als wenn du vom Känguru vergewaltigt würdest!\" Bobby schüttelt mich an der Schulter.
Verstört frage ich, wo der Aborigine ist.
\"Meinst du den Jungen, den wir gestern abfüllen wollten? Der hat sich doch los gerissen und ist getürmt. Du hast ihn doch noch verfolgt! Mensch du warst wohl gestern ganz schön dicht! Na ja, der Knabe hat heute bestimmt nen mächtigen Kater. Immerhin, haben wir ne halbe Flasche Jacky in ihn rein geschüttet. Aber schade, dass du ihn nicht mehr erwischt hast. Hätte zu gern gesehen, ob die Eingeborenen wirklich kein Alk vertragen. Soll irgendwas mit den Genen sein... Und jetzt? Lust auf Frühstück? Maggy macht gerade Kaffee.\"
Ich muss erst mal die Infos sortieren. Ich nicke, und Bobby lässt mich allein, damit ich mich anziehen kann.
Als ich das Zelt verlasse blendet mich bereits die Sonne - grausame helle australische Sonne. Habe wohl länger geschlafen, als ich dachte. Blicke in die Runde. Alle sind da: Bobby, Kevin, Ricky, Sheila und Maggy. Sie unterhalten sich munter und prosten mir mit ihren Kaffeetassen zu. Maggy kommt mir entgegen und reicht mir eine Tasse mit dampfendem Inhalt. Sie sagt etwas, was ich nicht verstehe - es ist zu laut - verdammtes Didgeridoo!
Gierig trinke ich den Kaffee.
Sie wollen gleich los, auf Fotosafari. Felsen, Bäume, den berühmten Wasserfall Mitchell Falls und Tiere ablichten. Sie hoffen auf Bergkängurus und vielleicht sogar Krokodile. Habe keinen Kopf dafür. Sie sollen ohne mich gehen. Ich bitte sie, den Didgeridoo-Spielern ihre Rohre in ihre Allerwertesten zu stecken, damit wieder Ruhe herrscht. Sie blicken mich verstört an, ziehen dann aber lachend los. Egal. Ich werde mich in den Schatten setzen, eine Valium einwerfen, versuchen zu lesen oder schlafen.

Mein Atem geht schnell und hektisch während ich den Jungen verfolge. Wir wollen doch nur etwas Spaß. Wieso läuft er denn weg? Ich rufe ihn, kann aber meine eigene Stimme über die Melodie der Didgeridoos hinweg nicht hören. Plötzlich erreiche ich einen steilen Felsabhang. Über dem Tal hängt der blaue Dunst der Eukalyptusbäume. Der Junge ist weg. Ich drehe mich um, und da stehen sie: ein Dutzend Aborigines. Die Hälfte von ihnen lassen ihre Didgeridoos erklingen. Die andere Hälfte hält in ihren Händen jeweils zwei Stöcke, die sie rhythmisch aneinander schlagen, während sie schrittweise auf mich zu kommen. Ich bekomme Angst, frage was sie von mir wollen, aber sie können mich nicht hören. Es ist zu laut. Ich blicke mich panisch um, will zurück weichen, aber hinter mir ist der Abgrund. Ich schreie. Ich schreie um mein Leben.

Ein lauter Schrei lässt mich aufschrecken. Ich sehe mich um, kann niemanden erkennen. Mein eigener Schrei hat mich geweckt! Die Sonne ist im Begriff unter zu gehen. Habe ich den ganzen Tag verschlafen? Mein Kopf schmerzt. Wieso können die nicht mit dem Krach aufhören? Am liebsten würde ich ihnen ihre Didgeridoos...
Werfe zwei Valium ein, genehmige mir nen Schluck aus der Jacky-Flasche und verkrieche mich im Zelt. Ich fühle mich fiebrig, vielleicht ne Sommergrippe.

Kevin und ich halten den jungen Aborigine fest, der plötzlich im Lager stand und uns wie zur Salzsäule erstarrt angaffte. Hat anscheinend noch nie Weiße gesehen. Sheila hat die Idee, den Jungen abzufüllen. Sie sagt, Aborigines fehlt ein Enzym zum Alkoholabbau. Sie will schauen, was passiert. Bobby beginnt, dem Jungen den Whiskey einzuverleiben. Plötzlich schlägt dieser um sich und reißt sich los. Er flüchtet in den Wald. \"Schnapp ihn dir, Mike!\" ruft Sheila. Nehme die Verfolgung auf. Ich kann ihn sehen, versuche den Abstand zu verringern. Dann sehe ich die anderen Aborigines. Sie treten rechts und links von mir hinter den Bäumen hervor. Ich renne so schnell ich kann weiter. Sie kommen immer näher, bilden eine Gasse, durch die ich laufen muss. Am Ende der Gasse steht der alte weißhaarige Mann und spielt das Didgeridoo. Ich stolpere, lande zu seinen Füßen. Ich blicke auf. Sie haben mich eingekreist - zeigen mit dem Finger auf mich.

Schreie - Schreie in der Nacht. Mir ist heiß! Mein Kopf zerspringt vor Schmerz. Arme, die mich halten. Besorgte Blicke. Musik von Didgeridoos. Ich schreie, schlage um mich. Renne raus - in den Wald. Muss ihn finden! Aber wen? Den Jungen? Den alten Mann? Es dämmert schon. Hetze vorbei an Eukalyptusbäumen und Sträuchern. Dem Klang des Didgeridoo folgend. Da geht die Sonne auf. Schmerz in den Augen. Renne blind der Sonne entgegen. Renne immer schneller. Und plötzlich fliege ich. Stille - herrliche wohlige Stille heißt mich willkommen.

Bericht aus der \"Darwin and Palmerston Sun\":
Amerikanischer Tourist verunglückt tödlich
Mitchell-River-Nationalpark

Gestern am späten Nachmittag konnte die Leiche des seit der Nacht vermissten 20-jährigem Mike Carrington am Fuße des Mitchell Falls geborgen werden. Seine mitreisenden Freunde hatten den aus New York Stammenden am frühen Morgen als vermisst gemeldet. Er muss bei seiner Nachtwanderung vom Weg abgekommen sein und stürzte an einem Steilhang zu Tode. Auf nähere Untersuchungen zum Unglückshergang wird verzichtet, und die Leiche wurde zur Überführung ins Heimatland frei gegeben.
Nur hundert Meter weiter wurde die Leiche eines zwei bis drei Tage zuvor verunglückten bisher unidentifizierten ca. 15-jährigen Aborigines entdeckt. Daneben ein Didgeridoo.
 
K

KaGeb

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