Treppauf, treppab

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Raniero

Textablader
Treppauf, treppab

„Papa, guck mal“ rief der neunjährige Andre aufgeregt, „was der Mann da macht!“
Jürgen Rohsiep, der Vater des kleinen Jungen, war gleichermaßen überrascht wie sein Sprössling.

Auf der Rolltreppe, die vom Erdgeschoss des großen Kaufhauses in die näch- höhere Etage führte, stand ein Mann mit grauen Schläfen und lichtem Haar, eifrig in die Lektüre eines Buches vertieft.
Neugierig geworden betraten Vater und Sohn ebenfalls die Treppe, um dem ungewöhnlichen Leser zu folgen.
Dieser hatte inzwischen das erste Obergeschoss erreicht und wechselte, ohne auch einen Blick von seinem Buch abzuwenden, auf die Treppe zur nächsten Ebene des sechsgeschossigen Gebäudes.
‚Donnerwetter’ dachte Jürgen Rohsiep, ‚das muss aber eine spannende Lektüre sein, dass er sie auf der Rolltreppe liest und nicht einmal zwischendurch unterbricht.’
„Mensch, Papa, das muss aber ein spannendes Buch sein“ sprach der Sohn den gleichen Gedanken aus, „das ist bestimmt eine Gruselgeschichte.“
„Kann schon sein“ antwortete der Vater zerstreut, denn ihn beschäftigte nun etwas anderes.

Er war selbst Schriftsteller und hatte bereits einige Bücher mit Erzählungen, nichts weltbewegendes oder gar Nobelpreisverdächtiges, verfasst, und er dachte nun neidvoll, was das für ein Autor sein müsse, der seinen Leser derartig in den Bann zog, dass dieser selbst auf der Rolltreppe nicht von der Lektüre abließ.
‚Mir wird so ein Glück wohl niemals beschieden sein’ schätzte er seine Lage richtig ein, ‚ich kann schon froh sein, wenn meine Leser erst nach mehrmaligem Auffordern zu meinen Werken greifen, wenn ich sie nicht sogar noch fürs Lesen entschädigen muss.’

Während der Vater noch wehmütig über seinen Status als Autor grübelte und der Sohn rätselte, was für eine Gruselgeschichte der Fremde auf der Treppe wohl gerade las, war dieser inzwischen auf der obersten Etage des Gebäudes angekommen.
Neugierig, in welche Richtung der Mann mit dem Buch nun seine Schritte lenken würde, folgten Vater und Sohn ihm mit ihren Blicken, als sie zu ihrem maßlosen Erstaunen feststellten, dass der Rolltreppenleser sofort wieder, ohne von seiner Lektüre aufzuschauen, auf die unmittelbar daneben liegende Treppe wechselte, die von oben wieder hinunter führte.
„Was macht der denn, ist der denn verrückt?“ fragten sich sie sich unisono, Jürgen Rohsiep und Sohnemann Andre.

Als der unheimliche Fremde ihnen auf halber Treppe entgegenkam, gelang es dem Vater, den Titel des spannenden Buches zu erspähen: ‚Über die richtige Benutzung von Fahrtreppen.’

Jürgen Rohsiep musste lachen.
Ein Fachbuch!
‚Na, dann’ sagte er sich, ‚ist ja noch nicht Hopfen und Malz verloren.’
„Was war das für ein Buch, Papa, ich konnte das nicht so schnell lesen. Ein Geisterbuch?“
„Ach, irgend so ein blödes Fachbuch, Junge.“
„Keine Geistergeschichten?“ fragte der Sohn entgeistert.
„Keine Geistergeschichten, leider.“
„Das müssen wir Mama erzählen, die lacht sich kaputt.“
„Das glaube ich auch.“

Zuhause berichtete Andre seiner Mutter sofort von dem merkwürdigen Mann, der auf der Rolltreppe Bücher las.
„Und nicht mal ‚ne Geistergeschichte, sondern nur so’n blödes Fachbuch“ entrüstete er sich.
Die Mutter musste lachen.
„Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht“ war ihr Kommentar.

Während Andre die merkwürdige Begebenheit schon am gleichen Abend wieder vergessen hatte, machte sein Vater in dieser Nacht kein Auge zu.
Immer wieder tauchte das Bild von dem Rolltreppenleser vor ihm auf, und es hämmerte in seinem Hirn, irgendetwas schwebte ihm vor, doch es gelang ihm nicht, dies genau zu fassen.
Plötzlich durchzuckte ihn jäh ein Gedanke.
Ja, das war’s!
Fast hätte er laut aufgeschrien, vor Begeisterung, mitten in der Nacht.
Ein großer Autor, sagte er sich, war er zwar noch nicht, aber was nicht ist, kann ja noch werden, und mit der Phantasie, die einem Schriftsteller gegeben ist, malte er sich vergnügt aus, was die Zukunft bringen würde.

Am folgenden Tag war Jürgen Frohsiep in aller Frühe auf den Beinen und entwickelte eine emsige Betriebsamkeit.
Zuerst klemmte er sich ein Buch unter den Arm und machte sich auf den Weg zu dem Kaufhaus. Dort betrat er die erste Rolltreppe, vertiefte sich in die Lektüre und versuchte, wie der Fremde am Vortage, die Treppen zu wechseln, ohne den Blick von der Lektüre zu lenken.
Das klappte auf Anhieb leider nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte, und fast wäre er gleich mehrmals gestolpert, hätte er nicht in letzter Sekunde die Augen vom Buch abgewandt.
Schon wurden die ersten Kunden und auch das Personal auf ihn aufmerksam.
Nachdem er auf diese Weise einmal das gesamte Gebäude hinauf und hinuntergefahren war, bat Rudolf einen Angestellten, den Geschäftsführer des Hauses zu fragen, ob dieser ein wenig Zeit für ihn hätte, da er ihn in einer wichtigen Angelegenheit sprechen wolle.
Rudolf hatte Glück.
Der Geschäftsführer, ein junger dynamischer Mann, hatte nicht nur Zeit, sondern, was noch wichtiger war, ein offenes Ohr für Rudolfs Anliegen und stimmte schließlich begeistert seinem Vorschlag zu.
„Eine phantastische Idee, Herr Frohsiep“, pflichtete er ihm bei, „wie lange brauchen Sie an Vorbereitung?“
„Nun, einige Wochen wird’s noch dauern.“
„Kein Problem. Kommen Sie an den nächsten Sonntagen hierher, dann haben Sie das ganze Haus für sich.“
„Wird gemacht, ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen.“
„Ich habe zu danken, Herr Frohsiep, für Ihre wunderbare Idee, und dass Sie diese hier bei uns in die Tat umsetzen wollen.“


Vier Wochen später, an einem Samstagabend, war es soweit.
Das Kaufhaus war voll von Menschen.
Alle Etagen hatte man frei geräumt und Sitzplätze wie in einem Theater aufgebaut.
Ungeduldig harrten die Besucher auf ihren Plätzen auf das, was da kommen möge.
Die Kaufhauszentrale hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, das einmalige Ereignis im Vorfeld publikzumachen, auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene.
Endlich war es soweit.
Die Menschen hielten den Atem an, vor Spannung, als Jürgen Frohsiep die unterste Rolltreppe betrat und aus seinem Erstlingswerk vorzulesen begann.
Während die Gäste seine Lesung auf Großleinwänden in allen Etagen zusätzlich verfolgen konnten, wechselte er mühelos, treppauf, treppab, ohne hierbei auch nur einmal ins Stocken zu geraten.
Frenetischer Jubel brannte auf, zum Abschluss einer jeden Erzählung, und Jürgen genoss stolz das Gefühl, der erste Schriftsteller des Erdenrunds zu sein, der auf Rolltreppen las.
Genauso stolz aber war sein Sohn Andre, der dem Vater stets bei Erreichen der letzten Etage vor den Augen des gesamten Publikums ein Glas Wasser reichte.

Jürgen Frohsiep stand an diesem Abend glasklar vor Augen, dass er niemals den Nobelpreis für Literatur gewinnen würde, doch den Titel als Erfinder von Rolltreppenlesungen konnte ihm keiner mehr streitig machen.
 

Inu

Mitglied
Hallo Raniero

Als der unheimliche Fremde ihnen auf halber Treppe entgegenkam, gelang es dem Vater, den Titel des spannenden Buches zu erspähen: ‚Über die richtige Benutzung von Fahrtreppen.’
Damit hätte ich an Deiner Stelle die Geschichte abgeschlossen, der Rest überzeugt mich nicht so ganz ;)

Gruß
Inu
 

Raniero

Textablader
Hallo Inu,

dabei hattee ich den Rest der Story eigentlich als Clou angesehen; eine Rolltreppenlesung.
Ich glaube, selbst Grass hat noch nie auf einer Rolltreppe gelesen, er wird noch neidisch werden. :)

Gruß Raniero
 

Haremsdame

Mitglied
Hallo Raniero,

ich habe Deine Geschichte mit Genuss und grinsend bis zum Ende gelesen. Die Idee der Rolltreppenlesung gefiel mir.

Gruß von der Haremsdame
 



 
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