Treppensturz

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Tehdry

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Treppensturz

Der Spasti verdarb ihm total die Laune. Seinen Schädel zierte eine fette Kerbe, das ganze Gesicht war total schief, und er kicherte idiotisch vor sich hin, während ihm der Sabber aus dem Mundwinkel lief. Sobald er den Mund aufmachte, lallte er irgendein Kauderwelsch. So wie heute morgen, als der Typ neben Ben in seinem völlig versifften Rollstuhl auftauchte. An der Jacke hatte ihn dieser Schwachkopf gezogen, brabbelte los und stampfte dabei immer wieder mit einem Fuß auf. Als er sich entnervt losriss, brüllte der Typ mit einmal wie angestochen. Am liebsten hätte er ihm was in die Fresse gehauen. Grapschte ihn mit seinen widerlichen Griffeln an, ekelerregend das Ganze. Typen wie der gingen ihm gehörig auf den Sack. Waren zu nichts zu gebrauchen und kassierten Kohle ohne Ende vom Staat. Nicht wie diese Hartz IV Almosen, mit denen sie seine Mutter abspeisten und ihn gleich mit.

Jetzt am Abend hockte er schon wieder da in seinem blöden Rollstuhl, direkt am Eingang der kleinen Bahnunterführung, die zweite Begegnung an diesem Tag, mit diesem provozierend dümmlichen Grinsen im Gesicht, als warte er auf den Heiland.
Ben musste an ihm vorbei, und jählings packte ihn eine grelle Wut. Während er näher kam, griente ihn der Typ an und rieb dabei heftig seinen Arm. Ja, ja, ja, ständig wiederholte er es, machte zwischendrin wegwerfende Handbewegungen, begleitet von einem verächtlichen „pah!“ oder „oh Mann o Mann“, das in ein meckerndes Lachen überging, dann wieder ja, ja, ja, und als Ben schließlich auf gleicher Höhe war, pfefferte ihm die flache Hand an den Hinterkopf, seine ganze aufgestaute Wut lag in diesem Schlag, er stand unter Strom und rastete vollkommen aus, angestachelt von dem Gestammel, das ihm entgegenschlug, die Hand, die sich erneut in seine Jacke krallen wollte, und mit einem brüllenden „fass mich nicht an, du Scheißspasti“ verpasste er ihm einen heftigen Stoß.

Die Bilder brannten sich ihm in Zeitlupe ein. Der Rollstuhl neigte sich zur Seite, und mit entsetztem Blick, den Mund weit aufgerissenen, kippte der Typ mit dem Rollstuhl kopfüber die Treppe runter. Er versuchte, sich krampfhaft am Rollstuhl festzuhalten, hielt im nächsten Augenblick schützend die Hand vor den Kopf, eine hilflos anmutende Geste, während der Rollstuhl über ihn wegflog, Geräusche von Metall auf Stein, sein Körper klatschte lediglich dumpf auf den Stufen auf, machte plumpe Verrenkungen, zwischendrin bricht das Schreien ab. Ben glotzte ihm fassungslos hinterher, stand da wie festgenagelt, unfähig seine Augen abzuwenden. Endlose Momente verharrte er auf dem Fleck, bevor ihn der Anblick der achtlos dahingeworfenen Gestalt aus seiner Erstarrung riss. Er sah sich hastig nach allen Seiten um. Niemand unterwegs. Er sog heftig die Luft ein, als stünde er kurz vorm Ersticken. Das hatte er nicht gewollt, dieser kleine Schubs, eigentlich ein Unfall, wieso musste gleich so ein Scheiß passieren, aber das war jetzt auch egal. Die Stufen runtergehen, nachsehen, ob er schwer verletzt ist oder wer weiß sich das Genick gebrochen hat, das brachte er nicht, da konnte er gleich geradewegs in irgend so einen Jugendknast marschieren. Abrupt drehte er sich weg und lief los, während er immerzu blinzeln musste, weil die Tränen alles verschleierten.

„Ja Ähschen.“
Sie liebte die Art, wie er Häschen sagte. Martha lächelte ihren Bruder an, der den Mund schief zog, als betrachte er sie spöttisch. Doch das war nicht der Fall. Inzwischen sah er einfach so aus.
„Dann erkläre mir mal, mein Hase“, sie betonte die beiden Silben, „wieso du immer noch das Hemd von letzter Woche trägst und wieso es hier weniger nach einer menschlichen Behausung sondern mehr nach einem Saustall aussieht, hmh?“
„Ja, ach, nee, oh Mann o Mann.“ Er studierte eingehend die karierte Tischdecke, rubbelte sich den Arm, schüttelte den Kopf, ein sicheres Zeichen, dass er sich unbehaglich fühlte. In seinem Gesicht arbeitete es ununterbrochen, und zeitweise glitt ein Ausdruck des Staunens darüber hinweg. Plötzlich hellte sich seine Miene auf, und er zupfte sich am Hemd.
„Hah!“ Triumphierend strahlte er sie an. „Nee nee nee nee“, hob er an, als folgte er den Noten einer Ouvertüre, „eima, hier, eima“, mit hochgezogenen Augenbrauen und krauser Stirn beugte er sich vor und tippte energisch auf den Kalender, der auf dem Tisch zwischen ihnen lag und den Martha dafür nutzte, mit ihm Pläne für die Woche zu machen. Sein Finger wies auf den zurückliegenden Dienstag, worauf er wieder am Hemd rumnestelte.
„Da! Auba, jahaha!“ Was willst du, ist doch alles bestens, schien sein Blick zu sagen.
„Verstehe ich das richtig? Du hast das Hemd in der Zwischenzeit nur einmal getragen und eigentlich ist es sauber?“
Er nickte würdevoll.
„Das man ein Hemd nach einmaligem Gebrauch üblicherweise durchaus wechselt, dürfte dir trotzdem bekannt sein, oder?“
„Oh Mann o Mann, auba, kar?“, seine Hand knetete ihren Unterarm und verlieh seinen Worten spürbaren Nachdruck. Zärtlich strich sie ihm über die Wange, er hielt ihre Hand fest und schmiegte sich an.

Das war letzte Woche. Jetzt blickte sie unruhig zur Küchenuhr. Schon nach halb neun und von Karl immer noch keine Spur. Das war mehr als ungewöhnlich. Seit ihr Bruder wieder in seiner Wohnung lebte, kam sie jeden Donnerstag vorbei, kaufte ein und kochte. Jedes Mal empfing er sie freudestrahlend. Sie hatte gelernt, das Unwiderrufliche zu akzeptieren, sofern es überhaupt möglich war, sich daran zu gewöhnen, dass ein Hieb mit einer Axt ein Leben so dermaßen entwurzeln kann. Das Resultat eines ausgelassenen Kneipenabends: halbseitige Lähmung, ein beschädigtes Sprachzentrum und Sabberfäden.
Der bandagierte Kopf, der eine tiefe Kerbe verbarg, Schläuche, die rein und raus führten, piepende Apparate, die Ungewissheit, ob er überleben wird und vor allem wie, endlose Tage, in denen sie mit seinem Schicksal haderte. Karl, wie er sie anlächelte, eine klaffende Lücke in seinem Schädel, die eine blutverschmierte Gehirnmasse entblößt. Einer unter ähnlichen Träumen.
Als sie nach ihrem ersten Besuch wieder die Intensivstation verließ, schaffte sie es gerade noch auf die Besuchertoilette, wo sie ihre ganze Verzweiflung herauskotzte, bis sie völlig kraftlos über der Schüssel hing.

Als er um neun Uhr immer noch ausblieb, rief sie bei der Polizei an und meldete ihn als vermisst. Den beruhigenden Worten am anderen Ende spendeten ihr nicht einen Moment Trost. Martha wusste mit dieser seltsamen Klarheit, die sich auf nichts Nachweisbaren gründet, dass etwas mit Karl passiert war. Die Zeit verstrich nur quälend langsam, sie saß apathisch mit geröteten Augen am Küchentisch. Karl, der Leute anquatschte, die meist kein Wort verstanden und sich peinlich berührt abwendeten. Wenn er zu allem Überfluss noch an der Kleidung zupfte, damit sie wussten, dass er sie meinte, war es oft vorbei mit der Höflichkeit. Dabei war er eine Seele von Mensch, doch das wollte einfach nicht in seinen deformierten Schädel rein. So oft schon hatte sie ihn eindringlich beschworen, es sein zu lassen. „Hör auf, die Leute anzugrapschen, hörst du?“ In seiner unnachahmlichen Art hatte er breit gegrinst, die für ihn so typische wegwerfende Handbewegung gemacht und nur „oh Mann o Mann“ gesagt. Sie liebte ihn für diese Streiflichter, in denen sein vertrauter Schalk aufblitzte.
Sie zuckte zusammen, als sie die Türklingel aus ihrer Versunkenheit riss. Völlig gerädert stand sie auf. Vor der Tür standen zwei Beamte.
 
U

USch

Gast
Hall Tehdry,
eine eindrucksvolle gut geschriebene Geschichte, die mich gefesselt hat.
Irgendwo fing ein Satz mit [blue]Dass [/blue]an. Da fehlt ein [blue]s[/blue].
LG USch
 

herziblatti

Mitglied
Hallo Tehdry, die Geschichte fällt durch den krassen Perspektivenwechsel in zwei Teile. Wirkt auf mich wie Teil 1+2 eines Drehbuchs: erste Sequenz/Klappe/neue Sequenz. Ansonsten: mit Interesse gelesen, sauber herausgearbeitet: der Frust/Sozialneid von Ben, die Zuneigung von Martha zu ihrem Bruder, sehr einfühlsame, gelungene Schilderungen. LG - herziblatti
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Gut herausgerbeitet Charaktere und spannende Geschichte, ich empfinde nur den Perspektivenwechsel in der Mitte als zu krass und verwirrend für den Leser.

LG Doc
 
U

USch

Gast
Hallo Tehdry, hallo Doc,
ja, der Perspektivenwechsel könnte noch verständlicher, etwas überleitender gestaltet werden.
LG USch
 



 
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