U-Bahn

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\"Zurückbleiben bitte!\" Rote Alarmleuchten und ein markerschütternder Sirenenton vermischen sich mit dem pneumatischen Zischen der Schiebetüren, die den gelblackierten Sarg schließen. Zwölf Minuten Verspätung bedeutet dichtes Gedrängel im Abteil. Mit einem kräftigen Ruck setzt sich der Zug in Bewegung und von den sechs Personen, die sich in meiner Intimdistanz befinden, hält es keiner für nötig, sich an einer Haltestange oder Griffschlaufe festzuhalten. Die plötzliche Bewegung im Boden lässt sie unkontrolliert wanken. Wir stoßen mit unseren durchgeschwitzten Körpern schmatzend gegeneinander. Feuchte Hände greifen nach Sicherheit und rutschen an meinem glänzenden Unterarm ab. \"Verzeihung\" entschuldigt man sich höflich. Ein fester Stand wäre mir lieber. Es sind die gleichen Gesichter wie jeden Tag und doch lernen sie nie, sich richtig festzuhalten.
Das Schwanken hört auf - endlich. Wir sind so dicht aneinander gedrängt, dass sich niemand traut geradeaus zu schauen. Bloß keinen Augenkontakt. Wir verrenken unsere Köpfe bis das Genick vor Spannung schmerzt. Jeder sucht sich sein leeres Stück Raum, in das er seinen Blick vergraben kann. Ich finde jedoch nur ölige Gesichter.
Einen Meter neben mir ist ein Fenster leicht angelehnt, weiter lassen sie sich nicht öffnen. Wie sadistisch. Um das Fenster recken die Fahrgäste die Hälse, wie Vogelküken einem Wurm entgegen, in der Hoffnung einen dünnen Hauch frischer Luft zu erhaschen. 25° draußen, hier mindestens 35° bei 120 Prozent Luftfeuchtigkeit. Bevor die Brise bei mir ankommt ist sie aufgeheizt und verbraucht. Keine Erfrischung in Sicht.
Ich nehme ein paar tiefe Atemzüge des dickflüssigen Dunstes, um meine aufkeimende Platzangst zu beruhigen. Irgendwo schellt ein iPhone. Ich sehe es nicht aber höre es an dem nervtötenden Xylophonklingelton. Keiner nimmt ab. Es klingelt weiter, bohrend wie ein tropfender Wasserhahn. Ein dickes Kind mit Schmollmund spielt Gameboy auf höchster Lautstärke. Fiepsende Kampfmusik mit elektronischen Explosionsgeräuschen auf \"Marimba\"-Handyklingelton, gepaart mit quietschenden Rädern, die über stumpfe Schienenlandschaft rauschen. Traumhafte Dissonanzen stechen in mein Trommelfell. Drei weitere tiefe Atemzüge später kann ich den Lärm fast ertragen und lenke mich mit meinem Umfeld ab. Die anderen sind eifrig damit beschäftigt, apathisch vor sich hin zu glotzen. Zu meiner rechten steht ein untersetzter Mann mit schwarzem Vollbart, in welchen er unverständliche Botschaften murmelt. \"Zack Zack\" kläfft er plötzlich, dann wieder unverständliches Brabbeln. \"Los Abmarsch! Alles sauber!\". Mit jedem Ausruf zuckt sein Körper wie bei einem Stromschlag zusammen. Ich frage mich, ob er gefährlich ist. Vielleicht schlägt er jeden Moment um sich oder schnappt nach mir. Ich würde gerne Abstand aufbauen, aber ich komme hier nicht weg.
\"Nächste Station: Hauptbahnhof\"
Die Durchsagen kommen meist auf halber Strecke, die grauenhafte Fahrt hat also Bergfest. Neben dem bärtigen Wahnsinnigen steht ein Koloss von Mensch mit einer Sommergrippe. Er muss knapp zwei Meter groß sein und sieht aus, als hätte er ein Bierfass verschluckt. Sein dichtes Fell quillt aus den Öffnungen des gelbstichigen Unterhemdes. Zwischen den Haarspiralen tanzen winzige Schweißtropfen, die wie Perlen im künstlichen Deckenlicht funkeln. Der Riese formt mit jedem tiefen Huster die Lippen zu einem langezogenen Abschussrohr für seinen verseuchten Auswurf. Ich möchte ihm entgegen schreien, dass er seine verdammte Hand vor den Mund nehmen soll, aber verkneife mir jedes Wort. Jetzt ist es ohnehin zu spät.
Ein feiner Nebel rast geräuschvoll aus seinem Mund in meine Richtung. Dank der Hohen Luftfeuchtigkeit sehe ich ihn durch das Abteil schweben und halte rechtzeitg die Luft an, um keine Bazillen von ihm einzuatmen. Die Wolke wabert weiter, setzt sich auf mir und meiner Kleidung ab. Im Fernsehen sagen sie, dass der Auswurf eines Niesers bis zu zwei Minuten in der Luft beibt. Also weiter Luft anhalten. Ich möchte lieber bewusstlos werden als die ekelhafte Spucke der Bazillenschleuder in mir zu haben.

Ich halte es nicht mehr aus, verdammte fehlende Selbstbeherrschung. Mit kleinen, flachen Atemzügen, gerade so viel wie nötig, gebe ich dem Drang meiner Lunge nach. Der nächste Hustenanfall lässt nicht auf sich warten und wieder hält er sich nicht die Hand vor den Mund. Du garstiger Sohn einer...
\"Potsblitz! Mach hin! Ja Ja!\"
Dem Irren scheint die Hustenarie nichts auszumachen. Ich versuche wieder den Atem anzuhalten, habe aber keine Reserven mehr in der Lunge. Ich atme unfreiwillig den Nebel ein. Ein anderer Teil setzt sich sichtbar auf meiner Haltestange fest. Wenn ich darüber nachdenke will ich gar nicht wissen, was sich alles nach einer Bahnfahrt an meiner Hand befindet. Ich sollte mir in Zukunft öfter die Hände desinfizieren.
\"Nicht rumtrödeln! Weg hier!\"
Der Irre spuckt wild beim Schreien. Das meiste landet in seinem verfilzten Bart, der mit Krümeln und Essensresten gespickt ist. Er stinkt wie eine Bahnhofstoilette.
Zwischen den Hustenattacken zieht der Riese lautstark seinen Rotz hoch. Nimm ein Taschentuch du ekelhafter Idiot. Mein Körper spannt sich vor Wut und Ekel an, was mich noch mehr schwitzen lässt. Die Hitze, die Geräusche, der Gestank, die Bazillen - sie alle bringen mich zur Weißglut. Ich balle die Hände zu Fäusten, mache mich bereit wie ein Berseker wild um mich zu schlagen, als die Bremsen wieder alles zum Wanken bringen. Der Zug fährt endlich in den Bahnhof ein.
Als sich die Türen öffnen kommt ein Schwall kühler Frischluft in den Waggon. Zwei steigen aus, drei steigen ein. Keine Besserung in Sicht. \"Zurückbleiben bitte\" Nur noch Sechzehn Stationen...
 

issachar

Mitglied
Hi Geltungssucht,

du vermagst es, atmosphärisch dicht zu schreiben ohne große Verrenkungen anstellen zu müssen. Ich glaube, die Kunst so zu schreiben, besteht einzig in der Beschreibung dessen, was man wahrnimmt. Schmierige Arme, eng aneinander gepresst. Dazu der Achselschweiß und Muff des Nebenmannes … Einfach erzählt, erhält es eine große Wirkung. (Ich kenne andere Werke, deren Autoren sich einen abbrechen, um über „verkünsteltem“ Wege das zu erreichen, was du in wenigen Worten und ganz einfach darlegst. Bleibe so nah an der Realität wie möglich und es wirkt.

Dieser Satz allerdings „Es sind die gleichen Gesichter wie jeden Tag und doch lernen sie nie, sich richtig festzuhalten“, lässt mich stocken. Mal davon abgesehen, dass ich mit dem ersten Teil die Langeweile, das Genervtsein von den ihn umgebenden Personen allgemein assoziiere, stellt sich mir die Frage, wie Gesichter es lernen können, sich ordentlich festzuhalten.

Das Wort „Gesichter“ ist da wohl das falsche Wort und könnte durch Menschen, Gestalten … ersetzt werden.
Und nun das: „Jeder sucht sich sein leeres Stück Raum, in das er seinen Blick vergraben kann. Ich finde jedoch nur ölige Gesichter.“ – Ein Stück Raum, um sein Gesicht zu vergraben und um atmen zu können, denn nichts ist lästiger, als den Gestank des anderen in sich aufnehmen zu müssen, eben weil das atmen ein Grundbedürfnis ist. Aber das bringst du ja in den nächsten Zeilen sehr einprägsam.
Im Übrigen ist der gesamte Text sehr fesselnd – und mit einem Augenzwinkern garniert – wortwörtlich eine „Horror“-Geschichte auch für den Leser. Der Riese, der rumrotzt, steht lebendig vor meinen Augen, ebenso wie der verrückte Bartträger, der sich in seinen Bart sabbert. Alles wunderbar herausgearbeitet – mit Hilfe zahlreicher bildhafter Vergleiche.

Mir hat das Lesen großen Spaß gemacht. Du schreibst auf sprachlich sehr hohem Niveau.

Dir erst einmal alles Gute!

issachar
 

G. R. Asool

Mitglied
Hey Geltungssucht,

deine Geschichte, auch wenn sie schon etwas älter ist, gefällt mir sehr gut. Ich glaube, wenn du hier und da ein paar Adjektive raus kürzt ist sie noch stimmungsvoller.

Gruß
GR
 



 
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