Ubi bene, ibi patria

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Nicole Nohr

Mitglied
Eine Schreibaufgabe zum Thema "Heimat" (kurz und knapp war Bedingung)

Ubi bene, ibi patria *)
von Nicole Nohr​


Sie wusste, dass es bald soweit war und sie verspürte keinerlei Angst.
Sie hatte keine Angst, denn es gab keinen Grund. Im Gegenteil. Sie freute sich auf die Reise. Auf ihre letzte Reise. Sie würde endlich nach Hause kommen, dorthin, wo sie sich schon lange hin wünschte.

Heimat. Zuhause. Das ist der Ort, an dem man gerne lebt, an dem man sich wohl fühlt. Wie hatte ein kluger Kopf einmal so treffend formuliert? Wo immer es gut ist, dort ist meine Heimat.*)

Sie hatte schon an so vielen Plätzen gelebt, die sie als ihr Zuhause bezeichnet hatte. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im Westen Deutschlands, musste sie in früher Jugend fliehen. Zusammen mit ihrer Familie fand sie Zuflucht in einem fremden Land, in dem fremde Menschen sie in einer fremden Sprache ansprachen.
Ihre Mutter nannte die kleine Dachwohnung, in der sie ein paar Jahre lang lebten, zuhause - für sie war es das nie gewesen. Es hatte immer etwas gefehlt. Sie hatte sich nach ihren Freunden, ihren Verwandten gesehnt, nach ihrem Zimmer über der Scheune, nach dem Zwitschern der Vögel, dem Duft des frischen Heus, der warmen Morgensonne, die sie immer in der Früh geweckt hatte.

Diese Dinge verband sie mit dem Wort Heimat.

Später, als der Krieg vorbei war und sie in ihr Dorf zurückkehren konnten, fanden sie dort nichts mehr wie es war. Alles war zerstört, lag in Schutt und Asche. Fremde Männer hatten sich die Reste der Scheune und ihr alten Zimmers zueigen gemacht.

Wieder vertrieben, zog sie mit ihrer Familie in eine Großstadt. Die Arbeit in der Bäckerei am Ende der Straße, neu gewonnene Freunde, die erste Liebe gaben ihr Halt.

Halt, den sie in dieser schweren Zeit so sehr brauchte.

Als erst ihr Vater und kurze Zeit später ihre Mutter starben, stand sie fast davor, die neu gewonnene Heimat erneut zu verlieren. Ein paar Monate später lernte sie ihren späteren Mann kennen. Bei ihm fand sie Trost und fühlte sich beschützt. Sie heirateten bald, bauten sich ein kleines Häuschen und bekamen ihre zwei Kinder. Die Zeit war hart, das Geld oft knapp, aber dennoch waren sie glücklich gewesen. Sie hatten sich ihre eigene Heimat geschaffen, ihr eigenes kleines Nest, das sie schützend umgab.

Doch es war eine Idylle, die nur kurz hielt. Der nächste Krieg zog über das Land, zerstörte, was gerade aufgebaut war, trennte, was zusammengefunden hatte.

Ihr Mann an der Front, die Kinder kaum den Windeln entwachsen, fand sie sich erneut auf der Flucht wieder und musste wieder das zurücklassen, was sie ihr Zuhause nannte.

Die fremden Menschen, die sie in einer fremden Sprache ansprachen, gaben ihr erneut nicht das Gefühl willkommen und erwünscht zu sein. Hass und Abscheu sprangen ihr aus den Augen der Gastgeber entgegen; die Kinder waren in der Zeit der einzige Halt, den sie noch hatte.
Das und ihr tägliches Beten um den Mann, den sie liebte, um ihre Heimat, ihr Zuhause, waren es, was ihr durch die Jahre halfen.

Nach dem Krieg, nach der Niederlage des deutschen Volkes kehrte sie in ihre Stadt zurück. Gemeinsam mit anderen Frauen baute sie das Land wieder auf, kümmerte sich um die Kinder und betete weiterhin täglich um den Mann, den sie liebte.

Die Kinder wurden groß, das Land blühte auf; es ging wieder aufwärts. Das, was einst ihre Heimat gewesen war, nahm mehr und mehr Gestalt an.

Doch etwas fehlte, einer kehrte nicht wieder zurück und machte aus dem Zuhause die ersehnte Heimat – die Heimat, die es zuvor gewesen war.

Die Kinder wurden groß und lebten ihr eigenes Leben. Sie blieb in dem kleinen Haus wohnen. Sie wartete und betete, klammerte sich an den Gedanken, dass ihr Mann noch lebte und irgendwann wieder zu ihr zurückkehren würde. Bis heute.

Doch er war nicht zurückgekehrt, hatte ihr nicht das fehlende Stück Heimat gebracht.
Aber das war nun nicht mehr wichtig. Sie würde ihn bald wieder sehen und zu ihm gehen, nach Hause, in ihre neue Heimat.

„Ich bin bald bei dir. Warte auf mich“, flüsterte sie, bevor sie die Augen schloss und für immer einschlief.


Ende


*) Cicero
 



 
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