Über den Berg

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Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Über den Berg

Sie haben mich ins Krankenhaus gerufen. Warum mich? Weil wir offiziell Mann und Frau sind? Es gehe dir nicht gut. Im Krankenhaus sagen sie: „Ihre Frau ist über den Berg!“
Wie lange ist das jetzt her? Die Trennung, deine Trennung. Deine Worte hallen noch über die Berge, hinunter in die Täler meiner Seele…
„Bitte verstehe mich. Er ist die große Liebe meines Lebens.“
Über den Berg bist du also. Dorthin warst du schon damals gegangen. Mit ihm. Glaub mir, in meinen Tälern ist es nicht so hell, wie oben auf deinen Bergen. Du hast mir die Täler gelassen. Die dunklen, unwegsamen, steinigen, einsamen Täler. Umgeben von Bergen, die so hoch sind, dass sie das Sonnenlicht verschlucken. Seit einem Jahr rufe ich nach dir. Nur das Echo des kalten Steins antwortet.
Ausgerechnet jetzt hast du nach mir geschickt. Er will wohl nichts mehr von dir wissen. Wahrscheinlich hat er Angst vor dem Augenblick, wenn die Verbände abgenommen werden. Ich hätte keine Angst gehabt. Damals, als ich noch die Liebe deines Lebens war.
Du tust mir leid. Mehr nicht. Denn ich kenne deinen Zustand. Wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich einen von oben bis unten verbundenen Menschen.
 

knychen

Mitglied
hallo otto,
da ja die frau "über den berg" ist und der ausspruch "die talsohle durchschritten" sinngemäß das gleiche meint, ist nur noch zu hoffen, daß "er" als erster die verbände von seiner verletzten seele wickelt und sich beide auf halber höhe treffen. es gibt da ein kurzes gedicht von eva strittmatter:
nur vom höchsten punkt auf den hügeln
sieht man das land, wie es wirklich ist.
nur in der angst des verlustes,
weiß ich, was du mir bist.

vielleicht hat sie das auch erkannt und ihn rufen lassen.
gruß aus berlin von knychen
 
S

Stoffel

Gast
lieber Otto,

eine Deiner Stärken ist wirklich auch das Kurzgeschichten-schreiben.
Heute lese ich ständig Sachen, die mich berühren, so auch dies. Gerade auch, weil ich ähnliches erlebte.

Du hast diese Passage mit seinen Gedanken, diesem leichten Vorwurf darin, der ja legitim ist, wunderbar beschrieben!
"Er will wohl nichts mehr von dir wissen"
Da auch ist der leichte Zynismus, oder Ironie? gerechtfertigt.Diese Frage.Wobei es sicher nicht DER Grund nur ist, sondern etwas damit zu tun hat, dass sie immer noch vertraut und "du" der einzige Mensch bist, den sie sehen möchte...(also den Erzähler)

Das in ein ganz prägnanter Schluss.*puh* und er lässt offen, wie er sich entscheidet.
Wenn "er" nichtn nur Mitleid empfindet, sondern an all das Gute erlebte denkt mit ihr, dann wird er wohl zu ihr gehen und ihre Hand halten.

Nur mal meine Gedanken dazu. Das ist eine ganz toll geschriebene Geschichte, die vieler Menschen Leben sicher, schrieb.

Entschuldige, ist lang geworden:)

lG
Stoffel
 



 
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