Über den Dingen

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Sebahoma

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Im Hochseilgarten war an diesem spätsommerlichen Nachmittag nicht mehr viel los. Die meisten Besucher kamen vormittags, wenn sie noch frisch und der Aufregung gewachsen waren. Luisa zog ihre Dauerkarte hervor, wurde vom Kassierer schon mit einem Lächeln begrüßt und holte sich bei der Ausgabe die übliche Ausrüstung ab. Kurz darauf hatte sie alle erforderlichen Sicherungen um sich und stieg auf ein Seil. Und dann auf ein höheres und auf ein noch höheres. Sie konnte es kaum abwarten, immer noch höher zu steigen. Die Höhe machte ihr überhaupt nichts aus, im Gegenteil, für sie konnte es nicht hoch genug sein. In dieser riesigen dreckigen Stadt war dieser kleine Dschungel aus Seilen und Holzpfählen doch das einzige, was einem ein bisschen Freiheit verschaffte. Ihre kleine Insel der Sorglosigkeit. Sie konnte richtig spüren, wie sie mit jedem Meter ihre Probleme weiter hinter sich ließ. Schließlich war sie ganz weit oben. Von hier aus konnte sie den Garten gut überblicken. Es gab nur drei Wege auf den höchsten Turm zu kommen. Sie wählte immer den steilsten und anspruchsvollsten, musste aber feststellen, dass auch dieser sie mit der Zeit nicht mehr herausforderte. Hier oben wurde man dann mit einer sehr schönen Aussicht, nicht nur über den Garten, sondern auch über die ganze Stadt belohnt. Der Wind trieb die hektischen Geräusche des Arbeitsalltages gedämpft her. Freiheit. Hier gelang es Luisa, wirklich abzuschalten, wenn ihr ganzes Leben weit unter ihr lag und sie das Gefühl hatte, tatsächlich über den Dingen zu stehen und wieder Übersicht zu gewinnen.

Da sah sie, wie einer der Angestellten in den Seilen herumkletterte und einem kleinen Jungen dabei half, sich zurück zum Boden zu seilen. War wohl etwas zu viel für den Kleinen. Danach setzte der Angestellte an und machte sich auf den Weg zu Luisas Aussichtsplattform. Sie erkannte ihn, es war Daniel. Damals, als dieser Park eröffnet hatte, war Luisa gekommen und wollte sich der Herausforderung stellen. Zu Anfang war sie noch ein bisschen aufgeregt und unsicher, aber Daniel zeigte ihr, dass sie keine Angst haben brauchte. Von ihm lernte sie, dass das, was die Leute als Gefahr ansahen, eigentlich ein großer Spaß war und es ihr ein Gefühl der Freiheit gab. „Ich dachte erst, Du bist Luisa, aber dann bemerkte ich, dass es nicht Luisa sein kann. Denn Luisa ist ja erst ein halbes Jahr dabei und dafür bist Du eigentlich schon viel zu schnell hier oben!“, sagte er zum Spaß. „Übung macht den Meister!“, sagte sie als er sich neben sie setzte. „So oft wie Du hier herkommst, müssen wir mal überlegen, ob das mit den Dauerkarten für uns noch so lukrativ ist“, spaßte er weiter. Sie mochte seine lockere Art. So wurde man wohl, wenn man immer hier war und weit über den Problemen stand. Oft hatten sie sich auch außerhalb seiner Arbeitsstätte getroffen und waren Freunde geworden. „Ohne mich hättet ihr heute doch fast keine Gäste.“ „Heute Morgen war tatsächlich mehr los. Aber eine Stunde vor Schluss kommen kaum noch Besucher.“ „Was sagt Dein Chef, wenn du hier mit den Besuchern herumsitzt und nicht arbeitest.“ „Der findet das gut. Kundenbindung. Außerdem habe ich sonst ja gerade nichts zu tun. Niemand hier, der abgeseilt werden muss oder vor dem Absprung zu retten ist.“ Einen Moment sagten sie nichts. Der Wind fuhr ihnen um die Ohren. Die Welt sah von hier oben wie Spielzeug aus.

„Gibt es Ärger zu Hause?“, fragte Daniel geradeheraus. „Zu Hause gibt es bei uns immer Ärger. Aber heute musste ich mal wieder raus.“ „Worum geht es denn dieses Mal?“ „Es ist immer das gleiche. Mein Vater wirft mir vor, ich sei unordentlich und hätte kein Ziel. Ich soll doch mehr für die Schule machen. Blabla.“ „Und was sagst Du dann?“ „Dass er mich doch gar nicht versteht. Er hat fast gar keine Zeit für mich. Und wenn er Zeit hat, dann nörgelt er nur herum. Ich habe ihm vorgeworfen, dass ihm seine Arbeit wichtiger ist als ich und bin dann abgehauen.“ Wieder Stille, wieder nur der Wind und ein gegenseitiges wortloses Verstehen.

„Jetzt bekomme ich vielleicht doch noch etwas zu tun“, sagte Daniel plötzlich und zeigte zum Eingang, wo ein Mann sich eine Karte kaufte. „Oh nein, jetzt wird es richtig peinlich“, stöhnte Luisa. „Das ist mein Vater.“ „Der war doch noch nie hier.“ „Er kommt auch nicht weit. Er hat mega Höhenangst.“ Der Mann setzte an und kletterte ein Stück. Als er die Hälfte erreicht hatte, fasste er neben ein Seil und fiel ein Stück nach unten. Daniel zuckte, aber die Sicherungsseile machten ihre Arbeit problemlos. Luisa sah Daniel verständnislos an. „Ich will nur nicht, dass wir Neukunden auf diese Weise gleich wieder verlieren“, entschuldigte er sich. Luisas Vater fing sich wieder und kletterte tapfer weiter. Unglaublich, er hielt sogar durch. Die beiden beobachteten, wie er immer näher kam. Dann war er schließlich auf der Plattform. „Was willst du denn hier? Du wolltest doch noch mal ins Büro“, fragte sie ihn und konnte die Schweißperlen auf seiner Stirn erkennen. „Ich finde, unser Gespräch war noch nicht fertig. Ich wollte dir noch etwas sagen, aber Du bist ja weggelaufen.“ Er wartete einen Moment und verschnaufte. „Nein, meine Arbeit ist mir nicht wichtiger als Du. Du bist mir wichtiger. Sehen wir uns zum Abendessen an einem normaleren Ort, vielleicht zu Hause?“ Luisa nickte und lächelte. Dann machte er sich an den Abstieg.
 

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Hi Sebahoma,

eine wundervolle Idee für eine Kurzgeschichte.
Entsprechend gern habe ich sie gelesen. so gern sogar, dass mir die zweite Hälfte zu rasch und glatt vorbeiging.

Was muss es für den Vater eine Überwindung gekostet haben sich in (subjektive) Lebensgefahr zu begeben und in der Protagonistin passiert gar nicht viel. vielleicht kannst Du dich da noch einmal dran machen und die Geschichte intensivieren.

Auch Dein Schreibstil hat mir gefallen. Die Kinder/Teeny-Sicht kommt gut raus, ohne aufdringlich zu wirken.
Überflüssig finde ich Satzteile wie "sie konnte wirklich spüren". Ich hätte sie direkt spüren lassen. Andererseits, als Gedanke des Mädchens macht so etwas Sinn, wenn klar ist, dass es ein Gedanke ist. So bin ich mir nicht ganz schlüssig.

Wenn es hilft, benutz es, wenn nicht, kehr es in die große schwarze Tonne.

Liebe Grüße
vom
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Sebahoma

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Hi Avatar!

Vielen Dank für Dein Feedback! Darüber habe ich mich sehr gefreut.

Du hast Rest, dass die Gefühle der Protagonistin ein bisschen zu kurz kommen und manche Sätze könnten noch besser formuliert werden. Das ist mir beim Schreiben gar nicht so bewusst geworden und ich werde mich demnächst damit beschäftigen.

Aber schon einmal vielen Dank für die Anregungen! Die große schwarze Tonne bleibt wohl leer!

Viele Grüße
Sebahoma
 

Sebahoma

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Im Hochseilgarten war an diesem spätsommerlichen Nachmittag nicht mehr viel los. Die meisten Besucher kamen vormittags, wenn sie noch frisch und der Aufregung gewachsen waren. Luisa zog ihre Dauerkarte hervor, wurde vom Kassierer schon mit einem Lächeln begrüßt und holte sich bei der Ausgabe die übliche Ausrüstung ab. Kurz darauf hatte sie alle erforderlichen Sicherungen um sich und stieg auf ein Seil. Und dann auf ein höheres und auf ein noch höheres. Sie konnte es kaum abwarten, immer noch höher zu steigen. Die Höhe machte ihr überhaupt nichts aus, im Gegenteil, für sie konnte es nicht hoch genug sein. In dieser riesigen dreckigen Stadt war dieser kleine Dschungel aus Seilen und Holzpfählen doch das einzige, was einem ein bisschen Freiheit verschaffte. Ihre kleine Insel der Sorglosigkeit. Sie spürte richtig, wie sie mit jedem Meter ihre Probleme weiter hinter sich ließ. Sie konnte den Garten schon ganz gut überblicken. Es gab nur drei Wege auf den höchsten Turm zu kommen. Sie wählte immer den steilsten und anspruchsvollsten, musste aber feststellen, dass auch dieser sie mit der Zeit nicht mehr herausforderte. Hier oben wurde man dann mit einer sehr schönen Aussicht, nicht nur über den Garten, sondern auch über die ganze Stadt belohnt. Der Wind trieb die hektischen Geräusche des Arbeitsalltages gedämpft her. Freiheit. Hier gelang es Luisa, wirklich abzuschalten, wenn ihr ganzes Leben weit unter ihr lag und sie das Gefühl hatte, tatsächlich über den Dingen zu stehen und wieder Übersicht zu gewinnen.

Da sah sie, wie einer der Angestellten in den Seilen herumkletterte und einem kleinen Jungen dabei half, sich zurück zum Boden zu seilen. War wohl etwas zu viel für den Kleinen. Danach setzte der Angestellte an und machte sich auf den Weg zu Luisas Aussichtsplattform. Sie erkannte ihn, es war Daniel. Damals, als dieser Park gerade eröffnet hatte, war Luisa gekommen und wollte sich der Herausforderung stellen. Zu Anfang war sie noch ein bisschen aufgeregt und unsicher, aber Daniel zeigte ihr, dass sie keine Angst haben brauchte. Von ihm lernte sie, dass das, was die Leute als Gefahr ansahen, eigentlich ein großer Spaß war und es ihr ein Gefühl der Freiheit gab. „Ich dachte erst, Du bist Luisa, aber dann bemerkte ich, dass es nicht Luisa sein kann. Denn Luisa ist ja erst ein halbes Jahr dabei und dafür bist Du eigentlich schon viel zu schnell hier oben!“, sagte er zum Spaß. „Übung macht den Meister!“, sagte sie als er sich neben sie setzte. „So oft wie Du hier herkommst, müssen wir mal überlegen, ob das mit den Dauerkarten für uns noch so lukrativ ist“, spaßte er weiter. Sie mochte seine lockere Art. So wurde man wohl, wenn man immer hier war und weit über den Problemen stand. Oft hatten sie sich auch außerhalb seiner Arbeitsstätte getroffen und waren Freunde geworden. „Ohne mich hättet ihr heute doch fast keine Gäste.“ „Heute Morgen war tatsächlich mehr los. Aber eine Stunde vor Schluss kommen kaum noch Besucher.“ „Was sagt Dein Chef, wenn Du hier mit den Besuchern herumsitzt und nicht arbeitest.“ „Der findet das gut. Kundenbindung. Außerdem habe ich sonst ja gerade nichts zu tun. Niemand hier, der abgeseilt werden muss oder vor dem Absprung zu retten ist.“ Einen Moment sagten sie nichts. Der Wind fuhr ihnen um die Ohren. Die Welt sah von hier oben wie Spielzeug aus.

„Gibt es Ärger zu Hause?“, fragte Daniel geradeheraus. „Zu Hause gibt es bei uns immer Ärger. Aber heute musste ich mal wieder raus.“ „Worum geht es denn dieses Mal?“ „Es ist immer das gleiche. Mein Vater wirft mir vor, ich sei unordentlich und hätte kein Ziel. Ich soll doch mehr für die Schule machen. Blabla.“ „Und was sagst Du dann?“ „Dass er mich doch gar nicht versteht. Er hat fast gar keine Zeit für mich. Und wenn er Zeit hat, dann nörgelt er nur herum. Ich habe ihm vorgeworfen, dass ihm seine Arbeit wichtiger ist als ich und bin dann abgehauen.“ Wieder Stille, wieder nur der Wind und ein gegenseitiges wortloses Verstehen.

„Jetzt bekomme ich vielleicht doch noch etwas zu tun“, sagte Daniel plötzlich und zeigte zum Eingang, wo ein Mann sich eine Karte kaufte. Dieser sah gar nicht entspannt aus und blickte etwas erschrocken auf die Höhe der Aussichtsplattform. „War es eine dumme Idee gewesen?“, fragte er sich innerlich. „Soll ich schnell wieder verschwinden?“

„Oh nein, jetzt wird es richtig peinlich“, stöhnte Luisa. „Das ist mein Vater.“ „Der war doch noch nie hier“, wunderte sich Daniel. Luisa war selbst verwundert. Warum kam ihr Vater hier her? „Er kommt auch nicht weit. Er hat mega Höhenangst“, sagte sie schnell.

Jetzt entdeckte er die beiden ganz oben sitzen. Er atmete tief ein. „Nein, die Idee war großartig“, redete er sich ein. „Jetzt bloß nicht wegen so ein paar Metern Höhe aufgeben.“ Er nickte den beiden kurz zu und machte sich an den Aufstieg. Luisa konnte sich ihre Gefühle kaum erklären. Eben noch war sie so sauer auf ihren Vater und nun fühlte sie so etwas wie Bewunderung, dass er sich dieser Herausforderung stellte. Als er die Hälfte erreicht hatte, fasste er neben ein Seil und fiel ein Stück nach unten, aber die Sicherheitsseile machten ihre Arbeit einwandfrei. Luisa erschrak innerlich, zuckte automatisch und ärgerte sich schon im nächsten Moment darüber. Daniel sah sie erstaunt an. „Ist was?“, fragte sie und tat so, als sei sie vollkommen unbeeindruckt. „Nein, ich will nur nicht, dass wir Neukunden auf diese Weise gleich wieder verlieren“, sagte er. Luisas Vater fing sich wieder und kletterte tapfer weiter. Unglaublich, er hielt sogar durch. Die beiden beobachteten, wie er immer näher kam. Mit jedem Höhenmeter wandelte sich Luisas Wut mehr in Bewunderung um. Schließlich war er auf der Plattform. „Was willst Du denn hier? Du wolltest doch noch mal ins Büro“, fragte sie ihn und konnte die Schweißperlen auf seiner Stirn erkennen. „Ich finde, unser Gespräch war noch nicht fertig. Ich wollte Dir noch etwas sagen, aber Du bist ja weggelaufen.“ Er wartete einen Moment und verschnaufte. „Nein, meine Arbeit ist mir nicht wichtiger als Du. Du bist mir wichtiger. Sehen wir uns zum Abendessen an einem normaleren Ort, vielleicht zu Hause?“ Luisa nickte und lächelte. Dann machte er sich an den Abstieg.
 



 
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