Überlebensstrategien (Selbsttäuschung,Geschehenlassen , Erinnerungen)

Satgyan

Mitglied
Die Party ist vorbei, Wulle Bulle hilft nicht mehr

Was für eine Stille. Endlich waren alle gegangen. Die Musik klang noch in seinen Ohren: `Wulle Bulle´ wieder und wieder. Wie ruhig es nun war. Eben noch die letzten Gäste hinausgebracht und die Tür hinter ihnen geschlossen, fühlte er nun mit dem Rücken gegen die Türfüllung gelehnt, wie sich die Kühle des Holzes durch das verschwitzte Hemd in seinem Rücken ausbreitete. Er blickte von der Diele in die drei großzügig geschnittenen Räume der Altbauwohnung. Alle Türen standen offen, große zweiflügelige Holztüren mit massiven Füllungen, die nach dem letzten Anstrich perlweiß glänzten. Auf dem Boden lagen Zigarettenschachteln und zerrissene Servietten. Der Geruch von Alkohol und Zigarettenasche erfüllte die Luft.
\"Irgendwo muss noch die Platte mit den Buletten sein\". Manchmal redete er halblaut vor sich hin. Er ging einige Schritte in Richtung Balkonzimmer. Kurz hielt er inne, weil er glaubte die Stimme seiner Tochter durch die geschlossene Tür zu hören. Es konnte aber auch ein Knarzen der Matratze gewesen sein. Mit der Hand auf der Klinke wartete er ab. Es war erst 3 Uhr nachts. Normalerweise schlief sie fest bis 6 Uhr früh.
Früher war sie nachts oft weinend aufgewacht, aber seit dem Umzug vor einem Monat schlief sie besser. “Mit zwei Jahren ist sie ja auch aus dem Gröbsten raus“, dachte er noch, als ihm auffiel, wie ruhig es in der neuen Wohnung war. \"Wo ist eigentlich Christa? Sie war doch vorhin noch in der Küche mit dem Abwasch der Gläser beschäftigt\". Ruckartig löste er sich von der Klinke und ging auf Zehenspitzen die paar Schritte ins Berliner Zimmer.
“Was für ein Durcheinander!“ Stühle und Sessel standen kreuz und quer. Mit langen Schritten durchquerte er im Zickzackkurs die Möbellandschaft, stieg über Kissen und Geschirrberge und riss die Tür zum hinteren Flur auf. \"Christa\", rief er mit krächzender Stimme, dann nochmal etwas lauter: \"Christa!\". Keine Antwort. Alles was ihm entgegen kam, war der Geruch von erkaltetem Bratenfett. Die Tür zur Küche stand offen und das Licht war an.
“Vielleicht hat sie sich schon hingelegt und schläft“, überlegte er. Die erste Tür links ging in das gemeinsame Schlafzimmer. Er legte vorsichtig die Hand auf die Klinke. Dabei musste er an den großen, aus einem Stück gefertigten Kleiderschrank denken, der beim Umzug in dem Treppenhaus als eine riesige Kiste zwischen den Treppenläufen festklemmte. Vorsichtig mussten die Umzugsleute den Korpus lösen, Putz fiel herab, Geländer zerkratzte und diese wunderbare, an den Ecken verzinkte Tischlerarbeit musste im Hausflur abgestellt werden, wo sie dann nach einigen Wochen mit einer Handkreissäge von ihm in handliche Einzelteile zerlegt wurde.
\"Ja\", redete er halblaut vor sich hin, \"in diesem kleinen Raum wäre der Schrank als Ganzes sowieso nie hinein gegangen.\" Der Platz reichte gerade für das Bett, da ein alter Kachelofen auch noch in einer Ecke stand. Das kostbare Stück stand nun im Berliner Zimmer, wo die große weiße Frontfläche das Tageslicht aus dem einzigen Fenster reflektierte.
“Warum muss ich bloß an den Schrank denken?\", wunderte er sich, \"und an den Umzug? Ach ja, heute haben wir die Einweihung gefeiert.\" Seine Hand lag noch immer auf der Klinke, die er vorsichtig hinunter drückte. Durch einen schmalen Spalt sah er das leere Bett. “Hatte ich das Laken nicht heute Nachmittag glatt gezogen? Wieso ist alles so verwühlt?“ Etwas beunruhigt schaute er noch in das kleine, daneben liegende Bad. Der Geruch von WC Reiniger und verschiedene Deodorantdüfte ließen ihn unwillkürlich die Luft anhalten. Auch dort kein Lebenszeichen seiner Frau.
\"Wie kann das sein? Ich verstehe es nicht! Vielleicht ist sie hinten raus um mal Luft zu schöpfen?\" Er rannte zur Küche, aber die Tür zum Hintertreppenhaus war von innen verschlossen.
\"Ob sie doch vorne raus gegangen ist. Ohne mir was zu sagen?\" Langsam wie im Traum ging er durch alle Zimmer ohne etwas wahrzunehmen, fand sich auf dem kleinen Balkon wieder, wo er tief einatmete. Die Nacht war sternenklar und warm. Eine wunderbare Frische zog durch die Straße mit den hohen, alten Robinien. Der Mond war schon gen Norden hinter dem Haus verschwunden, aber die Helligkeit ließ überdeutlich die Pflastermuster der Bürgersteige und die Gipsprofile der gegenüber liegenden Häuser hervortreten.
“War schon ein Glück, dass wir diese Wohnung bekommen haben“, träumte er vor sich hin, “es waren ja viele Bewerber damals gewesen. Glücklicherweise hatte die alte Hausbesitzerin ein Herz für uns gehabt, für das junge Paar mit dem Kleinkind, wie sie es ausdrückte“.

In Gedanken verloren sah er die alte Wohnung in der Weimarerstrasse, in der sie zwei Jahre zusammen mit seiner Mutter gelebt hatten. Er war in der Wohnung geboren, hatte Kindheit, Jugend und Studienzeit dort verbracht und dann im ersten Sommer der Ehe die drei Räume, die sie bewohnen wollten, in Eigenarbeit renoviert. Das große Wohnzimmer, das Schlafzimmer und die kleine Mädchenkammer für die Tochter. Er erinnerte sich an das mühseligen Abschleifen des Parketts mit Eisenspänen und das Ablösen der alten Tapeten. Er sah wieder Zeitungsnachrichten der Makulatur aus dem Jahre 1923 vor sich: Brot kostet 1000 Reichsmark und Noch mehr Menschen ohne Arbeit. Viele Tapetenschichten mussten abgekratzt werden, weil die Wand nur gestrichen werden sollte. Puristisch sollte alles sein, so wie die Möbel des Schlafzimmers, die nach seinen Entwürfen in der Werkstatt eines Studienfreundes angefertigt wurden: Aus massiver Kiefer, die Ecken verzinkt und mit weißen Vorderfronten. Die Decke des Schlafraumes hatte er mit weißgestrichenen Holzlamellenraster abgehängt. Die Vorhänge waren in einem vornehmen dunkelgrau gehalten und als Lampe diente ein großer japanischer Lampion. Alles war wunderbar aufeinander abgestimmt. Leider hatten nur die Möbel den Umzug mitgemacht und das Ambiente musste zurückbleiben bei seiner Mutter.
Aber es ging auch nicht mehr mit den beiden. Christa und seine Mutter begannen sich nach einigen Monaten zu streiten, wie das bei Schwiegertochter und Schwiegermutter so vorkommt. Jeder wollte das Kind für sich haben. Am Ende konnte seine Mutter nicht mit ansehen, dass die kleine Franziska allein im Kinderzimmer `verlassen´ blieb, weil die jungen Leute über Nacht zu einer Party waren. Schließlich wurde das Kind eingeschlossen, der Schlüssel abgezogen und von seiner Frau mitgenommen.
\"Hätte ich vielleicht damals einen Einwand erheben sollen?\" überlegte er. Aber er hatte von verschiedenen Seiten gehört, dass der Ehemann zu seiner Frau stehen sollte.
“Ansonsten war die Zeit vor den Streitereien doch harmonisch gewesen. Die täglichen Mittagessen in dem chinesischen Restaurant in der Kantstraße, so als Belohnung für die anstrengenden Renovierungsarbeiten“, und er hörte den Wirt mit der witzigen Aussprache Chinesische Ente, ganz knusprig sagen und sah das breiten Grinsen unter den Augenschlitzen. Das war die Zeit, als er noch ganz verliebt war. Christa hatte sich nach der Geburt in die schlanke Frau zurück verwandelt und der kurze Haarschnitt gab ihr den Touch von Jean Seberg aus dem Film `Außer Atem´. Er war ziemlich stolz auf sie.

Langsam fand er wieder zurück in die Wirklichkeit, er stand auf dem Balkon. Der einsetzende Morgenwind ließ ihn frösteln und sein Blick überflog noch einmal die Dunkelheit der Straße mit den kugelförmigen Lichtschwaden der Laternen, in denen die Feuchtigkeit als Nebel erschien.
Beim Eintritt in das Wohnzimmer, horchte er nach dem Kind. Es war nichts zu hören. Seine Augen strichen über die paar Möbel, die hier standen. Ein paar Safarisessel und ein Tisch, der als total zerlegbares Unikat sein ganzer Stolz war. An den Wänden hatte er am Nachmittag noch Zeichnungen von einer Kindertagesstätte festgemacht, die er entworfen hatte. Träumerisch hingen seine Augen an den Plänen.
\"Was mache ich eigentlich hier?\" stellte er irritiert fest und drehte sich um die eigene Achse, um seine Gedanken zu klären. Eine alte Angewohnheit, die ihm sonst immer half. \"Ich könnte ja mal nachschauen, ob der Mantel von Christa noch an der Garderobe hängt. Vielleicht ist sie nur mal ganz kurz mit einem Gast die Treppe runter gegangen um frische Luft zu schöpfen. Wie man so im Gespräch mit jemanden zur Tür geht und weil es interessant ist, auch noch die Treppe runter und dann steht man vor der Tür und findet kein Ende\", überlegte er halblaut und schlug sich an die Stirn: \"Klar, die steht vor der Haustür! Ich könnt ihr den Mantel bringen\". Er griff schon danach, hielt abrupt inne und überlegte: “Aber, dann hätte ich doch vorhin von der Straße Stimmen hören müssen, als ich auf dem Balkon war“. Aber er hatte keine gehört.
Ihm fiel ein, wie er in seiner Jugend mit Mädchen im Hauseingang geknutscht hatte ohne großen Lärm zu machen. \"Dann gehe ich lieber nicht nachsehen, das wär mir doch etwas peinlich!\"

Und er erinnerte sich an eine peinliche Geschichte vor ein paar Wochen, als sie beide mit der Rixdorfer Gruppe in deren VW-Bus zur Havel gefahren waren. Der VW-Bus war bereits voll bepackt mit Bier, Alkohol und den Künstlern aus der Gruppe, als sie dazu stiegen. \"Wieso waren wir überhaupt mitgefahren?\" Dunkel glaubte er sich zu erinnern, dass seine Frau den Vorschlag gemacht hatte: \"Da gibt es ein paar unterhaltsame Maler, die am Samstag zur Havel fahren um eine Nacht durchzufeiern. Wollen wir da mitmachen?\"
Eigentlich wollte er nicht wirklich mit, lieber wäre ihm ein gemeinsamer Abend mit seiner Frau gewesen. Musik hören und danach der Sendung aus dem dritten Programm `Am Abend vorgelesen´ lauschen. Gert Westphal las Thomas Manns `Joseph und seine Brüder´. Die Lesung zog sich schon seit Monaten hin, war immer nur samstags. Diesen Genuss hatten sie sich anfangs noch mit Smörrebröd aus dem dänischen Spezialitätengeschäft veredelt. Die hübsch dekorierten Delikatessen mit einem pikanten Obendrauf, sei es ein süß eingelegtes Fischlein oder ein Remouladenschinkenröllchen, waren am Samstagabend ein idealer Einstieg für das Eigentliche geworden. Leider hatte der Laden dichtgemacht. So blieb nur noch Gert Westphal mit Thomas Mann. Auf den er auch noch verzichtet hatte, weil er schließlich doch in den Bus einstieg, der vor der Tür wartete.
Es gab nicht genug Sitzplätze. Irgendwo musste er sich festhalten, halb auf den Boden des VW Busses abgestützt, halb auf einer Bierkiste sitzend. Auf der anderen Hälfte der Kiste saß der Klaus S. mit seiner Frau in einem Gespräch vertieft. Er fühlte sich unsicher und beobachtet von den ungewohnten Gestalten, die mit Augenzwinkern, verhaltenem Lachen und gegenseitigem Anmachen einen Halbkreis um das Paar gebildet hatten. Dem Bier wurde während der Fahrt heftig zugesprochen. Rülpser in verschiedenen Tonhöhen akzentuierten das Motorgeräusch. Christa, die einzige Frau zwischen all den Männern, saß halb auf einer Bank, halb auf dem Schenkel eines, schon etwas in die Jahre gekommenen Dicken, von dem sich später herausstellte, dass er der Gründer der Rixdorfer war.
Sie hatte einen kurzen Minirock angezogen, der ihre schlanken Beine fast ganz sehen ließ. Der Typ, der mit ihr schwafelte, berührte wie zufällig mit den Händen ihre Waden, die sich in dem engen Raum vor ihm in den hohen Absätzen abstützten. \"Was fällt denn dem ein!\", er blickte seine Frau streng an, die daraufhin ihre Beine aus der Berührungssphäre zog. “Das will mir gar nicht gefallen, zu ärgerlich, dass wir zugesagt haben“, verdrängte er das Gesehene und hoffte auf ein schnelles Ende der Fahrt.
Die Fahrt endete nach etlichen Kurven und starkem Schütteln auf einer Lichtung. Beim Aussteigen wurde die Gruppe von zwei Pärchen begrüßt, die sich im Äußeren etwas unterschieden, aber offensichtlich auch irgendetwas mit Kunst zu tun hatten. Die freie Art der Begrüßung und die ungewöhnliche Kombination der Kleidungsstücke deuteten in diese Richtung. \"Wahrscheinlich alle von der H.f.d.K.\", ordnete er die Neuen ein. Aus dem VW Bus waren nun auch die zwei Frauen ausgestiegen, die vorn gesessen hatte. Die schwarz geschminkten Augen und weite Schlapper Klarmotten fielen ihm sofort auf. Sie lachten grell und schmissen ihre Mähnen dabei um sich.
Er war noch mit der Betrachtung der einzelnen Personen beschäftigt, als Christa aus dem Bus rief: \"Schatz, ich glaube die Kette ist gerissen!\". Tatsächlich, die hübsche Glasperlenkette in Türkis, die sie extra seinetwegen umgelegt hatte, lag am Boden des Busses in Einzelteile verstreut.
\"Das Geschenk zu ihrem Geburtstag!\" Er kniete sich hin, um die Perlen aufzuklauben, griff unter den Sitz, unter die Bierkisten. “Wie viele Perlen waren es denn?“. Jetzt hatte er ungefähr die Hälfte aufgenommen und steckte sie in die Jackentasche. Er begann die Kisten aus dem Wagen zu räumen. Christa stand neben dem Fahrzeug und rief: \"Ach lass doch, du findest sie sowieso nicht alle\". Was ihn natürlich anstachelte, noch tiefer in den Bus zu kriechen. Die Umstehenden fingen an zu lachen und riefen: \"Such, such!\". Sie hielten sich die Seiten und klatschten sich auf die Schenkel, während er wie besessen den Boden absuchte.
“Die wollten doch feiern, na dann los! Lasst mich in Frieden suchen“. Endlich verkrümelte sich die Gruppe hinunter zur Anlegestelle an der Havel.
Einer blieb zurück um den Bus abzuschließen. Da musste er nach einigen Minuten die Suche doch einstellen. Als er sich aufrichtete, blickte er in ein lachendes Gesicht: \"Na, alle Perlen deiner Frau gefunden? Pass bloß auf, vielleicht kriegst du deine Alte auch nicht mehr ganz heil zurück!\" Irritiert blickte er in das Gesicht, das sich immer mehr zum Grinsen verzog. \"Hast ´de nicht mitgekriegt, dass der Klaus ein Auge auf sie geworfen hat? Heh?\"
Seine Gedanken rasten, jetzt passte einiges zusammen. \"Und wo ist sie jetzt?\", schoss es ihm durch den Kopf und er rannte hinter den anderen her, hinunter zum Anleger, wo alle lachend auf ihn warteten.
Von seiner Frau und dem Klaus war keine Spur. “Was bin ich doch naiv“, stellte er deprimiert fest. Sie klopften ihm tröstend auf die Schulter: \"Nimm ´s nicht krumm. Ist uns auch schon passiert\". Ein bitterer Trost, der ihn nicht erreichte. Er empfand die Situation peinlich.

\"Ja, peinlich. Wirklich\", versunken betrachtete er noch den Mantel seiner Frau am Garderobenständer, fühlte Hitze aufsteigen, ging zur Eingangstür, öffnete sie, um ins Treppenhaus zu lauschen. Die kühle Nachtluft zog nach oben und von der Helligkeit des Mondes bestrahlt, zeichneten die Sprossen des großen Fensters auf dem Podest ein Gitter ab. Der Schattenwurf und das Wort “Gitter“, das er innerlich einige Male wiederholte, schien ihm in dem Moment wie ein Schlüssel für den Zustand seiner Beziehung.
Hatte er nicht, aus einem Gefühl des Eingeengt Seins vor ein paar Wochen so nebenbei zu seiner Frau gesagt: \"Wir müssen doch nicht immer alles zusammen machen\". Christa hatte ihn fragend angeblickt: \"Was meinst du damit?\" \"Ach nur so! Ich dachte mir, falls du mal Lust hast mit jemandem zu reden, wenn du mit dem Kind im Strandbad Wannsee bist, dann wäre es doch nicht so langweilig\". \"Mir ist nicht langweilig. Ich liege gerne in der Sonne und tue nichts\". \"Ja schon, aber manchmal möchte man sich doch unterhalten, oder nicht?\" Damit endete das Gespräch. “Könnte es sein, dass sie mich total missverstanden hat? Das war doch keine Aufforderung zum Seitensprung“, versuchte er sich in Gedanken zu rechtfertigen.
Schließlich war seine Frau in der Nacht an der Havel nach ein paar Minuten wieder lachend aufgetaucht und der Klaus kam aus einer ganz anderen Richtung. “Man muss auch nicht alles so dramatisieren“, beruhigte er sich. Die nächtliche Feier mit den Künstlern war schließlich richtig ausgelassen geworden. Es wurde viel getanzt, die hatten ein batteriebetriebenes Kassettengerät dabei und dort hörte er zum ersten Mal diesen Song, der nicht mehr aus dem Ohr gehen wollte: Wulle Bulle, Wulle Bulle.
Schon fühlte er den Rhythmus in den Beinen und sah sich im gleichen Augenblick im Balkonzimmer mit der Ingrid aus dem Büro tanzen. Ja, er empfand sich um drei Stunden zurückversetzt, sein Atem ging schneller, die Beine wippten im Beat, sein Oberkörper drehte sich mit, seine Hände spürten sogar die weiche Haut der Tanzpartnerin. Er sah ihre grünen Augen, die hochgesteckten, rötlichen Haare, ihr offenes Lachen und das Grübchen am Kinn. \"Sie ist doch eine aparte Frau, wenn sie sich so im Tanz gehen lässt. Habe sie so überhaupt noch nie erlebt\".
Ingrid war in dem Architekturbüro seit einigen Monaten als seine Zeichnerin tätig. Sie saß vor ihm, er sah sie deshalb fast immer nur von hinten, außer wenn er ihr Pläne und Details erklärte. Im Büro war sie zurückhaltend höflich, fast schon scheu und er erinnerte sich, dass sie in einer Pause davon gesprochen hatte, wie froh sie wäre, endlich nach einer Unterbrechung das Studium der Innenarchitektur an der Meisterschule abgeschlossen zu haben. Er hatte sie dort nie gesehen. “Unerklärlich eigentlich“, dachte er bei sich, “heute war sie doch äußerst attraktiv in dem grauen, figurbetonten Kleid. Und wie sie sich drehte, mit den Hüften schwang, mir zulachte und ganz außer Atem geriet, als der Tanz endete. Vielleicht ist sie ein wenig zu fraulich“, blitzte noch eine Bewertung durch sein Gehirn.
Sie hatte sich nach dem Tanz auch weggedreht, sich entfernt und war später mit einem Glas Wein an ihm ohne Blickkontakt vorbeigegangen. “Komisch, was ich an ihr finde. Wenn ich so überlege, muss ich ihr doch eine ziemlich lange Zeit mit den Augen gefolgt sein. Wie lange ich sie wohl beobachtet habe?“ Dabei wurde ihm plötzlich bewusst, dass viel Zeit vergangen sein musste, als der letzte Gast die Wohnung verlassen hatte.

“Dann ist Christa schon Stunden fort“, überfiel ihn die Wirklichkeit der leeren Wohnung. Ein leichtes Unbehagen vom Magen meldete sich und ein ihm bekanntes Gefühl der Einsamkeit vermischte sich für einen kurzen Moment mit Traurigkeit. So eine Traurigkeit, die sich in der Beziehung letztes Jahr auf einer Jugoslawienreise eingestellt hatte, Die Reise nach Kirk in Nordjugoslawien war die erste Auslandsreise, ohne Kind. Franziska war bei seiner Mutter in Obhut gegeben worden. Seine Frau wollte sich mal richtig erholen, nicht nur von der Arbeit als Kinderkrankenschwester, die sie nach der Geburt des Kindes wieder aufgenommen hatte, auch von den anstrengenden Nächten, dem Stillen, einfach allem. Das konnte er gut verstehen. “Ohne Kleinkind könnte unsere Ehe vielleicht auch wieder eine Liebesbeziehung werden“, hoffte er.
Die Ankunft in dem Hotel, wo ein alter Kellner noch aus der Zeit der K. u .K. Monarchie deutsch mit österreichischem Charme sprach, geriet zum Stress. Das Zimmer stand unter Wasser. Wasser lief durch das Dach an der Wand hinter dem Betthaupt hinunter, das zwar einen gewissen ästhetischen Reiz für ihn hatte, aber mit seiner Frau zu einem Streit führte. Die Regenzeit hörte glücklicherweise an dem Tage auf und der ganze April war dann sonnig. Sie fanden einen Platz zum Sonnen und Baden an dem felsigen Kiesstrand, wo zum Glück ein Anleger betoniert war, die einzige Horizontale zum Ablegen der Badetücher. Seine Frau stellte sich auf Sonnenbaden ein. \"Ich will braun werden\", hörte er ihre Stimme wieder ganz deutlich, als ihm bewusst wurde, dass sie für die Party auch ziemlich viel Make-up aufgelegt hatte um dem Ziel näher zu kommen. “Hatte er nicht die gleiche Farbe am Hemdkragen von diesem Klaus S. bemerkt?“ Er hatte es nur unbewusst wahrgenommen und einfach so hingenommen. Wie er es auch in Jugoslawien hingenommen hatte, dass sie tagelang in der knalligen Sonne lag.
Nach 10 Tagen hatte sich ihre Haut merklich ins Rote verfärbt. Sie musste Schutzcreme bemühen, die Haut fing an, sich zu pellen. Trotzdem wollte sie nicht aufgeben. Alle Bitten, doch mal eine Pause einzulegen, einen Spaziergang in den kleinen Ort zu unternehmen, widerstand sie eisern. So machte er sich allein auf den Weg. Durch die Gassen, an der Schmiede vorbei, zur kleinen Bar am Markt, wo der Patron nach türkischer Art auf dem offenen Feuer Kaffee in Kupferkannen mit Zucker aufkochte, der verführerisch duftete. Alle diese Erlebnisse, einschließlich der wunderbar pikant gewürzten Wurst, die er vom Gang durch den Ort mitbrachte, sowie die diamantscharfen Beschreibungen von schillernden Steinoberflächen und überreichen Grünschattierungen auf den schmalen Eselspfaden, konnten sie kein einziges Mal bewegen, ihren Stammplatz zu verlassen, außer zu den Essenszeiten. Das Badetuch blieb zurück als stumme Mahnung, auf keinen Fall, auf eine Änderung ihrer Absicht zu hoffen. Er fügte sich. “War das bereits Resignation? Oder eher Trauer über eine verlorene Chance?“

\"Das ist nun auch schon über ein Jahr her\", murmelte er vor sich hin, während er im Balkonzimmer zwischen den Safarisesseln stand, an der Stelle, wo er in Gedanken mit der Ingrid `Wulle Bulle´ getanzt hatte. Unbewusst griff er nach einem gefüllten Aschenbecher, um ihn in die Küche zu tragen. Dabei bemerkte er, vorsichtig durch das Chaos steigend, noch mehr Aschenbecher, die wie eine Aufforderung schienen. Eine Aufforderung mal was Nützliches zu machen und dieses Chaos zu beseitigen, statt nur in Erinnerungen abzudriften. “Ja, ich müsste mal aufräumen! Die Kissen aus dem Weg räumen!! Die Tellerberge mit den Resten in die Küche bringen!“
Die Gläser hatte ja Christa schon weggeräumt.
Aber dann kippte seine Stimmung: “Sie ist verschwunden und hat mir den ganzen Dreck gelassen. Soll ich das alles wieder in Ordnung bringen!\", knurrte er halblaut vor sich hin und fühlte eine merkwürdige Unruhe von der Körpermitte hoch kriechen, die sich langsam in Wut verwandelte. Er rannte zum Fenster, riss mit der linken Hand an dem Riegel, öffnete den inneren und den äußeren Flügel und schmiss den Aschenbecher in den Hof, wo er mit einem satten Plumps auf der Gartenerde aufklatschte. \"Scheiße, es macht keinen Sinn alles runter zu schmeißen! Es macht nicht genug Lärm! Außerdem muss ich wieder alles kaufen!\"
Also schloss er die Fensterflügel und beobachtete, wie die zurückgehaltene Wut abflaute und sich zu einer inneren Kraft wandelte, zu einer Stärke, allem standzuhalten. Diese Empfindung war ihm schon einige Male bewusst geworden. Zuletzt vor drei Jahren in Rimini, als er zwischen den Wellenbrechern aus riesigen Steinbrocken hinausgeschwommen war, allein hinaus in das Adriatische Meer, in die Weite hinein ohne zu denken. Bei der Rückkehr brauchte er die ganze Kraft, um gegen die Sogströmung zwischen den Befestigungen anzuschwimmen. Zentimeter um Zentimeter kam er nur voran. Die Kraft zum Durchhalten kam aus seiner Mitte. Darauf verließ er sich seitdem. Die Kraft hatte seinen Mut entfacht, den er früher intensiv gespürt hatte, der leider durch die Kompromisse und Selbsttäuschungen und all die Lügen irgendwann verschwunden war.

Tief atmete er die frische Luft ein, die ihn noch vom Öffnen des Fensters umgab, griff jetzt wirklich nach den Tellerbergen und balancierte über die am Boden liegenden Gegenstände in Richtung Küche, dabei wieder `Wulle Bulle´ im Ohr, mit einem geschmeidigen Gang im Rhythmus der Musik.
Als er aus der Küche zurück in das Partychaos trat, fühlte er sich hilflos. Die Leere der Wohnung und die äußere Stille waren nicht zu ertragen. Er musste sich ablenken.
\"Warum nicht noch ein paar Scheiben auflegen? Für diese Stimmung passt doch wunderbar Muddy Water`s `I am a man´ mit James Brown\", hörte er sich reden und dann gleich darauf laut “I am a man“ schreien, als die Phrase ekstatisch gesteigert wurde. Das Schreien gefiel ihm, er fing an zu tanzen und als dann der Hit `Sexmashine´ einsetzte, tobte er seine zurückgehaltenen Gefühle aus! Dann hörte die Musik auf. James Brown sang nicht mehr. Die Stille dehnte sich wieder aus.
Die Morgenröte kroch am Himmel über die Hausdächer, die er von der Balkontür aus sehen konnte. Es waren vielleicht drei Stunden vergangen, seitdem er seine Frau vermisste. Das Licht von draußen war noch nicht hell genug um die Beleuchtung auszumachen. Er war nicht müde, wie sonst um diese Zeit, wenn sie lange gefeiert hatten.
Die Stille in der Wohnung wurde noch unangenehmer, als draußen vereinzelt Vögel zwitscherten. Er wusste nicht mehr weiter! Aufräumen wollte er nicht und zum Saubermachen verspürte er ebenfalls keine Lust. Letztendlich musste er aber in der Wohnung bleiben. Er wollte keinesfalls seine Tochter allein lassen.
“Ich könnte, wenn es jetzt hell wird, die Franziska wecken, sie in den Laufstall setzen und mit ihr spielen“, spielte er eine Möglichkeit durch. Hatte er doch schon öfter neben dem Laufstall zugebracht, wenn er auf das Kind aufpassen musste. Seine Frau hatte im Krankenhaus wechselnde Arbeitszeiten. Letztens hatte er stundenlang am Boden sitzend auf einem Blatt Papier den neuen Entwurf für die Kindertagesstätte entwickelt. Am nächsten Tage hatte er die Variante seinem Chef gezeigt. Die gefiel dem so gut, dass der alte Entwurf verworfen wurde. Das hatte er auch erhofft.

Die Nacht schien ohne Ende, noch kein Morgenschimmer am Himmel auszumachen. Um sich abzulenken, griff er zu den Vinyl Scheiben von Klaus S., die auf dem Boden gestapelt lagen: `Times are changing´ von Bob Dylan, Rhythm&Blues mit Little Richard und natürlich ´Wulle Bulle´. Die Platten hatte die Rixdorfer mitgebracht und ein paar junge Weiber dazu. Da war sofort eine andere Stimmung, als die Bande mit “Hallo“ reinstürmte und die Musikanlage besetzte. `Take five´ von Dave Brubeck wurde mittendrin beendet und einer legte ´Wulle Bulle´ auf. “Klar, begann sofort Halli Galli! Die tanzten ja auch wie verrückt, tranken das Bier und den Wein aus den Gläsern von den anderen Gästen“. Schon ziemlich angetrunken waren sie eingetroffen und hatten `ne Kiste Bier dabei. Die Weiber in ihrem Schlapperlook warfen wieder ihre langen Mähnen und kreischten. Die besetzten einfach das Berliner Zimmer und die anderen Gäste mussten ein bisschen desorientiert in das Balkonzimmer ausweichen.

Während er noch in Gedanken über den Verlauf der Party den Kopf schüttelte, tauchte die Sonne die Szenerie in helldunkle Kontraste. Er machte das Licht aus und ging in das Kinderzimmer. Franziska schlief fest. Er nahm den zusammenklappbaren Laufstall in die rechte, die Bodenmatte in die linke Hand und baute alles in der Nähe der Balkontür auf, wo die Sonne das Parkett erwärmte. Vogelgezwitscher drang durch die offene Balkontür und ein Auto fuhr auf der Straße und hielt. Er horchte angestrengt, konnte aber keine Stimmen ausmachen. “Ob ich vielleicht auf den Balkon gehe und nachschaue? Quatsch! Ich wecke jetzt erst mal Franziska und bringe sie her.“
Als er die verschlafene Tochter auf seinem Arm trug, wurde ihm wieder bewusst, wie sehr er das Kind liebte, obwohl es kein Wunschkind war. Wie oft hatte er es schon herumgetragen, wenn es sich nicht beruhigen wollte. Zuletzt an einem Sonntag im Strandbad Wannsee. Sie schrie und schrie, stundenlang. Die Leute blickten von allen Seiten frustriert. Also nahm er seine kleine Franziska auf den Arm und ging mit ihr die Strandpromenade hin und her, hoch und runter, nochmal und nochmal, bis sie vor Erschöpfung endlich einschlief und es auch Zeit war nach Hause aufzubrechen.
Als er Franziska hinlegte, schüttelte er unbewusst den Kopf über ihre Behinderung. In der Spreizhose sah sie wie ein breiter Pfannkuchen aus. Das Krabbeln war fast nicht möglich, aber die Spreizhose musste wohl sein. Seine Frau, die Kinderkrankenschwester, ausgebildet in einem Diakoniekrankenhaus, musste es doch wissen. Dort im Krankenhaus hatte sie Franziska zur Welt gebracht und in alter Manier wurden Mutter und Kind getrennt aufbewahrt. Zum Stillen wurde das Baby aus der Station geholt und an die Mutterbrust gelegt. Er durfte das Baby nicht anfassen. Die Hygiene ging über alles!
“Ja, dieser Diakonie-Verein“, erinnerte er sich,“damals als ich Christa in ihrer freien Zeit abholte und ablieferte. Das waren strenge Regularien, wie in einer Kaserne wurden die Schwesternschülerinnen gehalten. Und diese Schwesternkluft!“ Er musste laut lachen, als er seine Frau mit Häubchen und gestreiften Kleid vor sich sah.
Einmal hatte Christa in der Ausbildungszeit sogar Urlaub für 24 Stunden bekommen. Da waren beide nach einer Party mit Studienfreunden anschließend durch Berlin gelaufen, die ganze Nacht hindurch, bis es hell wurde. Das Frühkonzert zu Pfingsten im Tiergarten begann um 7 Uhr. Die Nacht war kühl gewesen. Sie hielten sich festumschlungen und wärmten sich gegenseitig. Als die Sonne hochstieg, das Konzert vorbei war, lagen sie auf ihren Mänteln im Gras der Parkanlage, träumten den ziehenden Wolken hinterher, wussten noch nichts von der Zukunft; gingen später zu Aschinger eine Suppe essen, nachmittags in den Film Picknick mit Kim Novak, eine amerikanische Kleinstadtkarikatur mit Beziehungsstress, danach einen Eisbecher bei Kanzler schlecken und machten noch einen Bummel an Schuhgeschäften entlang, schauten bei Sarotti auf den Schoko-Mohren und gingen nochmals zu den Schuhen mit den hohen Absätzen, weiß waren sie und sie hätten so gut zu dem Kleid gepasst, das seine Mutter der zukünftigen Schwiegertochter für einen Jazzbandball nähte, mit einem Ausschnitt, der bis zum Nabel reichte. Einen Einblick, der das Herz schneller schlagen ließ.. \"Ja, die ersten Jahre\", seufzte er vor sich hin: \"die waren aufregend und irgendwie romantisch\".

Nun hörte er eine Autotür schlagen, einige Zeit später durchdrang die morgendliche Sonntagsruhe das Schließen der schweren Hauseingangstür und in seiner Vorstellung stieg die Person die Stufen der vier Treppenläufe empor, passierte die Podeste. Er wartete darauf, ob zur angemessenen Zeit das Geräusch des Schlüssels zu hören wäre.
Plötzlich kam ihm die Idee, sich zu verstecken.“Ich könnte so tun, als wäre ich in der Küche mit Abwasch beschäftigt.“
Seine Frau betrat von der Diele her das Balkonzimmer mit ausgreifendem Schritt, durchquerte zielbewusst den Raum, am Laufstall vorbei, zum Balkon hin und rief noch auf der Schwelle mit etwas gedämpfter Stimme: \"Er ist da!\"
Während er so tat, als käme er aus der Küche, drehte sie sich um, kniete sich hin und strich der Tochter über den Kopf. \"Na hast du schön geschlafen, Franziska? Du bist aber heute früh aufgewacht\". Beim Herantreten, hörte er von der Straße eine Hupe und das typische Motorgeräusch eines VW Busses.
\"Guten Morgen\", sagte er. Mehr nicht. Er konnte in dem Moment nicht mal ihren Namen aussprechen, fühlte sich wie gelähmt. “Warum sagt sie nichts zur Erklärung?“ dachte er, während er vor ihr stand, sie anblickte und nicht sprechen konnte. Halb im Wegdrehen, damit sie seine Enttäuschung nicht sehen sollte, hörte er seine eigene fremd klingende Stimme: \"Na, hast du dich gut amüsiert?\" Wie durch eine Nebelwand drang ihre beiläufige Bemerkung zu ihm durch: \"Ja, aber nicht so, wie du denkst. Ich wollte nur mal, nach den vielen Menschen, die Natur erleben und frische Luft atmen\". Sie richtete sich auf. Er sah sie zweifelnd an, wollte ihr glauben.
Hübsch sah sie aus, so von der Seite aus den Augenwinkeln betrachtet. “Das rosa farbige Kleid steht ihr wirklich gut, betont ihre Hüften.“ Dann fiel ihm ihr veränderter Gesichtsausdruck auf. “So gelöst, habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Ihre Augen leuchten ja richtig, und Farbe hat sie bekommen, das ist doch kein Make-up.“ Er wandte sich ab und sagte mit einem Kloß im Hals: \"ich komme aus der Küche. Bin beim Abwasch\".
Langsam verließ er den Raum in der Erwartung, dass sie noch irgendetwas sagen würde. Als er am Fenster zum Hof kurz stehen blieb, das sommerliches Blau vom Himmel unbewusst registrierend, hörte er von weit entfernt ihre Stimme: \"Ja, du hast recht. Wir müssen jetzt erst mal aufräumen. Morgen müssen wir beide wieder arbeiten\" und dann nach einer Pause: \"Hast du mit deiner Mutter eine Zeit ausgemacht? Wann wir Franziska bringen können?\"
Überrascht drehte er sich um: \"Wie meinst du das?\", und zu sich: “Will sie die Franziska wieder meiner Mutter überlassen?“, laut sagte er dann: \"Nein, bisher noch nicht. Ich dachte, dass wir das noch gemeinsam klären wollten.\"
Die sonntägliche Harmonieabstimmung war damit beendet. An die folgenden Stunden hatte er keine Erinnerung mehr. Eine innerliche Leere breitete sich aus. Ihm war, als wäre jeder Kontakt zur Wirklichkeit abgebrochen. Dann wieder fühlte er etwas wie Wut, aber richtig äußerte sich das Gefühl nicht. Ein paarmal ging er auf seine Frau zu und wollte sie in die Arme nehmen und seinen Kopf an ihre Wange legen. Aber etwas in ihrem Verhalten hielt ihn davon ab und er verlor jedes Mal den Mut. Bis zum Nachmittag trieb es ihn ohne Ziel durch die Wohnung. Die Leere im Gehirn weitete sich aus. Der Körper funktionierte nur noch automatisch. Er wollte sich mit Musik ablenken, legte Wulle Bulle auf. Es funktionierte nicht mehr.

Epilog

Bis zum Winter hielt er es in der Wohnung, die nur Ofenheizung und kein heißes Wasser hatte, allein aus. Dann zog es ihn zur Ingrid, wo er die Vorzüge einer Badewanne genoss und außerdem ein breites Bett mit schöner kühler Seidenbettwäsche und einem duftenden, weichen, anschmiegsamen Körper.“Ein bisschen zu fraulich? Nein, nein.“ Er hatte einfach seine sieben Sachen in einen Koffer gepackt, mit dem er dann ziemlich umgehend vor Ingrids Wohnung stand. Nach anfänglichem Zaudern und einem \"Na gut, wir können es mal probieren. Du weißt ja, ich bin seit Jahren gewohnt, alleine zu leben\", gab sie nach und gewöhnte sich an seine Art. Das Argument, dass die Wohnung für ihn allein zu groß und für Franziska die alte Umgebung das Beste wäre, schien ja vernünftig und einsehbar.
Seine Ehe mit Christa wurde geschieden. Sie nahm die Schuld auf sich und erhielt das Sorgerecht für die Tochter. Christa heiratete Klaus S. und bekam von ihm eine Tochter. Die Wohnung wurde für einige Jahre zum Heim für die neue Familie.
 



 
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