Ulrike will ihr eigenes Haus haben
Fabiola langweilte sich. Es war Sonntag, aber es regnete. „Wie kann es nur am Sonntag regnen?“, empörte sich die Kleine. Niemand antwortete, weder die Puppen, noch irgendein Kuscheltier. Die drei Bären, der kleine Löwe, der Pinguin und der Papagei – alle blieben stumm. Wie immer. Wie langweilig!
Fabiola nahm eines ihrer Bilderbücher zur Hand und blätterte darin. Aber sie konnte nichts Neues mehr entdecken, zu oft hatte sie es schon ausgelesen. Und die anderen Bücher? Ach, die waren ja noch älter!
Ja, wenn sie schon zur Schule gehen würde und richtig lesen könnte, ja, dann . . . Aber bis zur Einschulung musste sie noch ein Jahr warten.
Womit vertreibt sich ein fünfjähriges Mädchen die Zeit, wenn es regnet und die Mutti endlose Telefongespräche führt? Sie stellt sich vor, eine Ballerina zu sein. Das ist einfach. Man braucht nur daran zu denken, dass man das schönste Kleid von der ganzen Welt an hat, eine ganz tolle Frisur mit Glitzerglanz – das Kleid glitzert natürlich auch – und dann dreht man sich, dreht sich und dreht sich und stößt an den Schrank. Aua.
Genug getanzt. Jetzt muss Fabiola abwarten, bis das Zimmer still steht. Dann könnte sie sich noch einmal drehen, bis sie an irgend ein Möbel stößt.
Sie könnte aber auch auf Schatzsuche gehen. Das ist ebenfalls ganz einfach. Man kann tief in einem alten Schrank eine alte Schatulle finden. Hm. In Fabiolas Zimmer steht kein alter Schrank, kein dunkles Ungetüm mit hölzernen Schnörkeln. Und in Muttis Zimmern steht auch keiner. Nicht einmal im Keller wurde so ein Möbel aufbewahrt. Vielleicht auf dem Dachboden? Vor einiger Zeit war sie mal dort oben, aber es war finster und ungemütlich, da ist sie schnell wieder in ihr Zimmer zurück gegangen.
Sie blickte aus dem Fenster. Wenn die Wolken ganz dicht beieinander stehen und gar nichts Blaues zu sehen ist, dann regnet es noch ne Weile. Das hatte ihre Oma erklärt beim letzten dummen Regenwetter. Und dann hatte sie mit ihr Karten gespielt und Mensch ärgere dich nicht. Ach ja, die Oma. Warum musste die nur so weit weg wohnen?
Fabiola schlich an die Wohnzimmertür und riskierte einen kurzen Blick. Mutti hatte es sich auf dem Sofa sehr gemütlich gemacht. Sie unterhielt sich angeregt mit . . . mit Oma! Das dauerte womöglich genau so lange wie der Regen. Also konnte sie jetzt ganz in Ruhe auf den Dachboden gehen.
Beinahe hätte sie ein Liedchen geträllert, aber das hätte Mutti gehört und aus wärs mit dem Stöbern nach dem Schatz!
Der Dachboden war von einer großen Eisentür versperrt. Sie quietschte leise beim Öffnen. Fabiola lauschte die Treppe hinunter. Nein, die Mutti hatte nichts gehört! Also hinein in das flache Dachstübchen.
Hier konnte kein alter, verschnörkelter Schrank stehen, dazu war der Dachboden nicht hoch genug. Aber was steht da herum? Ihr Babykörbchen. Darin hatte sie gelegen, als sie noch ganz klein war. Mama hatte ihr Fotos davon gezeigt. Damals glänzte die breite rosa Schleife, jetzt hing sie trübe herab.
Da war noch etwas aus Rohr Geflochtenes – eine Truhe! Eine Schatztruhe! Und schon war Fabiola dabei, die Truhe auszuwühlen. Jede Menge alte Kleidungsstücke kamen zum Vorschein. Aber von einem Schatz nicht die Spur. Nicht mal eine Schatzkarte ließ sich finden. Also den ganzen Kram wieder einpacken, Mutti sollte ja nichts merken.
So, Deckel drauf und alles sieht aus wie vorher. Fabiola ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Da stehen noch ein paar Stühle. Uninteressant. Auch die Gartenmöbel, die immer im Sommer auf der Terrasse stehen, sind uninteressant.
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und bemerkte gar nicht, dass sie das lange Wort ausgesprochen hatte. Da hörte sie ein Schniefen von den Gartenmöbeln her. Wer oder was sollte da schniefen? Und schon hörte sie eine leise, aber empörte Stimme: „Uninteressant? Das glaubst du doch wohl selber nicht!“
Was war das? Sprechende Gartenmöbel? Gibt es so was? Ja, im Fernsehen. Aber die waren gemalt. Oder besser gezeichnet. Vielleicht waren es ja tatsächlich genau ihre Gartenmöbel, die man dafür genommen hatte? Man denkt sich doch so was nicht einfach so aus. Das wär ja . . .das wär ja so gut wie gelogen.
Wenn man sich einfach nur so was ausdenkt, dann fängt man an, zu lügen, hatte Opa gesagt. Nein, spin – ti – sie- ren hatte er gesagt. Papa hatte dann erklärt, dass das so viel heißt wie spinnen, schwindeln. Und schwindeln ist so gut wie lügen!
Mutig trat sie ganz dicht an den Möbelstapel heran und zog das weiße Laken davon herunter. Papa hatte die Stühle abgedeckt, damit sie nicht einstauben. Aber warum war das Laken so dick? Fabiola wollte das Laken ordentlich zusammenlegen und versuchte, es auf dem Fußboden auszubreiten. Allerdings ließ es sich nicht ausbreiten, sondern kicherte: „Na, da staunst du, was?“
Erschrocken ließ sie das Leinen los. „Seit wann können Laken reden?“, fragte sie ganz streng, genau so, wie ihre Kindergärtnerin sprach, wenn die Kinder Unfug machten.
Das vermeintliche Wäschestück bewegte sich und maulte: „Ich bin doch kein Laken! Ich bin das Dachgespenst Ulrike!“
Vor Fabiolas staunenden Augen hob sich ein weißes Gebilde in die Höhe. Auf dem Boden lag das zerknitterte Laken. Deshalb war es so dick, weil ein Gespenst darunter gesessen hatte! Kürzlich hatte sie den Film "Das Gespenst von Canterville" gesehen und wusste, dass Gespenster sehr unglückliche Wesen sein können, vor denen man sich nicht fürchten muss. Und dieses hier sah mit seinen großen Kulleraugen ganz allerliebst aus.
„Oh, wie schön!“, jubelte Fabiola. „Wir haben ein Dachgespenst!“
„Ja, aber nicht mehr lange!“, rief Ulrike und warf sich in der Luft hin und her.
„Warum?“, fragte Fabiola sehr enttäuscht.
„Weil ich mein eigenes Haus haben will“, erklärte Ulrike.
„Na, du kannst doch einfach sagen, dass unser Haus dein Haus ist, weil du das einzige Gespenst hier bist, oder?“ Fabiola wollte die neue Spielgefährtin nicht verlieren.
„Ja, so habe ich es bisher auch gehalten, aber jetzt möchte ich mein eigenes Haus haben“.
Ulrike flatterte immer wilder in der Luft hin und her.
Mit der stimmt doch was nicht!, dachte Fabiola. Die will doch in Wahrheit gar nicht weg von hier! Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe und suchte nach Worten.
“Ich will mein eigenes Haus haben“, piepste Ulrike mit sehr hoher Stimme. „Es muss ja nicht so prächtig sein wie die Häuser der thailändischen Hausgeister . . .“
„Du warst mit uns in Thailand?“, fiel Fabiola ihr ins Wort.
„Nee, aber deine Eltern haben doch allen Leuten erzählt, wie es da war und was für Häuser da den Geistern gebaut werden! Ich will auch ein Haus haben!“, jammerte sie elendiglich.
Eine Weile war es still. Ulrike flatterte in der Luft hin und her und Fabiola kaute an der Unterlippe. Dann hatte sie eine Idee: „Wie wäre es, wenn ich dir ein kleines Haus baue?“
„Jaaaahhhh!“, kreischte Ulrike begeistert. „Aber kannst du das denn?“, setzte sie zweifelnd hinzu.
„Ich kann es jedenfalls versuchen. Und ich habe viele Freunde, die mir bestimmt helfen werden“.
„Freunde? Denen darfst du aber nichts von mir erzählen! Wir Gespenster dürfen uns nämlich eigentlich gar niemandem zeigen, weißt du, dass du mich hier siehst, das ist eine ganz, ganz große Ausnahme!“
„Geht klar“, nickte Fabiola. „Ich sage nur, dass ich so was ähnliches bauen möchte wie ich in Thailand gesehen habe“.
„Prima. Du bist ne echte Freundin“, säuselte Ulrike.
Gemeinsam deckten sie das Laken über die Gartenmöbel und verabschiedeten sich von einander. Auf der Treppe hörte Fabiola, wie Ulrike in den höchsten Tönen sang: „Wir bauen uns ein neues Haus, neues Haus!“
Von nun an fragte Fabiola überall herum, was man alles benötigt, um ein Haus zu bauen. Sie erfuhr etwas über Steine und Zement, dass man die Steine nicht genau aufeinander legt, dann hält die Mauer nicht. Man muss sie versetzt aufeinander legen, aber genau senkrecht. Senkrecht ist von oben nach unten. Das kann man mit einem Lot oder einer Wasserwaage ausmessen. Die Wasserwaage ist auch gut für waagerecht, also ganz gerade von rechts nach links. Geht auch umgekehrt. Also mit ihr wird kein Wasser abgewogen, sondern eine Blase im Wasser zeigt an, ob alles richtig gerade ist.
Der Zement wird mit der Maurerkelle aufgetragen und verteilt. Da muss darauf geachtet werden, dass nicht so viel verkleckert wird. Zement ist teuer. Außerdem sieht es nicht gut aus, wenn überall Kleckerhäufchen sind.
Man braucht auch Holz zum Bauen. Für die Fenster, die Dielen, die Türen und das Dach. Der das alles macht, heißt Zimmermann. Nein, er ist ein Zimmermann. Heißen kann ja jeder so, aber die Arbeit, die muss man gelernt haben. Ein guter Zimmermann verdient auch gutes Geld. Genau wie ein guter Maurer.
Aber Fabiola und Ulrike wollten ja gar kein Haus aus Stein und Zement und Holz. Ein Haus aus Holz und Pappe sollte genügen. Da waren ganz andere Werkzeuge nötig: anstelle der Wasserwaage kam der Winkel, anstelle der Maurerkelle Hammer, Nägel und Leim.
Die meisten Auskünfte bekam sie von ihrem Opa. Der hatte – wer hätte das gedacht? – eine richtige kleine Werkstatt im Keller. Hobbyraum, sagte die Oma. Da gab es sogar eine Hobelbank. Fabiola durfte auch mal mit dem Hobel über ein Stück Holz fahren, aber zisch – zisch- zisch, so wie im Lied von den fleißigen Handwerkern, ging es nicht einmal bei Opa.
Noch viel mehr Handwerkszeug lernte Fabiola kennen, die bissige Kneifzange, den scharfen Stechbeitel und den biegsamen Spachtel zum Verteilen von Fensterkitt oder Dichtungsmasse.
Und nicht zu vergessen vielen unterschiedlich langen Schrauben und die ebenfalls unterschiedlichen Schraubendreher. Dazu noch die Bügelsäge für Laubsägearbeiten und den Fuchsschwanz mit den großen Zähnen.
Am meisten staunte Fabiola über die Feilen. Bei Mama hatte sie schon oft die kleine Nagelfeile gesehen, aber hier waren die Dinger riesig. Die grobe Schrubbfeile, die schmaleren Rundfeilen und die flachen Feilen zum Bearbeiten von Eisen.
Wozu braucht ein Tischler ne Eisenfeile? Werkzeug hat man nie genug, eher mal zu wenig, sagte der Großvater.
Ganz nebenbei erfuhr er, dass Fabiola all diese Fragen nicht stellte, weil sie mal Tischler oder Drechsler werden wollte, sondern weil sie sich ein Gespensterhaus wünschte. Bloß nicht so ähnlich wie ihre Puppenstube, sondern so wie die fantasievollen Häuserchen in Thailand.
Das bekam sie dann auch zu ihrem nächsten Geburtstag vom Opa geschenkt. Die Freude war groß. Noch größer war Ulrikes Freude.
Nur die Eltern wunderten sich, dass das Haus gleich auf den Dachboden zum alten Gerümpel gestellt werden sollte. Und warum verbrachte Fabiola von nun an so viel Zeit da oben? Das wissen nur du und ich.
Fabiola langweilte sich. Es war Sonntag, aber es regnete. „Wie kann es nur am Sonntag regnen?“, empörte sich die Kleine. Niemand antwortete, weder die Puppen, noch irgendein Kuscheltier. Die drei Bären, der kleine Löwe, der Pinguin und der Papagei – alle blieben stumm. Wie immer. Wie langweilig!
Fabiola nahm eines ihrer Bilderbücher zur Hand und blätterte darin. Aber sie konnte nichts Neues mehr entdecken, zu oft hatte sie es schon ausgelesen. Und die anderen Bücher? Ach, die waren ja noch älter!
Ja, wenn sie schon zur Schule gehen würde und richtig lesen könnte, ja, dann . . . Aber bis zur Einschulung musste sie noch ein Jahr warten.
Womit vertreibt sich ein fünfjähriges Mädchen die Zeit, wenn es regnet und die Mutti endlose Telefongespräche führt? Sie stellt sich vor, eine Ballerina zu sein. Das ist einfach. Man braucht nur daran zu denken, dass man das schönste Kleid von der ganzen Welt an hat, eine ganz tolle Frisur mit Glitzerglanz – das Kleid glitzert natürlich auch – und dann dreht man sich, dreht sich und dreht sich und stößt an den Schrank. Aua.
Genug getanzt. Jetzt muss Fabiola abwarten, bis das Zimmer still steht. Dann könnte sie sich noch einmal drehen, bis sie an irgend ein Möbel stößt.
Sie könnte aber auch auf Schatzsuche gehen. Das ist ebenfalls ganz einfach. Man kann tief in einem alten Schrank eine alte Schatulle finden. Hm. In Fabiolas Zimmer steht kein alter Schrank, kein dunkles Ungetüm mit hölzernen Schnörkeln. Und in Muttis Zimmern steht auch keiner. Nicht einmal im Keller wurde so ein Möbel aufbewahrt. Vielleicht auf dem Dachboden? Vor einiger Zeit war sie mal dort oben, aber es war finster und ungemütlich, da ist sie schnell wieder in ihr Zimmer zurück gegangen.
Sie blickte aus dem Fenster. Wenn die Wolken ganz dicht beieinander stehen und gar nichts Blaues zu sehen ist, dann regnet es noch ne Weile. Das hatte ihre Oma erklärt beim letzten dummen Regenwetter. Und dann hatte sie mit ihr Karten gespielt und Mensch ärgere dich nicht. Ach ja, die Oma. Warum musste die nur so weit weg wohnen?
Fabiola schlich an die Wohnzimmertür und riskierte einen kurzen Blick. Mutti hatte es sich auf dem Sofa sehr gemütlich gemacht. Sie unterhielt sich angeregt mit . . . mit Oma! Das dauerte womöglich genau so lange wie der Regen. Also konnte sie jetzt ganz in Ruhe auf den Dachboden gehen.
Beinahe hätte sie ein Liedchen geträllert, aber das hätte Mutti gehört und aus wärs mit dem Stöbern nach dem Schatz!
Der Dachboden war von einer großen Eisentür versperrt. Sie quietschte leise beim Öffnen. Fabiola lauschte die Treppe hinunter. Nein, die Mutti hatte nichts gehört! Also hinein in das flache Dachstübchen.
Hier konnte kein alter, verschnörkelter Schrank stehen, dazu war der Dachboden nicht hoch genug. Aber was steht da herum? Ihr Babykörbchen. Darin hatte sie gelegen, als sie noch ganz klein war. Mama hatte ihr Fotos davon gezeigt. Damals glänzte die breite rosa Schleife, jetzt hing sie trübe herab.
Da war noch etwas aus Rohr Geflochtenes – eine Truhe! Eine Schatztruhe! Und schon war Fabiola dabei, die Truhe auszuwühlen. Jede Menge alte Kleidungsstücke kamen zum Vorschein. Aber von einem Schatz nicht die Spur. Nicht mal eine Schatzkarte ließ sich finden. Also den ganzen Kram wieder einpacken, Mutti sollte ja nichts merken.
So, Deckel drauf und alles sieht aus wie vorher. Fabiola ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Da stehen noch ein paar Stühle. Uninteressant. Auch die Gartenmöbel, die immer im Sommer auf der Terrasse stehen, sind uninteressant.
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und bemerkte gar nicht, dass sie das lange Wort ausgesprochen hatte. Da hörte sie ein Schniefen von den Gartenmöbeln her. Wer oder was sollte da schniefen? Und schon hörte sie eine leise, aber empörte Stimme: „Uninteressant? Das glaubst du doch wohl selber nicht!“
Was war das? Sprechende Gartenmöbel? Gibt es so was? Ja, im Fernsehen. Aber die waren gemalt. Oder besser gezeichnet. Vielleicht waren es ja tatsächlich genau ihre Gartenmöbel, die man dafür genommen hatte? Man denkt sich doch so was nicht einfach so aus. Das wär ja . . .das wär ja so gut wie gelogen.
Wenn man sich einfach nur so was ausdenkt, dann fängt man an, zu lügen, hatte Opa gesagt. Nein, spin – ti – sie- ren hatte er gesagt. Papa hatte dann erklärt, dass das so viel heißt wie spinnen, schwindeln. Und schwindeln ist so gut wie lügen!
Mutig trat sie ganz dicht an den Möbelstapel heran und zog das weiße Laken davon herunter. Papa hatte die Stühle abgedeckt, damit sie nicht einstauben. Aber warum war das Laken so dick? Fabiola wollte das Laken ordentlich zusammenlegen und versuchte, es auf dem Fußboden auszubreiten. Allerdings ließ es sich nicht ausbreiten, sondern kicherte: „Na, da staunst du, was?“
Erschrocken ließ sie das Leinen los. „Seit wann können Laken reden?“, fragte sie ganz streng, genau so, wie ihre Kindergärtnerin sprach, wenn die Kinder Unfug machten.
Das vermeintliche Wäschestück bewegte sich und maulte: „Ich bin doch kein Laken! Ich bin das Dachgespenst Ulrike!“
Vor Fabiolas staunenden Augen hob sich ein weißes Gebilde in die Höhe. Auf dem Boden lag das zerknitterte Laken. Deshalb war es so dick, weil ein Gespenst darunter gesessen hatte! Kürzlich hatte sie den Film "Das Gespenst von Canterville" gesehen und wusste, dass Gespenster sehr unglückliche Wesen sein können, vor denen man sich nicht fürchten muss. Und dieses hier sah mit seinen großen Kulleraugen ganz allerliebst aus.
„Oh, wie schön!“, jubelte Fabiola. „Wir haben ein Dachgespenst!“
„Ja, aber nicht mehr lange!“, rief Ulrike und warf sich in der Luft hin und her.
„Warum?“, fragte Fabiola sehr enttäuscht.
„Weil ich mein eigenes Haus haben will“, erklärte Ulrike.
„Na, du kannst doch einfach sagen, dass unser Haus dein Haus ist, weil du das einzige Gespenst hier bist, oder?“ Fabiola wollte die neue Spielgefährtin nicht verlieren.
„Ja, so habe ich es bisher auch gehalten, aber jetzt möchte ich mein eigenes Haus haben“.
Ulrike flatterte immer wilder in der Luft hin und her.
Mit der stimmt doch was nicht!, dachte Fabiola. Die will doch in Wahrheit gar nicht weg von hier! Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe und suchte nach Worten.
“Ich will mein eigenes Haus haben“, piepste Ulrike mit sehr hoher Stimme. „Es muss ja nicht so prächtig sein wie die Häuser der thailändischen Hausgeister . . .“
„Du warst mit uns in Thailand?“, fiel Fabiola ihr ins Wort.
„Nee, aber deine Eltern haben doch allen Leuten erzählt, wie es da war und was für Häuser da den Geistern gebaut werden! Ich will auch ein Haus haben!“, jammerte sie elendiglich.
Eine Weile war es still. Ulrike flatterte in der Luft hin und her und Fabiola kaute an der Unterlippe. Dann hatte sie eine Idee: „Wie wäre es, wenn ich dir ein kleines Haus baue?“
„Jaaaahhhh!“, kreischte Ulrike begeistert. „Aber kannst du das denn?“, setzte sie zweifelnd hinzu.
„Ich kann es jedenfalls versuchen. Und ich habe viele Freunde, die mir bestimmt helfen werden“.
„Freunde? Denen darfst du aber nichts von mir erzählen! Wir Gespenster dürfen uns nämlich eigentlich gar niemandem zeigen, weißt du, dass du mich hier siehst, das ist eine ganz, ganz große Ausnahme!“
„Geht klar“, nickte Fabiola. „Ich sage nur, dass ich so was ähnliches bauen möchte wie ich in Thailand gesehen habe“.
„Prima. Du bist ne echte Freundin“, säuselte Ulrike.
Gemeinsam deckten sie das Laken über die Gartenmöbel und verabschiedeten sich von einander. Auf der Treppe hörte Fabiola, wie Ulrike in den höchsten Tönen sang: „Wir bauen uns ein neues Haus, neues Haus!“
Von nun an fragte Fabiola überall herum, was man alles benötigt, um ein Haus zu bauen. Sie erfuhr etwas über Steine und Zement, dass man die Steine nicht genau aufeinander legt, dann hält die Mauer nicht. Man muss sie versetzt aufeinander legen, aber genau senkrecht. Senkrecht ist von oben nach unten. Das kann man mit einem Lot oder einer Wasserwaage ausmessen. Die Wasserwaage ist auch gut für waagerecht, also ganz gerade von rechts nach links. Geht auch umgekehrt. Also mit ihr wird kein Wasser abgewogen, sondern eine Blase im Wasser zeigt an, ob alles richtig gerade ist.
Der Zement wird mit der Maurerkelle aufgetragen und verteilt. Da muss darauf geachtet werden, dass nicht so viel verkleckert wird. Zement ist teuer. Außerdem sieht es nicht gut aus, wenn überall Kleckerhäufchen sind.
Man braucht auch Holz zum Bauen. Für die Fenster, die Dielen, die Türen und das Dach. Der das alles macht, heißt Zimmermann. Nein, er ist ein Zimmermann. Heißen kann ja jeder so, aber die Arbeit, die muss man gelernt haben. Ein guter Zimmermann verdient auch gutes Geld. Genau wie ein guter Maurer.
Aber Fabiola und Ulrike wollten ja gar kein Haus aus Stein und Zement und Holz. Ein Haus aus Holz und Pappe sollte genügen. Da waren ganz andere Werkzeuge nötig: anstelle der Wasserwaage kam der Winkel, anstelle der Maurerkelle Hammer, Nägel und Leim.
Die meisten Auskünfte bekam sie von ihrem Opa. Der hatte – wer hätte das gedacht? – eine richtige kleine Werkstatt im Keller. Hobbyraum, sagte die Oma. Da gab es sogar eine Hobelbank. Fabiola durfte auch mal mit dem Hobel über ein Stück Holz fahren, aber zisch – zisch- zisch, so wie im Lied von den fleißigen Handwerkern, ging es nicht einmal bei Opa.
Noch viel mehr Handwerkszeug lernte Fabiola kennen, die bissige Kneifzange, den scharfen Stechbeitel und den biegsamen Spachtel zum Verteilen von Fensterkitt oder Dichtungsmasse.
Und nicht zu vergessen vielen unterschiedlich langen Schrauben und die ebenfalls unterschiedlichen Schraubendreher. Dazu noch die Bügelsäge für Laubsägearbeiten und den Fuchsschwanz mit den großen Zähnen.
Am meisten staunte Fabiola über die Feilen. Bei Mama hatte sie schon oft die kleine Nagelfeile gesehen, aber hier waren die Dinger riesig. Die grobe Schrubbfeile, die schmaleren Rundfeilen und die flachen Feilen zum Bearbeiten von Eisen.
Wozu braucht ein Tischler ne Eisenfeile? Werkzeug hat man nie genug, eher mal zu wenig, sagte der Großvater.
Ganz nebenbei erfuhr er, dass Fabiola all diese Fragen nicht stellte, weil sie mal Tischler oder Drechsler werden wollte, sondern weil sie sich ein Gespensterhaus wünschte. Bloß nicht so ähnlich wie ihre Puppenstube, sondern so wie die fantasievollen Häuserchen in Thailand.
Das bekam sie dann auch zu ihrem nächsten Geburtstag vom Opa geschenkt. Die Freude war groß. Noch größer war Ulrikes Freude.
Nur die Eltern wunderten sich, dass das Haus gleich auf den Dachboden zum alten Gerümpel gestellt werden sollte. Und warum verbrachte Fabiola von nun an so viel Zeit da oben? Das wissen nur du und ich.