Um Pimmels Willen

4,20 Stern(e) 16 Bewertungen

Andrea

Mitglied
Um Pimmels Willen.


Das Datum war mit energischen Zügen ins Heft geschrieben worden, und auch die Überschrift des Aufsatzes war Jenny nicht schwer gefallen. Darunter prangten aber nur vier einsame Worte: [/i]Das männliche Genital ist[/i].

Mit jedem Buchstaben war Jennys Ratlosigkeit gewachsen, und nun hockte sie schon sicher zehn Minuten da, kaute abwechseln auf ihrem Füller und an ihren Fingernägeln und starrte aus dem Fenster.

Beschreibe das Genital des anderen Geschlechts. Sachlich, hatte Frau Sommer noch hinzugefügt. Keine Ferkeleien oder pubertierende Phantasien. Immer schön sachlich bleiben.

Jenny schnaubte verächtlich. Wie sollte man bei so einem Thema sachlich bleiben. Oliver und Alexander, die im Unterricht hinter ihr saßen, hatten sich gleich einen Wettstreit in Sauereien geliefert, und Cornelia hatte in der Pause gleich verbreitet, daß sie schon einmal „einen angefaßt“ hatte. Klar. Ihr jüngster Bruder war ja auch erst ein halbes Jahr, und sie durfte beim Wickeln helfen. Etwas anderes konnte sich Jenny kaum vorstellen.

Hilfesuchend glitt ihr Blick hinüber zum aufgeschlagenen Biologiebuch. Ein bindegewebiger Schwellkörper. Becken- und Begattungsorgan. Daneben eine reichlich häßliche Zeichnung. Blutorgane, Damm-Muskel, Harnröhre. Samenstränge! Über so etwas konnte man doch nicht schreiben! Nun gut, man konnte, aber eigentlich verspürte Jenny nicht die geringste Lust darauf. Immerhin stellte dieses männliche Genital mit Abstand den Körperteil, der in der männlichen Selbsteinschätzung den Löwenanteil trug. Das konnte doch kaum an Samensträngen liegen, die man nicht einmal sehen konnte.

Daß Jungs komisch waren, wußte Jenny spätestens seit ihrem zwölften Geburtstag, aber daß sie so ein unglaubliches Buhei um ein mehr oder weniger großes Stück Fleisch machten, das zwischen ihren Beinen baumelte, machte sie Jenny jetzt, wo sie darüber nachdachte, fast noch suspekter. Was konnte an dem Ding schon so besonders sein, abgesehen davon, daß es den Jungs die Demütigung ersparte, in einer langen Schlange vor der Damentoilette zu warten, wenn ein netter Baum so nah war.

Seltsam. Woher wußte der Penis eigentlich, wann er pinkeln und wann – wann es Zeit für das andere war? Konnte da nicht etwas schief gehen? Angeekelt hob Jenny die Oberlippe. Allein die Vorstellung, daß einer in ihr Bett pinkelte, während sie drin lag, und daß sie den dann auch noch anfassen sollte, reichte aus, um ihr die Lust am Älterwerden zu verderben.

Um sich abzulenken, sprang Jenny auf und lief durchs Zimmer. Rein theoretisch leuchtete ihr dieser ganzer Sexualkram ja ein, praktisch konnte er ruhig noch auf sich warten lassen. Vielleicht konnte man das Mysterium des Mannes zwischen seinen Beinen ja auch erst begreifen, wenn man uralt war, so mit zwanzig oder so.

Ob man ihn steuern konnte, überlegte Jenny und steuerte selbst wieder ihren Schreibtisch an. Ihre Füße reagierten ganz selbstverständlich auf ihren Wunsch, aber sie wußte, daß Jungs ihren Pimmel beim Pinkeln festhielten, damit nicht alles im wahrsten Sinn des Wortes in die Hose ging. Wenn das beim Sex genauso war, wie sollte das dann jemals funktionieren? Oder quetschten die Männer ihr so heiß geliebtes bestes Stück einfach so lange vorwärts, bis sie irgendwo anstießen?

Als der Fußball vorgestern Alexander recht hart im Unterleib getroffen hatte, hatte er sich mit Tränen in den Augen auf dem Schulhof gewunden. Auch wenn Jenny den Verdacht nicht verleugnen konnte, daß Alexander dabei übertrieben hatte, so mußte es ihm doch weh getan haben. Jungs weinten nicht, wenn es nicht wirklich weh tat. Also mußte sie die Theorie mit dem Quetschen wohl über den Haufen werfen.

Überhaupt, was fühlte man damit? War der Pimmel so wie eine Hand? Oder wie die Nase, oder wie ein Bein? Manchmal sprachen sie im Fernsehen von einem elften Finger oder einem dritten Arm, aber soweit Jenny wußte, konnte man damit nichts tragen. Gut, der Pimmel hatte ja auch schon zwei Aufgaben, eine dritte wäre wohl zuviel. Aber spürte man damit zum Beispiel die Naht in der Unterhose? Konnte ein Junge da frieren? Oder schwitzen?

Jenny starrte frustriert auf den Anfang ihres Aufsatzes. Das männliche Genital ist. Ziemlich fragwürdig, hätte sie gern dahintergeschrieben. Wieso mußte sie überhaupt über etwas schreiben, daß sie nie besitzen würde? Auch nicht besitzen wollte, denn dann dürfte es mit dem Spagat in den Ballettstunden wohl Essig sein. Oliver hatte mal behauptet, schon bei dem Gedanken an so etwas würde ihm schwindelig vor Schmerzen. Ob ein Schlag zwischen die Beine den Jungs wirklich so weh tat? Oder suchten sie nur nach einer Ausrede, um endlich auch mal heulen zu dürfen?

Jenny griff entschlossen nach dem Füller. Es wurde Zeit, daß sie irgend etwas Konstruktives zustande brachte. Vielleicht konnte ihr Vater ihr ein paar Antworten.. nein. Ganz entschieden nein. Mit ihrem Vater würde sie nicht darüber reden, und auch nicht mit Gregor, dem Sohn der Nachbarn. Der war zwar schon vierzehn und ließ sich gönnerhaft dazu herab, ab und an mit ihr zu sprechen, wenn niemand zusah, aber ehe sie Gregor danach fragte, ob er seinen Pimmel mit etwas Mühe nicht beim Pinkeln auch ohne Hand steuern konnte oder wie genau es sich anfühlte, wenn man vom Fahrradsattel rutschte und auf die Stange knallte, würde Jenny eher vor versammelter Klasse ihre Hosen runterlassen. Sie wäre ja vor Scham im Erdboden versunken, bevor sie die Frage beendet hätte!

Für einen Moment fragte sich Jenny, ob sie Großvater in dieser Sache um Rat fragen sollte, verwarf aber auch diesen Gedanken. Ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als allein damit fertig zu werden. Und wenn die einzige Hilfe, die ihr die Welt zu geben bereit war, ihr Biobuch war, dann würde es eben ein Aufsatz über Schwellkörper und Harnröhren und Samenstränge werden. Schließlich war es nicht ihre Schuld, daß die wichtigen Dinge niemals in Schulbüchern standen.
 
K

kuschelmuschel

Gast
Hallo Andrea,

eine wirklich schöne Geschichte. Und prima geschrieben. Genau das richtige für so einen sonnigen Morgen.

Immerhin stellte dieses männliche Genital mit Abstand den Körperteil, der in der männlichen Selbsteinschätzung den Löwenanteil trug.
Hast Du in diesem Satz eventuell ein "dar" vergessen?

wie gesagt klasse geschrieben, nur den einen Absatz: "Das Jungs komisch...", würde ich weglassen oder umändern. Na ja, ich geb es zu, mir gefällt das mit dem Stück Fleisch nicht so recht, mag daran liegen, dass ich ein Mann bin "gg".

Viele Grüße

Michael
 
L

Leowee

Gast
Gnnnnhihihihieeeeee!

Liebe Andrea,

auf die Gefahr hin, falschen Verdächtigungen (Stichwort Männerhass oder sowas) anheim zu fallen, möchte ich Dir meinen schallenden Applaus bekunden. Beim Lesen Deiner Story hab ich das Grinsen jedenfalls nicht mehr aus dem Gesicht gekriegt!

Witziges Thema (allerdings erscheint mir die Schulaufgabe ein wenig unglaubwürdig, gibt es sowas, und dann so einseitig?), flüssig und souverän erzählt, ein quasi politisches Statement obendrein...

Schulterklopfend : Leowee ;)
 

Evchen13

Mitglied
Hallo Andrea,

und deine Geschichte einfach köstlich. Ich schließe mich meiner Vorgängerin an, ich habe ebenso von A bis Z das Lächeln aus meinen Gesicht nicht verbannen können. Super, super.

Eine sehr gelungene Geschichte und herrliche geschrieben.

Liebe Grüße


Ev
 

Andrea

Mitglied
Hallo ihr drei!

Vielen Dank für das Lob. Mir blieben solche Aufsätze in der Schule erspart, aber Didakten traue ich mittlerweile alles zu.. ;)

Bei "Immerhin stellte dieses männliche Genital mit Abstand den Körperteil, der in der männlichen Selbsteinschätzung den Löwenanteil trug." meinte ich stellen im Sinn von etwas wird gestellt oder der Verein XYZ stellt dieses Jahr den Pokalsieger o.ä.

Viele liebe Grüße
 
Q

Quidam

Gast
Hallo Andrea,

eine überaus amüsante Geschichte.. da könnte man(n) sich doch glatt überlegen, das Gegenstück dazu zu schreiben...

Klasse!
*winke*
quid
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Abgesehen vom heiteren Aspekt und dem vortrefflich beherrschten Handwerk hat mir am besten gefallen, dass es absolut glaubwürdig die Überlegungen eines Mädchen diesen Alters wiedergibt – ohne kitschig zu werden oder sich lustig zu machen.
 

Inu

Mitglied
Hallo Andrea

Beschreibe das Genital des anderen Geschlechts. Sachlich, hatte Frau Sommer noch hinzugefügt. Keine Ferkeleien oder pubertierende Phantasien. Immer schön sachlich bleiben.
Das, was ich an dieser Geschichte gut finde, ist die routinierte und sichere Art, wie Du erzählst. Da gibts nichts zu meckern.

Aber ansonsten hat mir Deine Geschichte, entgegen dem allgemeinen Trend k e i n Lächeln hervorgelockt. Ich finde sie ziemlich peinlich und auch ein wenig an den Haaren herbeigezogen. Was kann auch schon dabei herauskommen, wenn man Zwölfjährigen ein solch hahnebüchenes Aufsatzthema stellt. Meine Schulzeit liegt auch eine Weile zurück, aber wenn das die Themen sind, über die kleine Mädchen sich heute in Hausaufgaben den Kopf zerbrechen müssen, dann kann ich nur sagen, deine (erfundene) Lehrerin hat einen Sprung in der Schüssel.

Gut geschrieben, aber eines dieser glatten, gewollt naiv klingenden Textchen, ein bisschen frivol, aber nicht zu sehr..., nur ja nicht anecken, so auf Zeitschrift-Brigitte-Niveau. Sowas ist bestimmt bei den meisten Lesern ein sicherer Knüller. :):)

Ich grüß Dich
Inu
 

Andrea

Mitglied
Hallo quidam!

Nur zu! Ich würde gern erfahren, ob sich die Wahl, die man(n) für das betreffende weibliche Körperteil trifft, mit meiner persönlichen Wahl decken würde. ;)

Hallo jon!

Vielen Dank für das Lob! Besonders das sprachliche Lob bedeutet mir eine ganze Menge.

Hallo Inu!

Deine Kritik hat mich, ehrlich gesagt, am meisten gefreut, und zwar wegen des sprachlichen Lobs. Inhaltlich ist es vermutlich am schwersten, es allen recht zu macht (ob mir der Vergleich mit einer Frauenzeitschrift gefällt, weiß ich noch nicht so recht, aber ich denke, ich weiß, was du in etwa meinst..), um so schöner ist es doch, wenn wenigstens der Stil keinen Grund zur Beschwerde hinterläßt. :)

Liebe Grüße an euch drei
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Ob 12-Jährigen so eine Aufgabe bekämen, sei mal dahingestellt (ich kenne den heutigen Unterricht nicht), aber soweit ich weiß, sind Mädchen in diesem Alter (im Sinne von kalendarischem Alter) heute durchaus nicht mehr so "klein" wie es zum Beispiel meine Generation noch war (oh mann, klingt das alt).
Aber davon abgesehen: Nimm das Aufsatzthema doch einfach als das, was es ist, Inu: Der Aufhänger für den Text – wie sollte man sonst glaubwürdig und ohne großes Brimborium eine Zwölfjährige dazu kriegen, sich so ausführlich über etwas Gedanken zu machen, was sie offenbar gerade erst zu interessieren beginnt.

Also peinlich ist an dieser Geschichte gar nichts (und auch nichts frivol). Kann ja sein, dass es jemandem generell peinlich ist, über Sexualität & Co. zu reden und zu lesen – aber was an diesem Text ist peinlich? Die Unbedarftheit des Mädchens? Herrje! Wer hat nicht solches oder ähnlich krudes Zeug vermutet in diesem Alter (im Sinne von Entwicklungs- und Wissenszustand)?! Vor einiger Zeit hab ich mal einen Bericht gesehen, in dem Männer und Frauen über diverse "Fachfragen" zum jeweils anderen Geschlecht befragt wurden – da kamen zum Teil nicht weniger kuriose Antworten zustande. Von verheirateten oder liierten Erwachsenen!
Das Schmunzeln kommt – beim mir jedenfalls – NICHT vom Gegenstand des Aufsatzes, sondern eher von einer Art Kindermund-Effekt plus der Erinnerung daran, was man sich selbst für krause Gedanken gemacht hat…

Der Text ist m.E. eine wunderbare Studie über diesen Zustand zwischen Desinteresse am anderen Geschlecht und den ersten mehr oder weniger bewusst gemachten Beobachtungen über die Besonderheiten des anderen Geschlechtes. Nicht mehr. Und nicht einen Deut weniger.
 

Efiriel

Mitglied
Zum Werk

Hallo

Ich finde deinen Stil recht solide. Deine Erzählart ist verständlich und die Lust zu lesen bleibt bewahrt. Zum Thema Naivität oder auch dem Vorwurf der Peinlichkeit kann ich nur sagen, das dies wohl Geschmacksache ist. Durchaus plausibel so gesehen werden kann oder eben auch nicht. Im Grunde macht jeder unterschiedliche Erfahrungen. Sogar ein und die selbe erlebte Sache kann von zwei Menschen vollkommen unterschiedlich aufgefasst werden. Was also sein kann und was nicht sollte kein Thema sein, denn alles kann geschehen, solange der Autor oder die Autorin, dies glaubhaft erklärt, und daran mangelt es meiner Meinung nicht. Ich für meinen Teil habe in meiner Schulzeit Tatsächlich, im Rahmen des Aufklärungsunterrichtes einen Zehnzeiler über das weibliche Genital verfassen müssen. Und ehrlich gesagt bin ich heute, obwohl es für mich bei weitem, nicht nur mehr Lernstoff ist, dennoch nicht viel klüger.
Deine Geschichte bringt allerdings auch nicht wirklich Licht in das Dunkel zwischen den Geschlechtern, aber so soll das wohl auch sein.
Der Vater des Mädchens kann glücklich sein, dass er nicht gefragt wurde, denn so leicht wäre das meiste davon auch nicht zu beantworten gewesen.
Das ist so eine Sache mit den Genitalien anderer Leute, und vor allem jener des anderen Geschlechts, aber das hat damit ja wohl nichts mehr zu tun.
Jedenfalls war deine Geschichte gut zu lesen. Sicherlich ist es ein oft angedachtes Thema, und sicherlich wurde schon vielfach der Versuch gemacht damit abzurechnen, dennoch hat mich dein Werk gut unterhalten. Sollte das dein Ziel gewesen sein, hast du es, so weit es mich betrifft erreicht.
 



 
Oben Unten