Unbemerkt

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Marc Freund

Mitglied
Unbemerkt

Er sitzt auf einer Bank am Flussufer. Das Wasser ist ruhig. Genau wie er selbst.
Auf seinem linken Knie liegt eine selbstgedrehte Zigarette. Aufgespart.
Seit einer Stunde sitzt er so. Nichts zu tun als auf den Fluss zu sehen.
Neben ihm: Laura. Trost so vieler schlafloser Nächte.
Und nun?
Sie hat sich eingereiht in die Zahl der Arbeitslosen dieser Stadt. Ein Schicksal von vielen.
Behutsam legt er eine Hand auf ihren Kopf. Sie lässt ihn gewähren.
Zeit vergeht. Zeit, die bedeutungslos geworden ist.
Er streckt die Hand nach der Zigarette aus.
Nein, denkt er. Noch nicht. Eine kleine Weile noch.
Auf dem Fluss zieht ein Schiff vorbei. Die Segel sind straff gespannt. Dort draußen hat man Ziele, denkt er. Dort ist Leben; Hoffnung.
Er spürt nicht, das ihm kalt ist. Seine Hand streift Laura über den Rücken. Sie ist still.
Nach einer Weile greift er zur Zigarette und zündet sie an. Er hört das dünne Papier knistern, als die Flamme Nahrung findet.
Der Mann sieht dem Rauch nach, wie er vom Wind erfasst und davongetragen wird. Schon ist nichts mehr von ihm übrig.
Vom gegenüberliegenden Ufer ertönt eine Werkssirene. Feierabend.
Kalte Asche rieselt ihm durch die Finger. Er merkt es nicht.
Die Zigarette verglüht, ohne dass er noch einmal an ihr zieht. Seine Gedanken sind woanders.
Zeit zu gehen, denkt er.
Er lässt Laura los und steht auf; dreht sich noch einmal zu ihr um. Blicke treffen sich. Ihre braunen Augen lächeln. Sie haben immer gelächelt. Der Mann blinzelt ihr zu. Sie waren zwei Jahre lang ein Team gewesen, sie und er. Mehr Zeit hatte man ihnen nicht gewährt. Während er das denkt, macht sich eine Träne frei. Ohne dass er sie spürt, rinnt sie an seiner Wange herab.
Laura war dabei gewesen, als das Unaussprechliche passierte. Er nicht.
Mit kleinen Schritten entfernt er sich; in Richtung des Ufers. Ein letzter Gedanke an Laura, während das kalte Wasser seine Knie umspült. Sie sitzt noch immer da, wie er sie verlassen hat. Und sie wird so sitzen, bis man sie findet. Bis sie einem anderen Kind Trost spenden kann. Vielleicht wird es wieder ein kleiner Junge sein. Und vielleicht währt es dieses Mal länger. Er weiß, dass sie ihre Sache gut machen wird.
Für ihn ist alles getan. Er geht dahin.
Unbemerkt.
 
D

DerKleinePrinz

Gast
Guten Abend Marc Freund,

deine Geschichte scheint ja bisher tatsächlich unbemerkt gewesen zu sein.
Das ist insofern verwunderlich, weil sie in meinen Augen eine hohe wenn nicht sogar sehr hohe Qualität besitzt. Nach den ersten Sätzen wusste ich schon, was ich zu kritisieren habe, nämlich den Staccatostil - dachte ich. Aber je weiter ich las, desto gespannter verfolgte ich deine Geschichte und meine Kritik verflog, da der Stil mir am Ende jeden Satz ins Hirn hämmern wollte - klasse!

Das Ende kommt einer Pointe gleich, wunderbar in Szene gesetzt und höchst tragisch.

Eine Kleinigkeit würde ich vielleicht hinzufügen:

Die Zigarette verglüht, ohne dass er noch einmal an ihr zieht. [blue]Seine Gedanken sind woanders.
Zeit zu gehen, denkt er[/blue].
Hier wird dir dein Stil doch kurz zum Verhängnis wie ich finde, der Wechsel der Gedanken geschieht zu schnell. Deshalb würde ich noch einen überleitenden Satz einfügen.

Dir ist hier nach meinem Dafürhalten ein wunderbarer Text gelungen, Glückwunsch!

Liebe Grüße
Der Kleine Prinz*
 
K

KaGeb

Gast
Hallo Marc,

tatsächlich "unbemerkt" - ein Frevel. Zum Glück hat´s DerKleinePrinz gefunden.
Habs sehr gern gelesen. Kleinere Vorschläge, die aber IMHO Geschmackssache sind und kein Dogma ;)


Er sitzt auf einer Bank am Flussufer. Das Wasser ist ruhig. Genau[blue]so[/blue] wie er selbst.
Auf seinem linken Knie liegt eine selbstgedrehte Zigarette. Aufgespart.
Seit einer Stunde sitzt er so. Nichts zu tun als auf den Fluss zu sehen.
Neben ihm: Laura. Trost so vieler schlafloser Nächte.
Und nun?
Sie hat sich eingereiht in die Zahl der Arbeits[blue]Obdach[/blue]losen dieser Stadt. Ein Schicksal von vielen.
Behutsam legt er eine Hand auf ihren Kopf. Sie lässt ihn gewähren.
Zeit vergeht. Zeit, die bedeutungslos geworden ist.
Er streckt die Hand nach der Zigarette aus.
Nein, denkt er. Noch nicht. Eine kleine Weile noch.
Auf dem Fluss zieht ein Schiff vorbei. Die Segel sind straff gespannt. Dort draußen hat man Ziele, denkt er. Dort ist Leben[strike][red];[/red][/strike][blue],[/blue] Hoffnung.
Er spürt nicht, das ihm kalt ist. Seine Hand streift Laura über den Rücken [blue]Lauras Rücken[/blue]. Sie ist still.
Nach einer Weile greift er zur Zigarette und zündet sie an. Er hört das dünne Papier knistern, als die Flamme Nahrung findet.
Der Mann sieht dem Rauch nach, wie er vom Wind erfasst und davongetragen wird. Schon ist nichts mehr von ihm übrig.
Vom gegenüberliegenden Ufer [strike]er[/strike]tönt eine Werkssirene. Feierabend.
Kalte Asche rieselt ihm durch die Finger. Er merkt es nicht.
Die Zigarette verglüht, ohne dass er noch einmal an ihr zieht. Seine Gedanken sind woanders.
Zeit zu gehen, denkt er.
Er lässt Laura los und steht auf[blue],[/blue][strike][red];[/red][/strike] dreht sich noch einmal zu ihr um. Blicke treffen sich. Ihre braunen Augen lächeln. Sie haben immer gelächelt. Der Mann blinzelt ihr zu. Sie waren zwei Jahre lang ein Team gewesen, sie und er. Mehr Zeit hatte man ihnen nicht gewährt. Während er das denkt, macht sich eine Träne frei. Ohne dass er sie spürt, rinnt sie an seiner Wange herab.
Laura war dabei gewesen, als das Unaussprechliche passierte. Er nicht.
Mit kleinen Schritten entfernt er sich; in Richtung des Ufers. Ein letzter Gedanke an Laura, während das kalte Wasser seine Knie umspült. Sie sitzt noch immer da, wie er sie verlassen hat. Und sie wird so sitzen, bis man sie findet. Bis sie einem anderen Kind Trost spenden kann. Vielleicht wird es wieder ein kleiner Junge sein. Und vielleicht währt es dieses Mal länger. Er weiß, dass sie ihre Sache gut machen wird.
Für ihn ist alles getan. Er geht dahin.
Unbemerkt.

Eins noch, wo ich mir nicht ganz sicher bin: Ist Laura Fantasie?
 

Marc Freund

Mitglied
Hallo an KleinerPrinz und KaGeb,

zunächst einmal vielen Dank für eure Kritik, bzw. Kommentare zu meiner Geschichte. Ich hatte tatsächlich fast schon angenommen, dass sie "unbemerkt" im großen Meer der Geschichten davontreibt. Das habt ihr zu verhindern gewusst.

Eigentlich sind Texte dieser Art gar nicht meine "Baustelle", da ich ansonsten eher Krimis schreibe. Eine Bekannte erklärte mir neulich einmal, was eine klassische Kurzgeschichte ist und nannte mir im Zuge dessen den Namen Wolfgang Borchert, den ich zuvor noch nie gehört hatte. Als ich zwei Geschichten von ihm gelesen hatte, überkam mich der Eifer, mich auch einmal an einem Text dieser Gattung zu versuchen. Umso mehr freut es mich, dass euch dieser "Erstversuch" gefallen hat. Soviel zur Entstehungsgeschichte.

Eure Anregungen lasse ich mir gerne durch den Kopf gehen und nehme mir die Geschichte daraufhin nochmal vor.

Zu deiner Frage, KaGeb:
Laura ist real. Ich habe mir beim Schreiben ein Kinderspielzeug vorgestellt, einen Plüschhund vielleicht. Letztlich ist es aber beinahe egal, was Laura genau ist. Das kann sich der Leser quasi aussuchen. Wichtig für die Story ist, dass der Protagonist nun auch Abschied von ihr nimmt, nachdem er vor Kurzem den größten Verlust seines Lebens hinnehmen musste.

Danke euch nochmals + viele Grüße,

Marc Freund
 

Retep

Mitglied
Morgen Marc,

deine Kurzgeschichte hat mir gefallen:
geringer Umfang, keine Einleitung, sofortiger Einstieg, eine Pointe am Schluss.
Im Mittelpunkt stehen die Gedanken des Obdachlosen und seine Emotionen.
Die Sprache ist einfach, der Stil passt.

Du schreibst bei "Laura" handelt es sich um ein Spielzeug, das wird dem Leser erst gegen Ende des Textes klar. Ich nehme an, dass du das beabsichtigt hast.
Ich verstehe nicht, dass du von [blue]anderen Kindern -wieder ein kleiner Junge[/blue]sprichst, dein Protagonist ist doch wohl kein Kind.

Sie hat sich eingereiht in die Zahl der Arbeitslosen dieser Stadt
Sie waren zwei Jahre lang ein Team gewesen, sie und er. Mehr Zeit hatte man ihnen nicht gewährt
- Ich finde, irgendwie passt das nicht.

Während er das denkt, macht sich eine Träne frei
- macht sich eine Träne frei ?

- "dahin" streichen?

Den Titel und den Schluss "unbemerkt" finde ich gelungen.
Ich konnte mich einfühlen.

Gruß

Retep
 

Marc Freund

Mitglied
Hallo Retep,

auch dir vielen Dank für dein Lob und deine Meinung zu meiner Geschichte.
Ich habe mich darin absichtlich mit allzu vielen Informationen zurückgehalten, auch wenn dies vielleicht die Gefahr birgt, dass zu viele Interpretationsmöglichkeiten übrig bleiben.
Bei meinem Protagonisten hatte ich eigentlich keinen Obdachlosen im Sinn, sondern einen Vater, der vor kurzem seinen zweijährigen Sohn verloren hat und über diesen Verlust nicht hinwegkommt. Laura ist das Lieblingsspielzeug seines Sohnes, quasi das Einzige, was dem Vater noch geblieben ist. Er nimmt sie auf seinen letzten Gang mit, lässt sie aber auf der Bank am Flussufer zurück, weil er möchte, dass Laura ein neues Zuhause bekommt. Vielleicht wieder bei einem kleinen Jungen.
Vielleicht werden so einige Sätze etwas deutlicher, wobei ich mich aber gerade frage, ob ich dann auch in der Geschichte etwas deutlicher auf die Vater/Sohn-Beziehung eingehen sollte oder ob ich damit den Platz für eigene Interpretationen des Lesers nehme...

Darüber grüble ich noch nach :eek:)

Bis dahin, viele Grüße,

Marc
 
S

suzah

Gast
hallo marc,
dein geschichte ist gut geschrieben, nur bleibt (für mich) zu viel offen, ich dachte erst an eine frau wegen der nachstehenden zeilen:

"Neben ihm: Laura. Trost so vieler schlafloser Nächte.
Und nun?
Sie hat sich eingereiht in die Zahl der Arbeitslosen dieser Stadt. Ein Schicksal von vielen."

"Sie waren zwei Jahre lang ein Team gewesen, sie und er."

erst am schluß ahnt man etwas von einem spielzeug-teddy o.ä., das einem kind (seinem sohn) gehört hat.

"Und sie wird so sitzen, bis man sie findet. Bis sie einem anderen Kind Trost spenden kann. Vielleicht wird es wieder ein kleiner Junge sein."

vielleicht solltst du doch, wie schon retep sagte, eine vater-sohn-beziehung stärker andeuten bzw den satz mit dem "team" weglassen, der noch mehr als die "arbeitslosen" irritiert.

liebe grüße suzah
 

Marc Freund

Mitglied
Hallo suzah,

auch dir vielen Dank.
Anfangs ist es natürlich schon beabsichtigt, nicht zu erklären, wer Laura ist. Ihre Identität bzw. Bedeutung soll dem Leser erst zum Schluss klar werden.
Was die Vater-Sohn-Beziehung angeht, habt ihr Recht, denke ich. Vielleicht ist es ausreichend, die "kritischen" Sätze umzuformulieren, um den erlittenen Verlust besser herauszuarbeiten.
Ich will das mal übers Wochenende sacken lassen und dann nächste Woche die geänderte Fassung hier einstellen.

Danke nochmals + viele Grüße,

Marc
 



 
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