Unbenannte Feindschaft mit der Nähe (gelöscht)

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Tula

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Hallo Monochrom

ich trau' mich jetzt mal zu sagen, dass mir der Text nicht so gut gefällt. D.h. sicherlich ist er gut geschrieben. Dennoch habe ich mich in ihm irgendwie verloren, gestern dreimal und jetzt nach 24 Stunden noch einmal gelesen und der erste Eindruck hat sich erhalten: verwirrend, weil zu viele Bilder, einige sind ausgesprochen gut, andere wieder finde ich etwas bedenklich (z.B. 'Rascheln .... Beinbruch' in der ersten Strophe).

Somit entsteht meiner Ansicht nach kein mehr oder weniger einheitliches und auch vollständiges Stimmungsbild.
Ich frage mich daher, ob bei diesem weniger nicht mehr wäre. Vom genannten Beinbruch abgesehen, fände ich eigentlich die erste Strophe nur für sich ausreichend und gelungen.

LG
Tula
 

Monochrom

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Hi,

es würde mir helfen, wenn Du konkret sagen könntest, inwiefern da nicht stimmige Bilder sind.

Ciao,
Monochrom
 

Tula

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Hallo Monochrom

zuerst muss ich wohl erklären, was ich mir selbst aus dem Gedicht erlesen habe und dabei kann ich dann auf meine angedeuteten Zweifel eingehen.

In der ersten Strophe geht es vordergründing um ein Sportereignis, um den Besuch einer Arena des Lyrichs mit einem Kind. Weitergreifend hielt ich dieses Bild für eine Metapher des Lebens, unserer auf Perfektion (gestärkte Muskeln aus Porzellan – fand ich sehr gut!) und Erfolg getrimmten Gesellschaft, die uns mehr oder zwingt, am Rennen teilzunehmen, leider nur zu oft auf Kosten unserer zwischenmenschlichen Beziehungen, auch in der Familie.

Der Lyrich hat in der ersten Strophe die Rolle eines Zuschauers. Seine Betrachtung ist widersprüchlich; einerseits 'ergötzt' er sich am Schauspiel, andererseits distanziert er sich, er weiß um die Sinnlosigkeit des Rennens, auch um die Gefahr (der tödliche Regen) und seine Rolle als Beschützer des Kindes (die kleine Hand).

Soweit gefällt mir die erste Strophe. Sie stellt ein Thema in einigen Facetten dar, ist in sich geschlossen und bietet ausreichend Raum für eine weitere, freie Interpretation des Lesers. Sprachlich etwas merkwürdig fand ich allerdings, dass das Grinsen unsichtbar tödlich regnet, und wie bereits beschrieben, dass das Rascheln der Blätter Frohlocken wie einen Beinbruch (haucht).

Erste Probleme hatte ich in der zweiten Strophe. Hier wird der Schatten eingeführt, erst positiv (er versilbert Töne), dann zunehmend negativ. Ich las es so in etwa wie das Märchen-Erzählen zum Einschlafen (die hereinbrechende Nacht versilbert den Ton im Wort … Büchern – eine schöne lyrische Umschreibung eines sehr behaglichen Moments des Tages für beide - Vater und Kind). Doch warum die 'kleinen Tode' ? - Der 'kleine Tod' steht bei mir für Orgasmus!

Der schöne Moment wird fortgeführt:
Später, wenn auch die Sieger gestorben sind (in den Geschichten),
halte ich Deine Hand und Dein Lächeln
ist mein Lächeln


um dann zu brechen:

dass ich hasse. Es wirft mich
in die Weite und hierher zurück, lässt nicht los
und fängt mich jedes mal neu ein.
Vergessen zu lernen war der Anfang,
doch der Schatten lebt in meinem Auge,
während um mich der Sturm wütet,
mit allen Winden aus Menschenhand
laufen wir Runde um Runde unsere Bahnen
durch die Asche einer anderen Nähe zur Leere.

Hier sah ich die 'Schuld' des Lyrichs, seine schlechte Vergangenheit, Vergehen irgendwelcher Art, 'das Böse' im Innern, das der verklärten Sicht des Kindes (welches den Vater als den lieben Beschützer sieht) in Wahrheit nicht entspricht. Die Kehrseite des Schattens – die Nacht im eigentlichen und auch im figurativen Sinne – wird hier durchaus glaubhaft. Mr. Jekyll wird zum Mr. Hyde, zum menschlichen Wehrwolf usw.

Was die sinnbildliche Sprache angeht, denke ich, dass hier inhaltlich der Sturm IM Menschen wütet (der menschliche Abgrund) und nicht um ihn herum. Oder anders herum: wenn hier der Mensch als das ruhige Auge im Zentrum des Sturms (vielleicht als Anspielung auf die empfundenen Grausamkeiten des Lebens) steht, sollte er nicht dann in sich selbst Schutz suchen? Warum hasst er sich dann? - Oder er ist beides: das ruhige Auge UND der Sturm (also der Sturm selbst). Alles in allem wird die sinnbildlich komplementäre Bedeutung von 'Auge' vs. 'Sturm' nicht so richtig klar.

So fragte ich mich in der zweiten Strophe, worum es im Kern geht: um das Schlechte im Menschen (der Lyrich) oder eher um den 'Sturm des Lebens', der rücksichtslose Wettlauf usw., dem wir uns auf die eine oder andere Art stellen müssen (im Sinne der ersten Strophe). Vielleicht beides ?

Auch in der dritten Strophe geht es um die Schuld des Lyrichs, der sich zu seinen Missetaten zu bekennen scheint (Vergib mir die Toten, meine Narben …). Ich zweifelte aber, ob ich auch wirklich begriffen hatte, um welche Beziehung es hier wirklich geht. Während die ersten beiden Strophen ziemlich eindeutig auf ein Kind hinweisen, sind inhaltlich einige Passagen in der dritten meiner Ansicht nach nicht passend. Gut fand ich lächle mit den Menschen, sie sind alle schuldig – das käme als 'Ratschlag' der besagten Beschützer-Kind Rolle entgegen, und auch die letzten Zeilen, die den Bogen vor allem mit Hinsicht auf die erste Strophe überzeugend schließen.

Inhaltlich unverständlich finde ich aber den ersten Teil der Strophe:

iss mich mit Freude,
den Wein und das Brot als Blut
und Fleisch von alten Mündern
und zitternden Tuschefedern der Gier,
kam diese Last, die Lust und ich verharre
im Auge des Sturms mit dem alten Lied
Deines Lebens in meiner Hand …


Das klingt zwar alles 'irgendwie gut', aber ich kann es in seiner Bedeutung im Text schwer einordnen. Beim Kind-Bezug kam mir hier auch die Idee seines pädophilen Missbrauchs durch den angeblichen Beschützer (dessen Gier und Lust ist ja eindeutig!). Aber auch diesen Gedanken habe ich dann verworfen, weil hier eher das Kind zur Verwerflichkeit aufgefordert wird (iss mich mit Freude …); dass passt aber überhaupt nicht zum ersten Teil der zweiten Strophe.
Nicht so treffend fand ich auch den Styx; die Mythologie der Antike mag anderswo passen, aber hier erscheint sie mir eher als ein falsches Teil im Puzzle.

Soweit also meine Gedanken zum Werk; habe beim Schreiben nochmals über einige Stellen nachgedacht und hoffe, hier konstruktiv gewesen zu sein.
Ich korrigiere micht jetzt mal dahingehend, dass das Gedicht nicht unbedingt zu lang ist - solange der Inhalt die Länge rechtfertigt, ist das ok. Ich sehe aber weiterhin inhaltliche Widersprüche (ich lasse mich gern überzeugen, dass es keine sind) und wie gesagt auch einige Ausdrücke, die ich wahrscheinlich durch weniger gewagte ersetzt hätte.


LG
Tula
 

Monochrom

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Hi Tula,

ich finde Deine Interpretation in Teilen recht treffend.

An anderer Stelle wundere ich mich, schreibe dies aber der Freiheit zu, dass die Bildsprache eines Gedichts durchaus offen sein darf und der Leser sich seine eigene Reflektion sucht.

Das Grinsen ist für mich die Teilnahmslosigkeit eines „Dabeiseins“, des Zuschauers, der keinerlei Aktion findet, der dem konstanten Trott beiwohnt, und sich (meistens nicht) bewusst ist, dass dieses Drängen und Suchen, der Fortschritt und die Konkurrenz, nicht eben nur positiv sind. Er klatscht, er grinst, aber er ahnt, dass der Tod dieses Streben begleitet.
Genau das ist der Wesenszug des Textes, der sich als nächsten inneren Punkt die „kleinen Tode“ sucht, die in diesem Zusammenhang nicht unbedingt sexuell, sondern als Endpunkte des Wettkampfes und der Konkurrenz stehen. Wenn irgendwo jemand reich ist, „gewonnen“ hat, ist irgendwo jemand gestorben, oder „arm“.
Nebenbei wird dann auch angeführt, dass die Sieger ebenfalls sterben.
Das lyr. Ich erkennt, dass das Kind ebenfalls dieses Lächeln, dieses dem „Lauf der Dinge“ beiwohnen, inne hat. Er hasst dieses Lächeln, in sich selbst, in seinem Kind, in den anderen.
Es verlässt ihn nicht, ebenso wie der Schatten im Auge, der, egal wohin der Blick geht, eben immer Begleiter ist, ein Schatten wird auf die Dinge geworfen, die für das lyr.Ich nicht schön sind, denn es wütet draußen der Sturm.
Deshalb auch das Bild der ersten Strophe: Das Rascheln der Blätter wird nicht als schön, sondern als negativ empfunden. Der Lauf wird als Stillstand empfunden, als Tätigkeit im „Auge des Sturms“, wo anscheinend alles in Ordnung ist.

Die letzte Strophe gibt wieder, dass das lyr.Ich alles gibt, um dem Kind eine gute Existenz, eine christlich Existenz zu bieten, doch es fürchtet um die unguten Anlagen des Menschen, die Gier, die Last, die Lust, die in jedem Menschen vorkommen, deshalb verharrt er im Auge des Sturms, wo anscheinend alles in Ordnung ist, er hört die alten Lieder, schwört auf den Fortschritt, und hofft auf Vergebung der Opfer, die er reißen musste, um seinen Platz zu erkämpfen.

Styx finde ich in diesem Zusammenhang ganz gut. Es ist der Ort, der zu diesem Text gut passt, und spiegelt wieder, dass im Jenseitigen etwas ähnliches droht, was bereits im Irdischen gilt.
Einen Ausweg suchen, diesen Wettlauf hinter sich lassen.

Es ist die Welt der Gegensätze, in der sich das lyr.Ich befindet, doch er als Zuschauer sieht dann den Läufer, der ebenfalls diesen Schatten in sich trägt. Es ist die Erkenntnis, dass es jedem so geht, dass jeder eine nicht näher zu benennende Feindschaft mit der Nähe zur Welt empfindet.

Das bedeutet, dass der Mensch vielleicht Rettung erfährt, wenn er sich frei macht von der Nähe, sich entfernt, die Bedeutung der Dinge, des Seins, verlässt.

Ich erhoffe mir hierbei eigentlich, dass ein Leser das Unbill dieser Verkettungen versteht, und sich sagt, dass all diese Dinge des Seins im Umkehrschluss vom Auge des Betrachters abhängen, und auch als schön und wichtig empfunden werde können. Wir sind in der Lage, aus Beobachtern zu Tätigen zu werden, und auch die Läufer können umhin ihren Lauf beenden, niemand ist verpflichtet, als kleiner Tod in der Welt zu agieren.

Soweit mal. An sich erkläre ich ungern Texte, vor allem meine eigenen, aber bei diesem macht es mir viel Spaß, nachzuspüren.

Danke fürs Lesen,
Monochrom
 

Tula

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Hallo Monochrom

vielen Dank für deine ausführliche Antwort.

Ich finde es übrigens gut und richtig, wenn der Dichter seine inhaltlichen Absichten dem text-arbeitenden Publikum erklärt (natürlich im gedanklichen Austausch, d.h. ohne dem Leser die Textarbeit vorwegzunehmen).
So macht es ja auch mehr Spaß!

In diesem Sinne

LG
Tula
 
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