Unberechenbar

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Seit jenem unsäglichen Frühsommermorgen führte Gerhard Selbstgespräche, keine lauten, eher lautlose, und er vermied es, ihn zu duzen. Gut acht Wochen, nachdem er in Rente gegangen war, und vierzehn Tage, nachdem ihn Gerda an ihrem dreiundfünfzigsten Geburtstag verlassen hatte, war er aus einem wüsten Traum erwacht. An den Inhalt konnte er sich nicht recht erinnern. Gekämpft musste er haben. War schweißnass, als er die Augen öffnete. Und sein Herz klopfte, wie nach einem Langlauf.
Bereits am Frühstückstisch fuhr Gerhard ihn mit unerklärlicher Wut an: „Frag mich bloß nicht, was ich wert bin?“ Dabei hätte er ohnehin nie jemanden zu Beginn eines frühmorgendlichen Gesprächs nach dessen Wert gefragt. Nie. Wer kann denn schon in halbwachem Zustand derartige Fragen beantworten.
Außerdem brauchte er auf die Frage gar nicht eingehen, antwortete doch sein überaus abschätziger Blick. Und ohne dass er ihn darum bat, gingen sie gemeinsam aus dem Haus zur Parkbank oberhalb des Flusses, setzten sich aufseufzend und starrten auf seine im Schoß gefalteten altersfleckigen Hände.
Natürlich kannte er seine Fragen alle. Und obwohl er ihn nicht neben sich haben wollte, saß er da, weil er nur eines mehr hasste als ihn - allein auf der Bank am Fluss zu sitzen.
Ein Mann am Fluss brauche Gespräche, belehrte Gerhard ihn. Am besten natürlich mit einer Gesprächspartnerin. Mit ihr könne er über das Fließen des Flusses und die Morgensonne reden. Gesprächspartner hingegen interessiere, was vorbeifahrende Schiffe geladen haben, wo sie herkommen und was so ein neuer Frachtkahn wohl - und ein alter - wohl noch koste.
Anbiedernd legte er einen Arm um seine Schulter. Und als vom Spazierweg unten am Fluss eine junge Frau mit halblangem braunen Haar herauf kam, ließ er ihn sofort wieder los.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Da sie bereits siegesgewiss lächelte, rückte er von ihm ab, und immer noch lächelnd setzte sie sich, holte Strickzeug aus ihrer hellbraunen Basttasche und begann an einem großen braunen, mit gelben Würfeln gemusterten Teil weiter zu stricken.
Was das denn da werden solle, wollte er nach einiger Zeit von ihr wissen. „Ein Pullover. Für meinen Freund.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Hat sich von mir getrennt. Dabei brauchte der dringend was Warmes. Habe extra dicke Wolle gekauft.“
Einen Pullover, sagte er, den könne er auch gebrauchen.
Maß nehmend sah sie ihn an und lachte. „Ungefähr die gleiche Figur haben Sie ja.“
Wirklich. Gerd heiße er übrigens.
Sie lachte. „Oh! Wie mein Freund! Eigentlich Gerhard.“
Gerhard, genau wie er eigentlich auch.
Sie legte das Strickzeug beiseite und sah hinunter auf den Fluss.
„Der fließt einfach vor sich her. Beneidenswert!“
Er drehte sich zu ihr. Sie fing seinen Blick auf, sein Kopf spiegelte sich in ihren weit geöffneten dunkelblauen Augen und sie redete sehr langsam, als spreche sie vor sich hin. „Möchte mein Leben fließen lassen, von hier ins Meer. Und das Ende wäre wunderbar, wenn an der Mündung alles ineinander fließt.“
Er musste sich räuspern. Für sich habe er auch schon an ein Seebegräbnis gedacht, so mit Blumen, die auf dem Meer schwimmen.
Während sie ihn kopf schüttelnd ansah, antwortete sie sich leise. „Wie meine Hinterbliebenen mich beisetzen, sollen die entscheiden! Wer über den Tod hinaus über sich bestimmen will, vergisst zu leben.“
Und während sie wieder zum Strickzeug griff, rutsche er näher. Sie aber rückte von ihm ab und zeigte mit einer Nadel auf einen rot-weißen Rettungsring mit Rettungsleine, der unweit der Bank an einem weiß getünchten Holzgestell hing. „Wer sich retten lassen will, muss erkennen, dass er in Gefahr ist. Wer die Gefahr nicht erkennt, ist verloren. Und Retter, die das nicht bemerken, sind erst recht nicht zu retten.“
Eine Zeit lang schwiegen sie. Die mittelblonde Frau, die unter ihrer groben, hellbraunen Leinenbluse eine volle hoch geschnürte Brust trug, strickte hastiger, während er sich erneut räuspern musste.
Er versuchte unauffällig auf ihre mächtige Brust zu schielen. Ob sie ihm denn damit sagen wolle, er sei nicht zu retten. Und obwohl sie nicht von ihrem Strickzeug aufsah, bemerkte sie seine Blicke, wie er an ihrem leicht ironischen Gesichtsausdruck zu erkennen glaubte. Schließlich legte sie das Strickzeug auf die Bank neben sich, lachte, hielt sich die Hand vor den Mund und prustete heraus: „Eva heiße ich! Und wir, wir können uns gewiss nicht gegenseitig aus dem Wasser ziehen. Wenn ich da an Adam denke.“
Er zuckte mit den Achseln. Ein Mann, der am Fluss sitze, brauche ein Schiff und eine Gesprächspartnerin, die mit ihm nicht nur über den Fluss rede sondern mit ihm stromabwärts fahren wolle.
„Und was ist mit dem Pullover?“ fragte sie und spitzte ihre vollen Lippen.
Den brauche der Mann auf dem Schiff für kalte Abende.
„Es ist das Rückenteil.“ Sie stand auf, bat ihn, sich vorzubeugen und hielt es gegen seinen Rücken. „In der Breite passt es. Die Länge, na ja, gut zwanzig Reihen noch.“
Sie setzte sich, diesmal an das Ende der Bank, stand wieder auf.
„Darf ich noch mal messen?“ Wieder legte sie ihm das Rückenteil an. „Sagen wir, es sind noch etwas mehr als zwanzig Reihen.“
Wie lange es denn dauernd werde, bis der Pullover fertig sei.
Sie hob kurz beide Schultern und ließ sie wieder fallen. „Meine Mutter hat behauptet, Männer mögen es, unberechenbar zu sein. Berechenbare Männer sind langweilig. Welcher Mann will schon ein Langweiler sein?“
Sie nickte anerkennend, setzte sich und begann umgehend wieder zu stricken. „Ich muss mich beeilen. Muss ja noch einen zweiten Pullover stricken.“
Für ihn brauche sie nur einen zu stricken.
„Ein Mann ohne Rivale ist ein halber Mann und wird doppelt so dick! Warum werden Ehemänner unansehnlich dick? Glauben selbst heute noch, ihre Frau durch Heirat in sicheren Besitz genommen zu haben.“
Seine Antworten kannte er. Gerade jetzt wollte er ihn nicht neben sich haben, aber auch nicht ohne ihn auf der Bank am Fluss sitzen.
Sicherlich werde er den zweiten Pullover haben wollen, versicherte er.
Eva lächelte. „Und wo ist die nächste Anprobe?“
Er, Gerd werde ihr sicherlich frühzeitig Bescheid geben.
Sie stand auf, ging hinunter zum Fluss, lief auf dem schmalen Spazierweg ein Stück flussabwärts, blieb stehen, bückte sich, schöpfte mit der offenen Hand Wasser, ließ es durch die Finger fließen, holte das Rückenteil aus der Basttasche und warf es in den Fluss.
Er stutzte, wollte empört zu ihr laufen, fühlte sich auf der Bank fest gehalten.
Eva drehte sich langsam nach ihm um, winkte, kam noch langsamer zurück, blieb schließlich vor ihm stehen, streifte sich mit der rechten Hand die Haare aus dem Gesicht und sagte leise: „Manches musst du einfach dem Leben überlassen.“
 
H

HFleiss

Gast
Hallo Karl, mir gefällt die Geschichte auch, ich finde sie wie schon die andere Geschichte stilistisch wirklich gut geschrieben. Natürlich aber habe ich was zu mäkeln: Warum, wenn er ein notorischer Mit-sich-selbst-Sprecher ist, schreibst du die Geschichte nicht so, dass diese Frau nur scheinbar strickend neben ihm sitzt und er sich das Gespräch und den Schluss einfach nur einbildet? Das würde Komik transportieren und gäbe dem Ganzen einen Schuss ins Skurrile. Ich bin ja sehr für Realismus, hier aber bei diesem Text stört er mich ein wenig, und die Pointe kommt bei mir nicht recht an.

Gruß
Hanna
 
Liebe Hanna,
danke für deinen Hinweis. Er gefällt mir. Wahrscheinlich werde ich den Schluss entsprechend umschreiben.

Herzliche Grüße
Karl
 



 
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