Und jeden Tag ein kleines Glück (Tag 10)

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Astrid

Mitglied
Der Baum vor dem Fenster
Tag 10

Ich konnte den Blick nicht von ihm lösen. Der Baum stand auf dem kleinen Hof, direkt vor dem Fenster ihrer Küche, in der wir saßen. Ich könnte von dort in seine Krone klettern und wenn ich mich fallen ließ, würde er mich sicher auffangen. Seine Äste gabelten sich und waren so verzweigt, dass sie aussahen wie hunderte von Fingern, die in verschiedene Richtungen zeigten. Manche klopften den Mietern fast an die Scheibe so als wollten sie die, die dort wohnten miteinander verbinden. Meine Gesprächspartnerin nahm es mir nicht übel, dass ich den Augenkontakt zu ihr immer wieder abbrach, weil mich dieser Baum in seinen Bann zog. „Im Frühling blüht er ganz wundervoll!“, sagte sie.
Eine kleine Frau habe ihn zu Kriegszeiten aus Schlesien mitgebracht und hier eingepflanzt. Nur mit diesem Bäumchen sei sie angekommen. Sie pflanzte Hoffnung.
Leider fiel uns beiden sein Name nicht ein. Ich ärgerte mich sehr darüber und nahm mir fest vor, zu Hause gleich nachzusehen.

Einen Baum zu pflanzen ist ein wenig wie eine Beziehung zu beginnen. Sie kann wachsen wie er, doch wenn wir das Bäumchen nicht genug pflegen und gießen, geht es ein. Auch Beziehungen und Freundschaften sind solche zarten Pflänzchen. So hatten der Zufall und gemeinsame Interessen uns hier an diesem Tisch zusammengebracht und im Laufe des Gesprächs dachte ich, vielleicht würden wir Freunde werden. Zaghaft, dann immer mutiger werdend, hatten wir den ersten Ast erklommen. Nun waren wir neugierig auf die vielen anderen Zweige und ob der Stamm uns tragen würde. Eines aber wusste ich genau - ich wollte diesen Baum im Frühjahr blühen sehen…
 



 
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