Und jeden Tag ein kleines Glück (Tag 17 u. 18)

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Astrid

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Das Kind in mir?
Tag 17
Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus beobachte ich eine Familie mit einem kleinen Jungen. Sie haben einen Ball dabei, den sie abwechselnd dem Kind zuschießen. Für das Kind scheint es nichts Schöneres zu geben, als diesem nachzulaufen, ihn den Eltern erneut vor die Füße zu werfen oder zu kullern. Doch nun ist der Vater schneller - er jongliert den Ball auf den Knien, mit dem Fuß und dribbelt wie ein junger Fußballer. Das Kind sieht zu. Ich wechsle die Straßenseite. Am liebsten möchte ich rufen: „Das ist doch der Ball von dem Jungen!“. Aber ich bleibe amüsiert stehen und betrachte lächelnd den Ballspielenden Mann, der soviel Freude daran zu haben scheint. Erst als der Kleine anfängt zu weinen, scheint er ihn überhaupt wieder wahrzunehmen und gibt ihm den Ball zurück.
Ich beneide den Mann, der das Kind in sich nicht verleugnet und instinktiv und hemmungslos mit ihm spielt. Ich erinnere mich an Zeiten, wo ich mit meinen Söhnen auf dem Hof Fußball spielte. Das muss einhundert Jahre her sein. Lebt mein inneres Kind überhaupt noch?
Ja, manchmal, wenn ich mich sehr freue, dann schreie ich Glück und tanze durch die Wohnung. Aber in der Öffentlichkeit?

Der Ball rollt mir vor die Füße. Der Kleine sieht mich strahlend an: „Schnell Tante, schieß ihn zu mir, bevor ihn der Papa wieder holt.“ Mit eingerostetem Fußballerfuß und nicht, ohne mich vorher blitzschnell umgeschaut zu haben, ob womöglich jemand zusieht, kicke ich den Ball zurück.
Höre ich da etwa ein zartes Kinderstimmchen in mir?


Über den Zaun schauen
Tag 18

Mein Herz klopft, als ich am Abend die Stufen zu dem kleinen Theater hochgehe, welches ich bisher nur als Zuschauerin kannte. „Wer hat Lust, Kabarett zu spielen? Interessenten melden sich bitte bei…
Ich melde mich.
Die Klappstühle, auf denen das Publikum normalerweise während der Vorstellungen sitzt, stapeln sich heute in der Garderobe. Der kleine Zuschauerraum wirkt plötzlich sehr groß. Lediglich sechs Stühle stehen im Kreis angeordnet und verströmen eine Mischung aus Respekt und Spannung.
Ein kluger Mann sagte einmal, man solle jeden Tag ein kleines Wagnis eingehen. Das ist meins. Für heute. Ich habe Lust auf Neues.
Der Stuhlkreis füllt sich, meine Aufregung legt sich und schwillt erneut an, als wir mit Improvisationen beginnen. Doch ich bin nicht mehr und nicht weniger Laie als die anderen und spiele mich frei, löse mich von Hemmungen. Hier muss ich keine Erwartungen erfüllen. Eine Frau imponiert mir, eine Junggebliebene, Rothaarige. Ihre Firma hat sie in den Vorruhestand entlassen. „Da muss ich mir doch was suchen, Zeit habe ich ja nun“, sagt sie.

Wir spielen. Wir werden lockerer. Wir arbeiten mit ersten Texten. Wir lachen. Ab und an habe ich das Gefühl, als würde ich zur Seite treten und mich beobachten und dann denke ich: „Hey, bist du das? Hast du gewusst, dass du das kannst?“
Und ich gehe reicher nach Hause, weil ich über den Zaun geschaut habe in eine völlig andere Lebensnische. Weil ich mich noch selber überraschen kann.
Weil ich vielleicht das Kind in mir wieder gefunden habe.
 



 
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