Und jeden Tag ein kleines Glück (Tag 26)

Astrid

Mitglied
Im Wartezimmer

Das Wartezimmer ist proppevoll, die Luft – nein, es gibt keine Luft mehr in diesem Raum. Ich erwische den letzten freien Platz rechts in der Ecke neben dem Zeitschriftenständer. Neben mir sitzt ein junger Mann mit einem Mädchengesicht. Ich bemühe mich, auf dem schrecklich unbequemen Stuhl eine einigermaßen erträgliche Sitzposition zu finden. Mein Blick streift dabei den jungen Mann und huscht einmal kurz durch den Raum, bleibt aber nirgendwo länger hängen. So entschließe ich mich, ein Nickerchen zu machen. Schließlich konnte das hier dauern. Obwohl ich überhaupt nicht müde bin, lasse ich die Augen geschlossen. Ich höre. Mein Kopfkino beginnt. So nenne ich es, wenn Bilder entstehen oder ich mir einfach Situationen ausspinne.
Nach unendlich langer Zeit wird ein Patient aufgerufen. Für einen Moment kommt Bewegung in die Starre des Raumes. Ich öffne die Augen. Von den zehn mit mir Wartenden, studieren fünf das Teppichmuster, zwei halten Händchen und eine Mutter beschäftigt sich mit ihrem Kind in der Spielecke. Aber eigentlich ist es eher so, dass das Kind seine Mutter beschäftigt. Der zweijährige Sebastian hat wohl keine Lust mehr zum Spielen und will sich mit der Mutter lieber ein Buch anschauen. „Aber erst hebst du das Auto auf“ sagt die Mutter. Sebastian ignoriert es und hält bereits ein schickes Bilderbuch in der Hand. Die Mutter legt es zur Seite: „Nein, du möchtest erst das Auto aufheben“. Die ersten Augenpaare haben das Studium des Teppichmusters verlassen und sind zur Spielecke gewandert. Mit erhobener Stimme fordert die Mutter erneut: „Der Sebastian möchte erst das Auto aufheben!“ Doch Sebastian möchte nicht. Bis auf die beiden Händchenhaltenden schauen nun alle zu Sebastian. Ein Krimi könnte im Moment nicht spannender sein. Doch der Regisseur erlöst die Mutter – das Kind wird aufgerufen. Sie schnappt sich Sebastian und ihre Tasche und – sie hebt das Auto auf.
Das Studium des Teppichmusters wird fortgesetzt, die Händchenhaltenden halten weiter Händchen und ich hole mein Notizbuch raus.
Als ich nach fast zwei Stunden endlich wieder zu Hause bin, fragt mich mein Sohn, wie es war. „Interessant“ sage ich, „wirklich interessant“.
 



 
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