Und jeden Tag ein kleines Gück (Tag 19)

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Astrid

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Eine Kerze für mich allein
Tag 19

Das Prasseln des Regens auf dem Fensterblech weckt mich. Ich schiebe die Jalousie zur Seite und riskiere einen Blick. Es muss die ganze Nacht geregnet haben, die Sandwege auf dem Hof sind eine breiige Masse. Menschen hasten unter riesigen Regenschirmen durch den
düsteren Morgen.
Ich bin froh, dass ich die Wohnung nicht verlassen muss. Obwohl ich mir manchmal wünsche, auch wieder früh zu einer Arbeit fahren zu können. Dann würde mir der Regen nichts ausmachen. So wie jetzt. Ich stehe im Trockenen, ich habe Glück. Ich bin schlecht dran, weil ausgeschlossen aus dem Arbeitsprozess. Ich bin privilegiert, weil ich auswählen kann, wann ich die Wohnung verlasse, was ich tue. Ich kann es drehen, wie ich will.
Ich stehe im Nachthemd am Fenster und ziehe die Spuren der Regentropfen nach. Und ich weiß, dass ich es nun in der Hand habe, ob es für mich ein Regentag wird oder nicht. Ich muss laut lachen – und wie privilegiert ich bin – ich kann wählen zwischen Selbstmitleid und mich bejammern oder Ausgeglichenheit und Zuversicht. Welche Macht ich doch über den Tag habe - das Wetter ist so winzig im Gegensatz zu mir. So winzig!
Ich krauche zurück ins Bett, obwohl ich weiß, dass der Tag noch kippen kann und der Regen die Oberhand gewinnt.

Als ich wieder aufwache, regnet es nicht mehr. Ich decke den Tisch, als würde ich einen Gast bewirten, koche Kaffee und zünde Kerzen an. Für mich. Weil ich gewonnen habe. Für heute. Aber morgen muss ich mich wieder entscheiden...
 



 
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