Und sie fahren doch weiter

Anonym

Gast
Woosh! Rattata rattata rattata. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … Einen nach dem anderen sehe ich unter mir vorbei fahren, bis letztendlich der 43. Wagen von unter der Brücke herauskommt. Es ist mal wieder ein Güterzug den ich sehe, mit allerlei verschiedenen Wagenladungen. Mit Autos, Holzbalken, Containern, Flüssigkeitstanks und selbst LKW-Anhängern im Zug. Es ist schon der dritte, den ich unter mir fahren sehe. Einer von vielen, welcher mir nur immer wieder deutlich macht, wie klein doch jeder Mensch ist, bei der schieren Masse an Gütern, welche allein hier durch die Landschaft transportiert werden. Und wie wenig Einfluss doch einer alleine hat.
Doch ich bin nicht hergekommen, um über den Welthandel, oder über die Ohnmacht der Einzelnen nachzudenken. Ich bin an dieser Brücke, weil sie mich beruhigt. Sie ist außerhalb der Stadt, an einer kleinen Straße. Es fahren selten Autos vorbei die stören würden, es laufen wenig Menschen an dieser Stelle. Und wenn doch, dann sind das meistens Studierende, die eh nicht genug Zeit hätten, um sich über eine einzelne Person irgendwo zu wundern. Es ist ruhig, ungestört, natürlich.
Unter mir, vor mir, hinter mir, Züge. Einer nach dem anderen. Endlos tuckern sie unter mir durch, langsam ihre Runden ziehend, auf einer vorgegebenen Strecke. Sehen mich, nur einen von wahrscheinlich unzähligen Beobachtenden. Sie beachten mich nicht, wozu auch? Der Zaun ist schließlich hoch genug. Zumindest an dieser Stelle. Und ich stehe doch nur hier, die Waggons zählend, in eine Art Trance fallend. Meine Gedanken verschwinden, ich sehe nur noch Waggons vor mir. Und doch, jetzt fange ich an, sinniere über meine Ohnmacht gegen alles. Gegen den Welthandel, gegen den Konsum, gegen die Ungerechtigkeit, gegen mich. All diese Gedanken, in mir drinnen, erst neblig, und doch immer klarer werdend, mich ansteckend, mich betäubend, mich verändernd.
Ich sehe einen Zug kommen. Ich sehe ihn von vorne kommen, er hält direkt auf die Brücke, und was unter ihr ist, zu. Von der anderen Seite kommt nichts, er hat freie Fahrt, und drosselt sein Tempo nicht. Er fährt gerade zu, sein Ziel nicht aus den Augen verlierend. Er folgt, ohne Zögern, ohne Nachdenken, tatenlos, auf seiner Strecke fort ...
Es ist nur ein kleiner Stich. Der Handel stockt, eine Ader ist geplatzt, aber das Herz pump weiter. Und doch. Weder er, der Lokführer, noch alle anderen um ihn herum, werden diese Szene jemals vergessen.
 



 
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