Und wieder war er da

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Anonym

Gast
Und wieder war er da.
Er kam nicht langsam und mit Bedacht.
Nein – er war eine Sturmflut in meinem Geist.
Rüttelte er doch mit heftigen Wogen an meiner Erinnerung und nistete sich ein.
Rainer – dunkle, kurze Locken, offenes Lachen, hohe Statur, Anzug, Schlips und schwarze Schuhe.
Seine Augen leuchteten, doch an deren Farbe ist in mir keine Erinnerung mehr übrig geblieben. Nur dieses ehrliche Lachen und das Glitzern.
Er war der erste, der mich per Handschlag in der neuen Firma begrüßte, mir ein freundliches Lächeln schenkte und mich willkommen hieß.
Vielleicht waren es die ersten sechs Wochen meiner Einarbeitung und seiner Betreuung, die mich emotional an ihn fesselten, vielleicht war es nur seine Empathie oder sein Dasein.
Vier Jahre arbeiteten wir Seite an Seite.
Keine Annäherung meinerseits. Nur sein warmes Lächeln, ein etwas längerer Händedruck, in der Teeküche ein Blickkontakt und das fachliche Gespräche unter Kollegen. Nicht mehr von ihm und nicht weniger von mir.
Der letzte Arbeitstag brach an.
Zur Mittagspause hatte ich bereits die Einladungen per eMail auf ihre Reise geschickt und beim Türken nebenan Orangensaft gekauft.
Es waren alle eingeladen – ohne Ausnahme. Selbst meine mich hassende ehemalige Vorgesetzte hatte ich auf der Einladungsliste zustehen und sie kam.
In der Teeküche öffnete ich die Sektflaschen, füllte Gläser mit Saft, verteilte Knabbereien und umarmte Kollegen, die ich für aufrichtig hielt und schüttelte Hände von Kollegen, denen die Lüge auf der Stirn geschrieben stand.
Mit Tränen in den Augen zählte ich die Unterschriften auf der überdimensionalen Abschiedskarte, überrascht stellte ich fest – ausnahmslos alle hatten unterschrieben.
Dann eine etwas zu lange Umarmung von Rainer. Fester als nötig drückte er mich an sich heran, intensiver als erwartet verweilten seine Lippen auf meiner Wange und die geflüsterten Worte: „Du wirst mir fehlen“ höre ich heute noch.
Und nun war er wieder da.
In meinem Kopf.
Seit diesem Abschied schleicht er sich immer wieder in meine Erinnerung zurück. Einem Geist ähnlich, der noch eine Rechnung zu begleichen hat. Seine Schuld abbüssen muss oder mich quälen muss, weil ich mich nicht traute ihm tiefer in die Augen zu schauen, fester die Hand zu drücken, intensiver in seiner Nähe zu sein.
Er spukt in meinem Traum, nähert sich mir, hält meine Hand, küsst mich und verschwindet in der Dämmerung.
Dann war er da.
Und hinterlässt in mir das Trümmerfeld meiner Gefühle.
 
A

Arno1808

Gast
Hallo anonymus,

abgesehen von ein paar Fehlerchen (Dativ) ein schöner und interessanter Text.

Ausgesprochen gut hat mir gefallen, wie Du am Ende mit den Worten 'dann war er da' den Kreis der Schilderung schließt.

Gruß

Arno
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

eine sehr angenehme und anrührende alltagsgeschichte. gefällt mir. aber zwei anmerkungen: man sieht den Slip nicht durch den anzug hindurch, du hast sicher schlips gemeint. und sie stellte überraschend fest, nee, du meinst überrascht, denke ich. ganz lieb grüßt
 



 
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