„
Wie nahezu jeden Morgen schlüpfte Peter zwei Tage nach Franks Beerdigung in seinen Blaumann. Außer ihnen und Sabine hatte nur Hannes einen Kranz auf den Eichensarg gelegt. Tränen flossen nur bei Sabine und Renate. Statt Trauer empfand er Unbehagen, als er Erde auf das Grab warf. Weiße Nelken, von Trauerflor zusammen gehalten, standen unweit des Grabes. Peter wusste nicht, von wem diese waren. Inzwischen standen sie im Hausflur - gleich neben dem Weihnachtstern.
„Papa, laß Dir doch Zeit.“ bat Sabine.
Peter zupfte an den Hosenträgern.
„Schätzecken, das Leben muss weitergehen.“
„Merkwürdig, dass Frank die Uhr nicht mehr hatte.“
Sabines Worte fielen wie dicke Wassertropfen in die vertraute Stille der Küche.
„Er wird sie versetzt haben, wie vieles Andere auch.“
„Er hing an der Uhr, Papa. Sie hätte bei seinen persönlichen Sachen sein müssen.“
Seufzend nahm Peter die Butterbrotdose von seiner Frau entgegen. Renate zuckte ratlos mit den Schultern. „Verloren vielleicht?“
Unwillkürlich sah Peter zur Spüle hinüber. Ungewöhnlich laut plätscherte das Wasser in die Spüle. Wahrscheinlich, dachte er, war der Kran nicht richtig aufgedreht.
Sabine schüttelte den Kopf.
„Nein, Mama. Hannes hat überall im Westpark gesucht und da, wo Frank gefunden wurde. Er hat sogar unter zerrissenen Lumpen danach gesucht. Außer Scherben hat er nichts gefunden; nichts, was Frank gehört hat.“
Das Klingeln des Telefons übertönte Sabines Empörung. Warum, fragte sie sich, war Niemand der Sache nachgegangen? „Er sagte, die Lumpen seien voll Blut gewesen.“
„Willst Du nicht ans Telefon gehen?“, fragte Renate. Sie rieb ihre nassen Hände an dem Handtuch ab. Zu so früher Stunde rief gewöhnlich niemand an. Schwerfällig verließ Peter die Küche.
„Warum besorgt Ihr Euch nicht ein schnurloes Telefon? Echt, Mama - das ist viel bequemer.“
„Ach so’n neumodischer Kram. Das brauchen wir nicht mehr.“
„Außerdem solltet Ihr Euch mal ein Sky-Ticket zulegen. Dann bräuchte Papa nicht mehr sooft in die Kneipe zu gehen. Macht er doch noch, oder?“ Besorgt zog Sabine die Stirn kraus. Peters runder Bauch war eine Folge von Hannes‘ Bewirtung mit Bier und Pommes.
„Natürlich. Wo sollte er denn sonst die Bundesliga gucken?“ Verlegen strich Renate das über der Stuhllehne hängende Handtuch glatt. Sie machte sich nichts aus Fußball und war froh, wenn Hannes über die Sportschau hinaus nicht viel Fußball im Fernsehen sah.
„Sag ich doch: Über Sky. Dann bräuchte er nicht so oft zu Hannes?“
“Ach,wenn es ihm doch dort Spaß macht? Solange Hannes Sky hat und ab und zu Papa eine Schiedsrichterkarte für’s Stadion überlässt..“
„Ah, ja. Warum heißen denn die wohl Schieds- richterkarten?“
Sabine schmunzelte. Das ständige Gemecker über vermeintliche Fehlentscheidungen machte aus ihrem Vater noch lange keinen Schiedsrichter.
Hannes stand im Türrahmen und strich sich nachdenklich über das Kinn.
„Na, ja – wenn Hannes nicht kann? Brauchen ja nicht zu verfallen, woll?“ sagte er.
„Schon Recht, Papa. Wer war denn am Telefon?“
„Hannes, es war Hannes, Schätzecken.“
Sabines Schmunzeln erstarb. Peters Gesicht wirkte gealtert und grau - wie die abgenutzten Fliesen über der Spüle.
„Papa? Was ist mit Hannes?“
„Nichts – das ist es ja. Ich hatte Frank am Telefon.“
Fassungslos starrte Renate ihn an und ließ ein Handtuch fallen.
„ Das kann nicht sein, Peter, Frank ist tot.“
„Du musst Dich geirrt haben. Oder Hannes hat sich einen Scherz erlaubt.“
„Der wäre aber ganz böse.“
Aufgeregt redeten Sabine und ihre Mutter durcheinander. Beschwichtigend hob Peter eine Hand.
„Schätzeckens – ich kann’s ja selbst kaum glauben.“ Er hatte erst Franks Stimme hören müssen, um zu glauben: Frank lebte!
„Hannes hat ihn im Gasthaus gesehen. Da wo Obdachlose frühstücken und …Ihr wisst schon. Er hat ihn erkannt. Es muss eine Verwechslung bei den Behörden gegeben haben, oder …“ Eine Verwechslung seines Sohnes mit den Toten – das wäre ein dicker Hund!
„Das kann doch gar nicht sein, Peter. Nicht in Deutschland.“
Renate ließ sich auf ihren Stuhl fallen und schüttelte den Kopf. Neulich hatten bei einer Verkehrskontrolle gleich zwei Polizeibeamte ihr Bild im Führerschein mit dem im Personalausweis verglichen! Da verwechselte man doch nicht die Lebenden mit den Toten!
„Du musst Dich einfach irren. Wir haben ihn doch gerade erst begraben.“ Renate stellte die Teller zusammen.
„Es war Frank am Telefon. Die Behörden werden einen Fehler gemacht haben.“
„Aber …Das wäre unerhört, Peter. Wen haben wir denn dann statt seiner begraben?“
„Was weiß denn ich? Frank will die Sache nicht weiter verfolgen und uns kann es allemal egal sein.“
In Peters Jackentasche klapperte der Schlüsselbund, als er den Reißverschluss zu zog. „Es wird Zeit für mich. Der Fahrstuhl repariert sich nicht von allein.“
„Man, das ist überhaupt nicht egal! Versteht Ihr denn nicht? Frank lebt. Mir kam das eh‘ komisch vor.“
Sabine schenkte Kaffee nach, bis er überlief.
„Davon muss doch die Öffentlichkeit erfahren. Wer weiß, ob man damit nicht am Ende ein Verbrechen vertuscht.“
Vorsichtig führte Sabine ihre Tasse an den Mund und trank einen Schluck ab.
„Hast Du denn vor der Beerdigung nichts gemerkt, Papa? Du musst Frank doch noch identifiziert haben.“, fuhr sie fort.
„Ach, was. Warum ich? Ich weiß doch nicht, wie Frank aussieht, wenn er tot ist?“
Erstaunt sah er Sabine an.
„Wenn die mir das so sagen, glaub‘ ich das.“ Der Sarg war ohnehin
schon zu.“ Fügte er nach kurzer Pause seinen Worten hinzu.
„Wie jetzt? Dann hat die Polizei sich also nur auf die gefundenen Papiere Franks verlassen? Vielleicht hat der unbekannte Tote diese geklaut oder...“
Beschwichtigend legte Renate ihre Hand auf Sabines Schulter.
„Bine, das bringt doch Alles nichts mehr. Besser man lässt die Toten ruhen.“
Sabine sprang auf und begann, in der Küche auf und ab zu gehen.
„Oh, doch! Es ist ein Skandal, Mama. Da könnte doch jeder unbequem werdende Obdachlose für tot erklärt werden.“
„Schätzecken, gib Ruhe. Wir wollen keinen Elefanten aus einer Mücke machen. Es passt doch zu Frank, sich so davonzustehlen. Er selbst will es nicht anders und damit ist die Sache erledigt.“ Renate fuhr erschrocken zusammen, als Peter seine Hand auf den Tisch fallen ließ. Er hasste es, wenn man ihm widersprach.
„Ihr wollt die ganze Sache echt auf sich beruhen lassen? Verstehe ich nicht – der Sarg, die Beerdigung?“ Verwundert wanderte Sabines Blick zwischen ihren Eltern hin und her.
„Es war keine große Beerdigung.“,bemerkte ihre Mutter. Abrupt blieb Sabine stehen.
„ Trotzdem müssen die Euch doch die Kosten ersetzen. Das ist doch wohl das Mindeste.“
„Schätzecken, das soll man das Sozialamt selber mit den zuständigen Behörden ausbaldovern, woll?“
Sabine schob ihren Stuhl mit der Sitzfläche unter den Tisch.
„Trotzdem, Papa. Das muss doch aufgeklärt werden. Was, wenn damit ein Verbrechen vertuscht wird? Und …“
„Ich will keine schlafenden Hunde wecken, Schätzecken. Besser ist, es bleibt Alles beim Alten.“
Peter unterbrach seine Tochter, die plötzlich in Eile in den Flur stürmte. Ihren Mantel zuknöpfend streckte sie Sekunden später den Kopf zur Küchentür herein.
„Ich muss los. Stefanie wartet auf mich.“, sagte sie zum Abschied.
„Ist gut. Bis heute Abend, Schätzeckens.“ Peter küsste Renate auf die Wange, bevor er den Werkzeugkasten aufhob. Nachdenklich zog er die Stirn kraus. Renate verabschiedete ihn, wie gewohnt. „Tschüß, bis heute Abend dann,“ sagte sie. Peter wandte sich zur Tür und nickte bedächtig. Sie bemerkten es ja beide: Sabine eilte gegen ihre Gewohnheit ohne Hinweis auf ihr nächstes Wiederkommen aus dem Haus.
Während der Bundesligakonferenz am Abend klingelte das Telefon erneut. Widerwillig überließ er den Spielverlauf sich selbst und schlurfte in den Flur. „Ist ja gut. Ich komm‘ ja schon.“ Vor sich hin brummelnd nahm er den Hörer ab.
Es war Sabine, aus der es nur so heraussprudelte. Peter seufzte und hörte nur mit halbem Ohr zu. Sabine ließ niemals eine Sache auf sich beruhen.
„Hörst Du, Papa? Frank hat seine Papiere nicht als verloren gemeldet. Sie wurden in der Nähe des Toten gefunden. Deshalb wurde einfach angenommen, es sei Frank. Die haben einfach nicht genau genug hingesehen.“, erklärte sie am Telefon.
Peter sagte nichts zu. Der Sache nachzugehen, um herauszufinden, wer nun auf Kosten des Sozialamtes statt Frank beerdigt worden war, erschien ihm müßig. Außerdem brachte es unnötig viel Unruhe in sein Leben. Er schüttelte den Kopf, obwohl er wusste: Sabine konnte ihn nicht sehen.
„Schäztecken …“,setzte er an und schüttelte noch einmal den Kopf. Er wollte sein ruhiges Lebens nicht durcheinander bringen lassen. Seine Finger verkrampften sich um den Telefonhörer. Unerhört, ihn einfach aus seiner gewohnten Routine zu reißen! Mit einem Seufzer begann er noch einmal:
„Schätzecken, verstehst Du denn nicht? Das brächte viel zu viel Unruhe mit sich. Es änderte sich für uns nichts. Warum kann nicht Alles beim Alten bleiben? In unserem Alter vertragen wir die ganze Aufregung darum nicht.“
Das Telefonkabel verdrehte sich, als er den Hals reckte, um wenigstens noch ein bisschen mitfiebern zu können.
„Es ist Unrecht, Papa. Mein Chef rät sogar zur Schadensersatzklage wegen des erlittenen Schocks und so. Die hätten sich das alte Passbild eben genauer ansehen müssen und …Das interessiert Dich auch nicht, oder?„
„Mich interessiert nur Eines: Frank ist am Leben.“
„Ihr vertuscht vielleicht wirklich ein Verbrechen, Papa. Darüber würde ich an Deiner Stelle mal nachdenken. Als ob das Dein Leben nicht durcheinander brächte!“
„Du gibst nie auf , oder?“
„Nein. Mach’s gut, Papa.“
„Mach ich. Bis später mal.“ Peter setzte sich wieder vor den Fernseher.
„Das war Sabine.“ sagte er, als er Renate kommen hörte. Als sei damit Alles gesagt, trank er sein Bier. Fragend sah Renate ihn an.
„Sie meint, man müsse der Sache nachgehen, aber wenn Frank das nicht tut …“, fügte er hinzu ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen.
„Dann brauchen wir uns dadurch auch nicht erschüttern lassen.“, ergänzte Renate.
Sie nahm eine Fernsehzeitschrift, setzte sich neben ihren Mann und begann, das Kreuzworträtsel auszufüllen. Peter schwieg und schenkte Bier nach. Auf dem Bildschirm rannten Fußballspieler dem Ball hinterher, als ob ihr Leben davon abhinge, die Fans jubelten über ein Tor und auch Peter nickte zufrieden: Feierabend mit Bier und Fußball, ab und zu ein paar Worte mit Renate wechseln und wenn’s gut lief, ein Besuch im Stadion, statt bei Hannes in der Kneipe – mehr Unruhe brauchte er nicht mehr.
Wie nahezu jeden Morgen schlüpfte Peter zwei Tage nach Franks Beerdigung in seinen Blaumann. Außer ihnen und Sabine hatte nur Hannes einen Kranz auf den Eichensarg gelegt. Tränen flossen nur bei Sabine und Renate. Statt Trauer empfand er Unbehagen, als er Erde auf das Grab warf. Weiße Nelken, von Trauerflor zusammen gehalten, standen unweit des Grabes. Peter wusste nicht, von wem diese waren. Inzwischen standen sie im Hausflur - gleich neben dem Weihnachtstern.
„Papa, laß Dir doch Zeit.“ bat Sabine.
Peter zupfte an den Hosenträgern.
„Schätzecken, das Leben muss weitergehen.“
„Merkwürdig, dass Frank die Uhr nicht mehr hatte.“
Sabines Worte fielen wie dicke Wassertropfen in die vertraute Stille der Küche.
„Er wird sie versetzt haben, wie vieles Andere auch.“
„Er hing an der Uhr, Papa. Sie hätte bei seinen persönlichen Sachen sein müssen.“
Seufzend nahm Peter die Butterbrotdose von seiner Frau entgegen. Renate zuckte ratlos mit den Schultern. „Verloren vielleicht?“
Unwillkürlich sah Peter zur Spüle hinüber. Ungewöhnlich laut plätscherte das Wasser in die Spüle. Wahrscheinlich, dachte er, war der Kran nicht richtig aufgedreht.
Sabine schüttelte den Kopf.
„Nein, Mama. Hannes hat überall im Westpark gesucht und da, wo Frank gefunden wurde. Er hat sogar unter zerrissenen Lumpen danach gesucht. Außer Scherben hat er nichts gefunden; nichts, was Frank gehört hat.“
Das Klingeln des Telefons übertönte Sabines Empörung. Warum, fragte sie sich, war Niemand der Sache nachgegangen? „Er sagte, die Lumpen seien voll Blut gewesen.“
„Willst Du nicht ans Telefon gehen?“, fragte Renate. Sie rieb ihre nassen Hände an dem Handtuch ab. Zu so früher Stunde rief gewöhnlich niemand an. Schwerfällig verließ Peter die Küche.
„Warum besorgt Ihr Euch nicht ein schnurloes Telefon? Echt, Mama - das ist viel bequemer.“
„Ach so’n neumodischer Kram. Das brauchen wir nicht mehr.“
„Außerdem solltet Ihr Euch mal ein Sky-Ticket zulegen. Dann bräuchte Papa nicht mehr sooft in die Kneipe zu gehen. Macht er doch noch, oder?“ Besorgt zog Sabine die Stirn kraus. Peters runder Bauch war eine Folge von Hannes‘ Bewirtung mit Bier und Pommes.
„Natürlich. Wo sollte er denn sonst die Bundesliga gucken?“ Verlegen strich Renate das über der Stuhllehne hängende Handtuch glatt. Sie machte sich nichts aus Fußball und war froh, wenn Hannes über die Sportschau hinaus nicht viel Fußball im Fernsehen sah.
„Sag ich doch: Über Sky. Dann bräuchte er nicht so oft zu Hannes?“
“Ach,wenn es ihm doch dort Spaß macht? Solange Hannes Sky hat und ab und zu Papa eine Schiedsrichterkarte für’s Stadion überlässt..“
„Ah, ja. Warum heißen denn die wohl Schieds- richterkarten?“
Sabine schmunzelte. Das ständige Gemecker über vermeintliche Fehlentscheidungen machte aus ihrem Vater noch lange keinen Schiedsrichter.
Hannes stand im Türrahmen und strich sich nachdenklich über das Kinn.
„Na, ja – wenn Hannes nicht kann? Brauchen ja nicht zu verfallen, woll?“ sagte er.
„Schon Recht, Papa. Wer war denn am Telefon?“
„Hannes, es war Hannes, Schätzecken.“
Sabines Schmunzeln erstarb. Peters Gesicht wirkte gealtert und grau - wie die abgenutzten Fliesen über der Spüle.
„Papa? Was ist mit Hannes?“
„Nichts – das ist es ja. Ich hatte Frank am Telefon.“
Fassungslos starrte Renate ihn an und ließ ein Handtuch fallen.
„ Das kann nicht sein, Peter, Frank ist tot.“
„Du musst Dich geirrt haben. Oder Hannes hat sich einen Scherz erlaubt.“
„Der wäre aber ganz böse.“
Aufgeregt redeten Sabine und ihre Mutter durcheinander. Beschwichtigend hob Peter eine Hand.
„Schätzeckens – ich kann’s ja selbst kaum glauben.“ Er hatte erst Franks Stimme hören müssen, um zu glauben: Frank lebte!
„Hannes hat ihn im Gasthaus gesehen. Da wo Obdachlose frühstücken und …Ihr wisst schon. Er hat ihn erkannt. Es muss eine Verwechslung bei den Behörden gegeben haben, oder …“ Eine Verwechslung seines Sohnes mit den Toten – das wäre ein dicker Hund!
„Das kann doch gar nicht sein, Peter. Nicht in Deutschland.“
Renate ließ sich auf ihren Stuhl fallen und schüttelte den Kopf. Neulich hatten bei einer Verkehrskontrolle gleich zwei Polizeibeamte ihr Bild im Führerschein mit dem im Personalausweis verglichen! Da verwechselte man doch nicht die Lebenden mit den Toten!
„Du musst Dich einfach irren. Wir haben ihn doch gerade erst begraben.“ Renate stellte die Teller zusammen.
„Es war Frank am Telefon. Die Behörden werden einen Fehler gemacht haben.“
„Aber …Das wäre unerhört, Peter. Wen haben wir denn dann statt seiner begraben?“
„Was weiß denn ich? Frank will die Sache nicht weiter verfolgen und uns kann es allemal egal sein.“
In Peters Jackentasche klapperte der Schlüsselbund, als er den Reißverschluss zu zog. „Es wird Zeit für mich. Der Fahrstuhl repariert sich nicht von allein.“
„Man, das ist überhaupt nicht egal! Versteht Ihr denn nicht? Frank lebt. Mir kam das eh‘ komisch vor.“
Sabine schenkte Kaffee nach, bis er überlief.
„Davon muss doch die Öffentlichkeit erfahren. Wer weiß, ob man damit nicht am Ende ein Verbrechen vertuscht.“
Vorsichtig führte Sabine ihre Tasse an den Mund und trank einen Schluck ab.
„Hast Du denn vor der Beerdigung nichts gemerkt, Papa? Du musst Frank doch noch identifiziert haben.“, fuhr sie fort.
„Ach, was. Warum ich? Ich weiß doch nicht, wie Frank aussieht, wenn er tot ist?“
Erstaunt sah er Sabine an.
„Wenn die mir das so sagen, glaub‘ ich das.“ Der Sarg war ohnehin
schon zu.“ Fügte er nach kurzer Pause seinen Worten hinzu.
„Wie jetzt? Dann hat die Polizei sich also nur auf die gefundenen Papiere Franks verlassen? Vielleicht hat der unbekannte Tote diese geklaut oder...“
Beschwichtigend legte Renate ihre Hand auf Sabines Schulter.
„Bine, das bringt doch Alles nichts mehr. Besser man lässt die Toten ruhen.“
Sabine sprang auf und begann, in der Küche auf und ab zu gehen.
„Oh, doch! Es ist ein Skandal, Mama. Da könnte doch jeder unbequem werdende Obdachlose für tot erklärt werden.“
„Schätzecken, gib Ruhe. Wir wollen keinen Elefanten aus einer Mücke machen. Es passt doch zu Frank, sich so davonzustehlen. Er selbst will es nicht anders und damit ist die Sache erledigt.“ Renate fuhr erschrocken zusammen, als Peter seine Hand auf den Tisch fallen ließ. Er hasste es, wenn man ihm widersprach.
„Ihr wollt die ganze Sache echt auf sich beruhen lassen? Verstehe ich nicht – der Sarg, die Beerdigung?“ Verwundert wanderte Sabines Blick zwischen ihren Eltern hin und her.
„Es war keine große Beerdigung.“,bemerkte ihre Mutter. Abrupt blieb Sabine stehen.
„ Trotzdem müssen die Euch doch die Kosten ersetzen. Das ist doch wohl das Mindeste.“
„Schätzecken, das soll man das Sozialamt selber mit den zuständigen Behörden ausbaldovern, woll?“
Sabine schob ihren Stuhl mit der Sitzfläche unter den Tisch.
„Trotzdem, Papa. Das muss doch aufgeklärt werden. Was, wenn damit ein Verbrechen vertuscht wird? Und …“
„Ich will keine schlafenden Hunde wecken, Schätzecken. Besser ist, es bleibt Alles beim Alten.“
Peter unterbrach seine Tochter, die plötzlich in Eile in den Flur stürmte. Ihren Mantel zuknöpfend streckte sie Sekunden später den Kopf zur Küchentür herein.
„Ich muss los. Stefanie wartet auf mich.“, sagte sie zum Abschied.
„Ist gut. Bis heute Abend, Schätzeckens.“ Peter küsste Renate auf die Wange, bevor er den Werkzeugkasten aufhob. Nachdenklich zog er die Stirn kraus. Renate verabschiedete ihn, wie gewohnt. „Tschüß, bis heute Abend dann,“ sagte sie. Peter wandte sich zur Tür und nickte bedächtig. Sie bemerkten es ja beide: Sabine eilte gegen ihre Gewohnheit ohne Hinweis auf ihr nächstes Wiederkommen aus dem Haus.
Während der Bundesligakonferenz am Abend klingelte das Telefon erneut. Widerwillig überließ er den Spielverlauf sich selbst und schlurfte in den Flur. „Ist ja gut. Ich komm‘ ja schon.“ Vor sich hin brummelnd nahm er den Hörer ab.
Es war Sabine, aus der es nur so heraussprudelte. Peter seufzte und hörte nur mit halbem Ohr zu. Sabine ließ niemals eine Sache auf sich beruhen.
„Hörst Du, Papa? Frank hat seine Papiere nicht als verloren gemeldet. Sie wurden in der Nähe des Toten gefunden. Deshalb wurde einfach angenommen, es sei Frank. Die haben einfach nicht genau genug hingesehen.“, erklärte sie am Telefon.
Peter sagte nichts zu. Der Sache nachzugehen, um herauszufinden, wer nun auf Kosten des Sozialamtes statt Frank beerdigt worden war, erschien ihm müßig. Außerdem brachte es unnötig viel Unruhe in sein Leben. Er schüttelte den Kopf, obwohl er wusste: Sabine konnte ihn nicht sehen.
„Schäztecken …“,setzte er an und schüttelte noch einmal den Kopf. Er wollte sein ruhiges Lebens nicht durcheinander bringen lassen. Seine Finger verkrampften sich um den Telefonhörer. Unerhört, ihn einfach aus seiner gewohnten Routine zu reißen! Mit einem Seufzer begann er noch einmal:
„Schätzecken, verstehst Du denn nicht? Das brächte viel zu viel Unruhe mit sich. Es änderte sich für uns nichts. Warum kann nicht Alles beim Alten bleiben? In unserem Alter vertragen wir die ganze Aufregung darum nicht.“
Das Telefonkabel verdrehte sich, als er den Hals reckte, um wenigstens noch ein bisschen mitfiebern zu können.
„Es ist Unrecht, Papa. Mein Chef rät sogar zur Schadensersatzklage wegen des erlittenen Schocks und so. Die hätten sich das alte Passbild eben genauer ansehen müssen und …Das interessiert Dich auch nicht, oder?„
„Mich interessiert nur Eines: Frank ist am Leben.“
„Ihr vertuscht vielleicht wirklich ein Verbrechen, Papa. Darüber würde ich an Deiner Stelle mal nachdenken. Als ob das Dein Leben nicht durcheinander brächte!“
„Du gibst nie auf , oder?“
„Nein. Mach’s gut, Papa.“
„Mach ich. Bis später mal.“ Peter setzte sich wieder vor den Fernseher.
„Das war Sabine.“ sagte er, als er Renate kommen hörte. Als sei damit Alles gesagt, trank er sein Bier. Fragend sah Renate ihn an.
„Sie meint, man müsse der Sache nachgehen, aber wenn Frank das nicht tut …“, fügte er hinzu ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen.
„Dann brauchen wir uns dadurch auch nicht erschüttern lassen.“, ergänzte Renate.
Sie nahm eine Fernsehzeitschrift, setzte sich neben ihren Mann und begann, das Kreuzworträtsel auszufüllen. Peter schwieg und schenkte Bier nach. Auf dem Bildschirm rannten Fußballspieler dem Ball hinterher, als ob ihr Leben davon abhinge, die Fans jubelten über ein Tor und auch Peter nickte zufrieden: Feierabend mit Bier und Fußball, ab und zu ein paar Worte mit Renate wechseln und wenn’s gut lief, ein Besuch im Stadion, statt bei Hannes in der Kneipe – mehr Unruhe brauchte er nicht mehr.