Unerwartet

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Vera-Lena

Mitglied
Unerwartet

Der verjährte Fahrplan wurde
nicht erneuert.
Züge brausen tinnitusartig
durch das Innenohr;
nach Krakau geht es
in die Abgeschiedenheit;
Worte in Konserven
stehen herum dort
in den Arkaden;
eine verstummte Welt
äußert sich in den Ritzen
des Steinpflasters....
Jelisaweta
du, das eigentliche Wort,
und ich kenne gerade nur
das J erst,
dein Erstaunen unter den
fraglosen Wimpern;
nach der Rückfahrkarte taste ich.
Du hast nichts zu fürchten.
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

die Atmosphäre dieses Gedichts fasziniert mich, aber ich muss gestehen, ich kann mir überhaupt keinen Reim auf den Inhalt machen.. *grübel*..

Lg Julia
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Julia,


danke für Dein Interesse an diesem Text! Wenn Du den Inhalt nicht aufdröseln kannst, wird es anderen Lesern vielleicht auch so ergehen. Eigentlich wollte ich noch warten, ob mir jemand eine Interpretation schreibt, aber ich bin ja auch nicht immer die Geduldigste. Also fange ich jetzt mal an.

Ich glaube, der wichtigste Hinweis ist die Tatsache, dass das Lyri [blue]ein Mann[/blue] ist.

[blue]Der verjährte Fahrplan wurde nicht erneuert[/blue] Der Mann war schon längere Zeit nicht mehr in Krakau.

[blue]Züge brausen tinnitusartig durch das Innenohr[/blue] immer, wenn diese Ohrgeräusche lauter werden, stellt der Mann sich vor, dass er in einem Zug nach Krakau sitzt.

[blue]nach Krakau geht es in die Abgeschiedenheit[/blue] Hier ist ein Bezug zur Wirklichkeit. In Krakau ist in mancherlei Hinsicht wirklich die Zeit stehen geblieben. Es gibt dort Menschen, die nie dorthin gehen, wo sie ihr Ziel nicht zu Fuß erreichen können. Alles Andere ist für sie tabu. Als 5jähriges Kind habe ich das auch noch also 1943 in einer Kleinstadt in der Mark Brandenburg erlebt, insofern weiß ich, das es so etwas gibt und wie ein solches Leben aussieht. Aber weil es das in Krakau teilweise bis heute gibt, liegt für mich diese Stadt irgendwie am Rand der Welt, also in der [blue]Abgeschiedenheit[/blue]

Der Mann war also vor Jahren in Krakau und hatte dort eine Begegnung mit Jelisaweta, die nicht so verlaufen ist, wie er sich das wünschte. Es gab wenig sprachlichen Austausch:[blue] Worte in Konserven stehen dort herum zwischen den Arkaden[/blue] aber der Mann erinnert sich noch an alles, was er Jelisaweta gerne gesagt hätte.

[blue]eine verstummte Welt äußert sich in den Ritzen des Steinpflasters[/blue]wenn der Mann sich vorstellt, dass er wieder auf dem Markt in Krakau steht, dann wird sein ganzes damaliges Empfinden für ihn mit ganzer Kraft wieder spürbar.

Er stellt sich vor, dass er, von ihr gänzlich unerwartet, (denn sie hat ihn ja vielleicht inzwischen vergessen,) vor ihr steht. Er sieht vor seinem inneren Auge ihr Erstaunen, und er denkt, dass sie ihn nach nichts befragen wird, weil er ihr vielleicht nicht so viel bedeutet hat, wie sie ihm.

Er denkt auch, dass sie inzwischen in allerlei Verpflichtungen eingebunden sein wird, eine Familie begründet hat usw. Deshalb [blue]tastet er nach der Rückfahrkarte[/blue] Er will sich nicht in ihr Leben drängen.
[blue]Du hast nichts zu fürchten[/blue]

Solche Phantasien hat er.

Liebe Julia, so habe ich das gemeint.

Dir ganz liebe Grüße! :)
Vera-Lena
 
T

Thys

Gast
Ohne diese Erklärung hätte ich hier vollkommen auf dem Schlauch gestanden. Jetzt kann ich aber gut folgen.
 

Vera-Lena

Mitglied
Danke, lieber Thys,

da lohnt sich für mich das Nachdenken, ob ich mir das leisten möchte, unverständlich zu sein.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 

strolch

Mitglied
naja ohne erklärung bin ich auch nicht schlau draus geworden.

das ist ein problem was ich auch schon hatte, für mich war der text schlüssig, aber der leser konnte nichts mit anfangen. mir wurde dann gesagt zu recht der leser, weiß nicht was ich weiß und denke, das muß ich ihm schon sagen bzw. schreiben.was nicht keinen freiraum zu lassen, aber wie du schon selbst feststellt, auf einiges - konnte ich nichts machen.

lg brigitte
 
T

Thys

Gast
Leisten, Vera-Lena? Es kommt sich doch drauf an, ob's Dir gefällt, ob Du Spaß daran hast.
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

danke für die ausführliche Erklärung! Ich weiß, das ist immer ärgerlich, wenn man nicht auf Anhieb verstanden wird und das, was man ja gerade schön verdichtet hat, wieder entdichten muss (obwohl es andererseits auch immer Spaß macht, sich zu seinen Werken selbst zu äußern, denke ich :)). Ich finde, man kann als Autor schwer selbst beurteilen, was für den Leser verständlich ist. In jedem Fall denke ich aber, dass du es dir "leisten kannst" ;)! Ich persönlich fand dein Gedicht auch vor der Erklärung gut, weil du es geschafft hast, diese wehmütige Atmosphäre, die dem Inhalt entspricht, auf einer Ebene zu kreieren, die jenseits von bloßer Wort- und Satzbedeutung liegt. Das ist für mich das Zeichen eines wirklich guten Gedichts: Wenn es nicht nur über den Umweg des Hirns berührt.

Was ich eigentlich nur sagen will ist: Schööööön! :)

Lg Julia

P.S.: Ich dachte übrigens anfangs, das Gedicht hätte auch einen politisch-geschichtlichen Hintergrund.

P.P.S.: "Erstaunen unter den
fraglosen Wimpern" ist m.E. eine großartige Charakterisierung einer Frau! Aber meine Lieblingsstelle ist:
"Jelisaweta
du, das eigentliche Wort,
und ich kenne gerade nur
das J erst"
 

Vera-Lena

Mitglied
Ihr Lieben, strolch, Thys und Julia,

danke für Eure Ermutigung! Ja, ich glaube auch, wenn man beim Schreiben an den Leser denkt, dann kriegt man überhaupt nichts zustande. Ich hatte auf dem Balkon gesessen und bei Rüdiger Safranski über Heinrich von Kleist gelesen und plötzlich wollte ich einen Text schreiben. Ich holte mir ein Blatt Papier und habe die Worte, ohne ein einziges zu verändern, innerhalb einer halben Stunde so aufgeschrieben, wie sie da stehen.
Und dann kommt immer die schwere Entscheidung Leselupe oder Papierkorb. Mir selbst hat der Text so gut gefallen, dass ich ihn auswendig gelernt habe, was ich sonst niemals tue. Ja, Thys, Du hast Recht, es soll einem selbst Spaß machen.

Groß war natürlich der Schreck, als ich nicht verstanden wurde. Aber Du hast Recht, Julia, es macht schon auch Spaß den eigenen Text zu erläutern.

Ich freue mich, dass der Text dann doch Gefallen gefunden hat sogar ohne dass man ihn Wort für Wort verstehen konnte.

Wenn es um die Stadt Krakau geht, kommt man natürlich schnell auf die Idee, dass politisch-geschichtliche Dinge auch eine Rolle spielen zB, dass es keine Einreisemöglichkeiten mehr gab usw. Aber dann hätte ich den Text als überfrachtet empfunden. Es geht mir einfach um diese nicht gelebte Liebe.

"Jelisaweta, du, das eigentliche Wort, und ich kenne gerade nur das J erst," ist ja der zentrale Satz in diesem Text, den man auch ohne Erklärung versteht. Was mich selber daran überrascht hat, war die Tatsache, dass dieser zentrale Satz ohne Weiteres so viele Füllwörter verkraften kann. Ach, Sprache hat doch immer wieder etwas Überraschendes, Begeisterndes und ich bin so dankbar, dass ich das erleben darf.
Und ich danke Euch, auch dem anonymen Bewerter/In, dass Ihr es mit mir mit erlebt.

Euch Allen noch einen schönen Abend! :)
Liebe Grüße
Vera-Lena
 

presque_rien

Mitglied
"Füllwörtert"... jedes Wort ist doch wertvoll!

Sagt die Sprachwissenschaftlerin konversationsanalytischer Schwerpunktsetzung ;)

(Vor kurzem noch kopierte ich mir einen langen Artikel, in dem es um eine Bedeutungstypologie von "äh" in Gesprächen ging...)
 

Vera-Lena

Mitglied
Naja, Julia, ob so ein kleines Wörtchen in einem Gespräch oder in einem lyrischen Text vorkommt, ist nach meinem Dafürhalten ein großer Unterschied.
In Gesprächen machen so kleine Wörtlein, deren man sich selbst gar nicht bewusst ist, eben gerade weil sie unbewusst ausgesprochen werden, eine starke Aussage.

Bei einem lyrischen Text entwickelt man ein Gespür dafür, ob das kleine Wörtchen überhaupt eine Aussage macht, oder ob man es nicht doch besser beiseite lässt.

Insgesamt gesehen ist natürlich jedes Wort wertvoll, da stimme ich mit Dir überein.

Äh, was ich noch sagen wollte, Gute Nacht! ;)
Liebe Grüße
Vera-Lena
 
M

mirami

Gast
das find ich wunderschön, vera-lena. eine interpretation hätte ich vor deiner erklärung nicht gewagt.
den inhalt aber hatte ich in etwa schon so auf dem schirm.
bzw. "gefühlt".


das „äußert sich“, mein ich, könntest du noch getrost streichen.

viele grüße
mirami
 

presque_rien

Mitglied
Naja, Julia, ob so ein kleines Wörtchen in einem Gespräch oder in einem lyrischen Text vorkommt, ist nach meinem Dafürhalten ein großer Unterschied.
Ja klar,
im Grunde genommen natürlich schon,
bloß, von der anderen Seite her betrachtet
vielleicht irgendwo ein Bisschen
dingenskirchen, na, hier,
weißte wie ich mein?
In diese Richtung und so eben,
allerdings auch nicht unbedingt,
dennoch, was ich eigentlich sagen wollte,
teils teils immerhin.
Naja, egal.
Aber trotzdem!

Schönes Wochenende
wünscht Julia :)
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe mirami,

das freut mich, zu hören, dass der Inhalt durch die Zeilen des Textes hindurchschimmert.

Das "äußert sich" kann ich aber nicht herausnehmen, da es eine imhaltliche Funktion hat. Die verstummte Welt befindet sich ja nicht nur in den Ritzen des Steinpflasters, sondern, immer dann, wenn der Mann sich vorstellt, auf dem Marktplatz zu stehen,weckt sie wieder mit großer Heftigkeit die damals empfundenen Gefühle. Insofern ist diese verstummte Welt nicht nur einfach da,sondern sie ist auch wirksam, sie äußert sich.

Aber danke, für Deinen Hinweis und für Deine Antwort.

Herzlich grüßt Dich Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
So betrachtet, liebe Julia, muss ich Dir natürlich unumwunden Recht geben.

Grüße nach Dingskirchen! ;)

Dir auch einen schönen Sonntag:)
Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Alma Marie,

ja, es ist ein weiter Text, diesen Eindruck hatte ich auch, als er fertig war.
Danke für Dein Lob, das mich sehr freut.

Dir ein schönes Wochenende! :)

Liebe Grüße
Vera-Lena
 



 
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