Unordnung und spätes Leid

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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Am Freitag Morgen wachte Werner mit dem Gedanken auf, dass er heute endlich etwas Konkretes vorhatte: Die Konfirmation seiner jüngsten Enkelin fand statt. Er würde zu seiner Tochter nach Hamburg reisen und eine Nacht dort bleiben. Er freute sich, die Familie nach längerer Zeit wieder zu sehen. Die Schwiegereltern seiner Tochter, Gusti und Hans, würden ebenfalls da sein. Auch sie hatte er bereits seit einem halben Jahr nicht mehr getroffen. Unsere Konkurrenten, hatte seine verstorbene Frau immer scherzhaft gesagt und er fand das gar nicht so unpassend. Verbunden durch ein gemeinsame Enkelkinder mit eigentlich völlig Fremden! Aber, schalt er sich in Gedanken, schließlich kannten sie sich jetzt schon seit Jahrzehnten und sahen sich wohltuend selten, um ernsthafte Rivalität entstehen zu lassen. Außerdem mochte er Gusti sehr gern, das machte die Akzeptanz ihres vierschrötigen Gatten leichter.

Der Morgen war hell und strahlend und Werner dachte, wie schön es wäre, könnte er nun mit seiner Frau frühstücken. Diese einsamen Mahlzeiten waren für ihn das Schlimmste, oft war er versucht, ein zweites Gedeck aufzulegen, so sehr war er daran gewöhnt. Noch immer, obwohl sie bereits seit einem Jahr tot war. Aber was bedeutete schon ein Jahr gegen die Ewigkeit einer über vierzigjährigen Ehe? Nichts. Obwohl ihm die Ehejahre unendlich kurz vorkamen und das Trauerjahr unendlich lang. Und wie schmerzhaft war die Erkenntnis, dass ihm nun eine Gefährtin für die Alltagssorgen fehlte. Mit wem sollte er über die Nachbarn, über die schief stehenden Mülltonnen, über die zu hohen Benzinpreise, über die defekte Waschpulverpackung, die das Auto verschmutzt hatte, über die verrückten Weihnachtswünsche der Enkel und über die Schwierigkeiten beim Verstehen des Laptops reden? Und vor allem schimpfen? Fast schämte er sich, wenn er daran dachte, wie oft er geschimpft hatte. Und sie hatte alles engelsgleich ertragen. Erst als ihr Verlust spürbar war, merkte er, wen und was er verloren hatte. Maria, dachte er. Maria!

Es half nichts, sie hätte gewollt, dass er fröhlich, ausgeruht und gepflegt zur Konfirmation erschien, also nahm er ein Bad, rasierte sich besonders sorgfältig, stutze alle überflüssigen Haare und suchte seinen besten Anzug heraus. Anschließend packte er seine Tasche mit den notwendigen Dingen für die Übernachtung. Nach einem schnellen Frühstück und einem flüchtigen Blick in die Zeitung machte er sich auf den Weg. Er genoss die Autofahrt. Nun hatte er ein Ziel und das Fahren hatte ihm schon immer gefallen. Er warf einen Blick auf den leeren Beifahrersitz. Maria, dachte er wieder. Sie hatte immer mitgebremst, wenn er zu schnell fuhr. Was er oft tat. Also zwang er sich zu einer angemessenen Fahrweise.

Nach gut zwei Stunden Fahrt erreichte er Hamburg und das Haus seiner Tochter, die dort mit ihrem Mann und den drei Kindern lebte. Die zwei älteren Söhne studierten bereits, die so genannte „Kleine“ erlebte heute ihre Konfirmation. Als er geparkt hatte, wurde schon die Haustür aufgerissen und der baumlange älteste Enkel umarmte ihn und schien ihn fast zu erdrücken. „Opa, ich find's cool, dass du mal wieder hier bist“, rief er begeistert und Werner befreite sich schmunzelnd aus der Umarmung. Sogleich erschien der andere Enkel, ihn ebenfalls um Haupteslänge überragend und ergriff erst seine Hand und dann seine Tasche. Drinnen erwartete ihn die übrige Familie, alle schon im Festtagsstaat. Im ersten Moment sah er keinen richtig, nahm nur die Menge wahr. Seine Tochter küsste ihn sanft auf die Wangen und die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter rief ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Magen hervor. Die Enkelin rannte aufgeregt durch das Zimmer. Sein Schwiegersohn klopfte ihm auf den Rücken, ein anderer drückte seine Hand fast bis zum Zerquetschen und er sah, dass es sein „Konkurrent“ war. Hans' rotes Gesicht mit den Hängebacken erschien noch aufgeblähter als früher, sein dröhnender Bass vibrierte in seinen Ohren. „Na, altes Haus, wie steht's?“, rief er gut gelaunt und die Bezeichnung „altes Haus“ rief in Werner leichte Belustigung hervor.

„Hallo Werner, wie schön, dass wir uns mal wiedersehen“, eine melodische Stimme umschmeichelte seine Ohren und er blickte überrascht in Gustis Gesicht. Sie hatte sich ja komplett verändert! Ihr Haar schimmerte weiß, perfekt in eine kurze Form gebracht. Das frühere gefärbte Brünett war verschwunden. Ihre Augen strahlten im schmaler gewordenen Gesicht, sie musste mindestens 5 Kilogramm Körpergewicht verloren haben. „Meine Güte Gusti, ich hätte dich fast nicht erkannt, was hast DU denn mit dir gemacht?“, entfuhr es Werner und er umarmte sie und roch den schwachen Duft ihres Parfums. „Ach, ich dachte, ich stehe zu meinem Oma-Sein, außerdem tun mir die paar Pfund weniger ganz gut, ich hatte ja richtigen Möhnenspeck!“, antwortete sie lachend. Werner zuckte zusammen. Möhnenspeck? Er konnte sich einfach nicht an die Ausdrücke gewöhnen, die die Rheinländerin Gusti gebrauchte. Aber sie sah einfach umwerfend aus und die Haare in Natura standen ihr sehr gut.

Der Tag verlief in einem solchen Durcheinander, dass Werner abends im Bett gar nicht mehr wusste, was eigentlich passiert war. Die Feier in der Kirche, die Gratulationscour, das Essen im Restaurant, die angeregten Gespräche – das alles hatte ihn überfordert. So viele Menschen war er nicht gewöhnt, so viel Essen auch nicht – und schon gar nicht so viel Alkohol. Nach ein paar Gläsern Wein hatte er aufgehört und trotzdem lag er nun wach und sein Herz raste. Oder war es Gustis neues apartes Gesicht, das er oft beobachtet hatte, der Grund? An Schlafen war nicht jedenfalls nicht zu denken. Also beschloss er, sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Auf nackten Sohlen schlich er die Treppe hinunter. Im Haus rührte sich nichts. Als er mit dem Glas in der Hand in den Flur trat, sah er einen schwachen Lichtschein unter der Wohnzimmertür. Nanu, wer mochte denn dort vergessen haben, die Lampen zu löschen? Er öffnete die Tür und erblickte zu seiner grenzenlosen Verwunderung Gusti, die im Bademantel vor einem Laptop saß und konzentriert auf den Bildschirm blickte.

„Oh, kannst du auch nicht schlafen?“, fragte sie und schien nicht überrascht, ihn zu sehen. „Setz dich doch, ich habe mir einen Kamillentee gemacht und surfe hier durch das Internet!“ Werner schämte sich zuerst seines altmodischen Schlafanzuges und seiner wirr abstehenden Haare, aber er dachte, dieser Frau wird nichts Menschliches fremd sein. „Hans schnarcht zum Gotterbarmen, der hat zu viel getrunken und ich bin immer so aufgedreht nach einem Fest“, erklärte Gusti ihr nächtliches Zusammentreffen. Werner nickte zustimmend. „Mir geht es genauso“, sagte er und nippte an seinem Wasser. „Ich bin ja auch viel allein, da ist es sowieso komisch, mit so vielen ...“, ergänzte er und er sah in ihre braunen Augen. Sein Blick glitt tiefer und er bemerkte den Kragen eines gelben Nachthemdes, der vorwitzig über den Rand ihres blauen Bademantels lugte. Plötzlich stellte er sich vor, den Gürtel zu lösen und das Nachthemd in Gänze zu betrachten. Ob es Knöpfe hatte? Die er dann langsam öffnen würde....

Herrgott noch mal, dachte er entsetzt, da sitze ich hier mit der anderen Oma meiner Enkel und male mir aus, wie es wäre, sie auszuziehen! Fast fürchtete er, Gusti könne seinen Gedanken ahnen. Aber sie plauderte munter über ihren Computer-Kurs und schien seine Verwirrung nicht zu bemerken. Jetzt griff sie auch noch nach seiner Hand und drückte sie fest. „Ach Werner, du hast mir so leid getan, als Maria gestorben ist!“, sagte sie leise. Ihre Hand in seiner schien zu brennen. Werner löste sich hastig von ihr und nahm einen Schluck Wasser. „Ja, leicht war es nicht. Ist es immer noch nicht“, fügte er hinzu und dachte verzweifelt an Maria, um die Gedanken an Gustis Nachthemd zu verbannen. Das konnte doch nicht normal sein! Er liebte Maria noch immer, gleichzeitig wünschte er sich ein amouröses Abenteuer mit Gusti! Ausgerechnet mit ihr. Hans bringt mich um, dachte er plötzlich belustigt. Oder wir duellieren uns. Oder Gusti will sowieso nichts von mir!

„Ich muss wieder ins Bett. Wir sehen uns beim Frühstück!“, sagte er unvermittelt zu Gusti, um die Situation für sich zu entschärfen und erhob sich. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Sitz hier nicht zu lange, zu wenig Schlaf gibt Falten“, ergänzte er noch. Gusti blickte ihn lächelnd an. „Ach, in unserem Alter kommt es doch auf ein paar mehr nicht an!“, antwortete sie. Er beugte sich hinunter und drückte einen Kuss auf ihren Scheitel. Erschrocken über seinen Wagemut verließ er das Zimmer und legte sich wieder in das Gästebett.

Zum ersten Mal seit Marias Tod hatte er das Verlangen nach einer anderen Frau verspürt. Sehr merkwürdig. Leider war es die komplett falsche Frau. Trotzdem – gemocht hatte er Gusti ja schon immer. Doch nun war sie auch noch ausgesprochen attraktiv geworden. Nie hätte er gedacht, dass er solche Empfindungen für sie haben könnte. Vorsichtig berührte er seinen Unterleib. O ja, da regte sich durchaus noch etwas. Wegen Gusti! Sp etwas geschah doch nur im Kino! Trotzdem gab er sich seinen Träumereien hin und genoss das Spiel mit sich selbst, bis er in den Schlaf entglitt. Verzeih mir, Maria, war sein letzter Gedanke.

Der nächste Morgen zog herauf, klar und kalt, mit ihm die brutale Realität nach einer Feier. Am Frühstückstisch herrschte das übliche Chaos einer Großfamilie. Alle waren unausgeschlafen und weniger schön als am Vortag. Die Kinder maulten über einen fehlenden Käse, die Eltern gähnten unentwegt, die Alten kamen sich überflüssig vor. Werner vermied es, Gusti anzusehen, auch wenn sie ihn in ein Gespräch zu verwickeln suchte. Er hatte Angst, sie könne in seinem Gesicht lesen, was er für sie empfand und was sich in der vergangenen Nacht in ihm und in seinem Bett abgespielt hatte. Lieber würde er sich die Zunge abschneiden als ihr irgendetwas zu gestehen. Hans hatte einen Kater und war ziemlich unausstehlich. Ich nehme sie mit, dachte Werner, ich nehme Gusti mit, dann hat sie Ruhe vor diesem Kerl. Ja, wir hauen zusammen ab. Bei dem Gedanken musste er fast lachen. "Du lächelst ja, Vater!", sagte seine Tochter erstaunt. "Oh, ich..", Werner räusperte sich und biss erst einmal herzhaft in sein Brötchen, "ich dachte gerade an einen Witz, den ich letztens in der Zeitung las, aber ich glaube, ich kann ihn nicht gut erzählen", schloss er in weiser Voraussicht, um keiner Aufforderung nachkommen zu müssen.

Nein, ihm war eher zum Weinen zumute. Nichts würde sich ändern. Es gäbe keine Revolution. Er würde wieder nach Hause zurückfahren, zurück zu Maria, die noch immer so präsent war, zurück zu seinen Erinnerungen, zu seiner Einsamkeit. Gusti würde er wiedersehen, beim nächsten Fest. Liebe und Begehren. Auch im Alter Unordnung und spätes Leid.
 

Val Sidal

Mitglied
Doc,

eine sehr schöne Liebesgeschichte hast du hier vorgelegt.
Es ist sehr gekonnt und empfindsam, wie du Werner immer mit dem richtigen Abstand und Zoom beobachtest, den Leser auf seine Seite ziehst, um – wenn es soweit ist – ihn an Werners Konflikt teilhaben zu lassen.

Um Gustis Entwicklung zu zeichnen, verzichtet der Text wohltuend auf Vorträge über Wechseljahre (Gewichtszunahme, Libido-Verlust) und zeigt uns eine Frau, die zu ihrer wiederentdeckten Weiblichkeit und zum älter werden steht – sich wiedergefunden hat.

Die Ausgangssituation ist einfach erzählt: auf der Familienfeier begegnen sich zwei Menschen, die nach Verlust des jeweiligen Partners – Maria gestorben, Hans tot bei lebendigem Leibe – bereit sind, sich zu begegnen. Gusti bewusst, Werner zunächst unbewusst.

Mit bemerkenswerter Geduld führt der Text zum Höhepunkt: Die Nacht der Gelegenheit. An diesem Punkt hätte die Geschichte leicht abstürzen können. Doch der Text bleibt in der abgesteckten Spur, vergewaltigt die Realität nicht.

So kann ein Schluss gelingen, der eine sehr gelungene Geschichte krönt:
Der Leser legt den Text mit der Hoffnung weg, dass irgendwann, spätestens bei der nächsten Familienfeier, Werner und Gusti es schaffen, und es kommt zusammen, was zusammen gehört, es sei denn, das Schicksal ... – solche Happyends mag ich.

Durch Justieren von Kleinigkeiten in manchen Formulierungen und Straffungen hier und dort könnte die Dramaturgie verbessert, die Wirkung noch gesteigert werden.

Hier einige Vorschläge:

Am Freitag Morgen wachte Werner mit dem Gedanken auf, [blue][strike]dass er heute[/strike] [/blue]endlich etwas Konkretes [blue][strike]vorhatte[/strike]vor zu haben[/blue]: Die Konfirmation seiner jüngsten Enkelin [blue][strike]fand statt[/strike][/blue]. Er würde zu seiner Tochter nach Hamburg [blue][strike]reisen [/strike]fahren[/blue] und eine Nacht dort bleiben.

[blue]Er freute sich, die Familie nach längerer Zeit wieder zu sehen. Auch die Schwiegereltern seiner Tochter, Gusti und Hans, die er bereits seit einem halben Jahr nicht mehr getroffen hatte. Unsere Konkurrenten, hatte seine verstorbene Frau immer scherzhaft gesagt, und er fand das gar nicht so unpassend. [/blue]
Verbunden durch [red][strike]ein[/strike][/red] gemeinsame Enkelkinder [blue][strike]mit eigentlich[/strike], doch [/blue]völlig fremd[strike][blue]en[/blue][/strike]! [blue]Aber, [strike]schalt er sich in Gedanken, schließlich kannten[/strike] obwohl sie sich jetzt schon seit Jahrzehnten kannten,[strike]und[/strike] sahen sie sich [strike]wohltuend[/strike] zu selten, um ernsthafte Rivalität entstehen zu lassen. [/blue]Außerdem mochte er Gusti sehr gern[blue].[strike], d[/strike]Deswegen konnte er ihren vierschrötigen Gatten leichter ertragen[/blue].
-- in diese Richtung denke ich.

Wenn meine Vorschläge nicht hilfreich sind, dann - Pardon.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Am Freitag Morgen wachte Werner mit dem Gedanken auf, endlich etwas Konkretes vorzuhaben: Die Konfirmation seiner jüngsten Enkelin. Er würde zu seiner Tochter nach Hamburg reisen und eine Nacht dort bleiben. Er freute sich, die Familie nach längerer Zeit wieder zu sehen. Auch die Schwiegereltern seiner Tochter, die er bereits seit einem halben Jahr nicht mehr getroffen hatte. Unsere Konkurrenten, hatte seine verstorbene Frau immer scherzhaft gesagt und er fand das gar nicht so unpassend. Verbunden durch gemeinsame Enkelkinder mit eigentlich völlig Fremden! Aber, schalt er sich in Gedanken, schließlich kannten sie sich jetzt schon seit Jahrzehnten und sahen sich zu selten, um ernsthafte Rivalität entstehen zu lassen. Außerdem mochte er Gusti sehr gern, deswegen konnte er ihren vierschrötigen Gatten leichter ertragen.

Der Morgen war hell und strahlend und Werner dachte, wie schön es wäre, könnte er nun mit seiner Frau frühstücken. Diese einsamen Mahlzeiten waren für ihn das Schlimmste, oft war er versucht, ein zweites Gedeck aufzulegen, so sehr war er daran gewöhnt. Noch immer, obwohl sie bereits seit einem Jahr tot war. Aber was bedeutete schon ein Jahr gegen die Ewigkeit einer über vierzigjährigen Ehe? Nichts. Obwohl ihm die Ehejahre unendlich kurz vorkamen und das Trauerjahr unendlich lang. Und wie schmerzhaft war die Erkenntnis, dass ihm nun eine Gefährtin für die Alltagssorgen fehlte. Mit wem sollte er über die Nachbarn, über die schief stehenden Mülltonnen, über die zu hohen Benzinpreise, über die defekte Waschpulverpackung, die das Auto verschmutzt hatte, über die verrückten Weihnachtswünsche der Enkel und über die Schwierigkeiten beim Verstehen des Laptops reden? Und vor allem schimpfen? Fast schämte er sich, wenn er daran dachte, wie oft er geschimpft hatte. Und sie hatte alles engelsgleich ertragen. Erst als ihr Verlust spürbar war, merkte er, wen und was er verloren hatte. Maria, dachte er. Maria!

Es half nichts, sie hätte gewollt, dass er fröhlich, ausgeruht und gepflegt zur Konfirmation erschien, also nahm er ein Bad, rasierte sich besonders sorgfältig, stutze alle überflüssigen Haare und suchte seinen besten Anzug heraus. Anschließend packte er seine Tasche mit den notwendigen Dingen für die Übernachtung. Nach einem schnellen Frühstück und einem flüchtigen Blick in die Zeitung machte er sich auf den Weg. Er genoss die Autofahrt. Nun hatte er ein Ziel und das Fahren hatte ihm schon immer gefallen. Er warf einen Blick auf den leeren Beifahrersitz. Maria, dachte er wieder. Sie hatte immer mitgebremst, wenn er zu schnell fuhr. Was er oft tat. Also zwang er sich zu einer angemessenen Fahrweise.

Nach gut zwei Stunden Fahrt erreichte er Hamburg und das Haus seiner Tochter, die dort mit ihrem Mann und den drei Kindern lebte. Die zwei älteren Söhne studierten bereits, die so genannte „Kleine“ erlebte heute ihre Konfirmation. Als er geparkt hatte, wurde schon die Haustür aufgerissen und der baumlange älteste Enkel umarmte ihn und schien ihn fast zu erdrücken. „Opa, ich find's cool, dass du mal wieder hier bist“, rief er begeistert und Werner befreite sich schmunzelnd aus der Umarmung. Sogleich erschien der andere Enkel, ihn ebenfalls um Haupteslänge überragend und ergriff erst seine Hand und dann seine Tasche. Drinnen erwartete ihn die übrige Familie, alle schon im Festtagsstaat. Im ersten Moment sah er keinen richtig, nahm nur die Menge wahr. Seine Tochter küsste ihn sanft auf die Wangen und die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter rief ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Magen hervor. Die Enkelin rannte aufgeregt durch das Zimmer. Sein Schwiegersohn klopfte ihm auf den Rücken, ein anderer drückte seine Hand fast bis zum Zerquetschen und er sah, dass es sein „Konkurrent“ war. Hans' rotes Gesicht mit den Hängebacken erschien noch aufgeblähter als früher, sein dröhnender Bass vibrierte in seinen Ohren. „Na, altes Haus, wie steht's?“, rief er gut gelaunt und die Bezeichnung „altes Haus“ rief in Werner leichte Belustigung hervor.

„Hallo Werner, wie schön, dass wir uns mal wiedersehen“, eine melodische Stimme umschmeichelte seine Ohren und er blickte überrascht in Gustis Gesicht. Sie hatte sich ja komplett verändert! Ihr Haar schimmerte weiß, perfekt in eine kurze Form gebracht. Das frühere gefärbte Brünett war verschwunden. Ihre Augen strahlten im schmaler gewordenen Gesicht, sie musste mindestens 5 Kilogramm Körpergewicht verloren haben. „Meine Güte Gusti, ich hätte dich fast nicht erkannt, was hast DU denn mit dir gemacht?“, entfuhr es Werner und er umarmte sie und roch den schwachen Duft ihres Parfums. „Ach, ich dachte, ich stehe zu meinem Oma-Sein, außerdem tun mir die paar Pfund weniger ganz gut, ich hatte ja richtigen Möhnenspeck!“, antwortete sie lachend. Werner zuckte zusammen. Möhnenspeck? Er konnte sich einfach nicht an die Ausdrücke gewöhnen, die die Rheinländerin Gusti gebrauchte. Aber sie sah einfach umwerfend aus und die Haare in Natura standen ihr sehr gut.

Der Tag verlief in einem solchen Durcheinander, dass Werner abends im Bett gar nicht mehr wusste, was eigentlich passiert war. Die Feier in der Kirche, die Gratulationscour, das Essen im Restaurant, die angeregten Gespräche – das alles hatte ihn überfordert. So viele Menschen war er nicht gewöhnt, so viel Essen auch nicht – und schon gar nicht so viel Alkohol. Nach ein paar Gläsern Wein hatte er aufgehört und trotzdem lag er nun wach und sein Herz raste. Oder war es Gustis neues apartes Gesicht, das er oft beobachtet hatte, der Grund? An Schlafen war nicht jedenfalls nicht zu denken. Also beschloss er, sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Auf nackten Sohlen schlich er die Treppe hinunter. Im Haus rührte sich nichts. Als er mit dem Glas in der Hand in den Flur trat, sah er einen schwachen Lichtschein unter der Wohnzimmertür. Nanu, wer mochte denn dort vergessen haben, die Lampen zu löschen? Er öffnete die Tür und erblickte zu seiner grenzenlosen Verwunderung Gusti, die im Bademantel vor einem Laptop saß und konzentriert auf den Bildschirm blickte.

„Oh, kannst du auch nicht schlafen?“, fragte sie und schien nicht überrascht, ihn zu sehen. „Setz dich doch, ich habe mir einen Kamillentee gemacht und surfe hier durch das Internet!“ Werner schämte sich zuerst seines altmodischen Schlafanzuges und seiner wirr abstehenden Haare, aber er dachte, dieser Frau wird nichts Menschliches fremd sein. „Hans schnarcht zum Gotterbarmen, der hat zu viel getrunken und ich bin immer so aufgedreht nach einem Fest“, erklärte Gusti ihr nächtliches Zusammentreffen. Werner nickte zustimmend. „Mir geht es genauso“, sagte er und nippte an seinem Wasser. „Ich bin ja auch viel allein, da ist es sowieso komisch, mit so vielen ...“, ergänzte er und er sah in ihre braunen Augen. Sein Blick glitt tiefer und er bemerkte den Kragen eines gelben Nachthemdes, der vorwitzig über den Rand ihres blauen Bademantels lugte. Plötzlich stellte er sich vor, den Gürtel zu lösen und das Nachthemd in Gänze zu betrachten. Ob es Knöpfe hatte? Die er dann langsam öffnen würde....

Herrgott noch mal, dachte er entsetzt, da sitze ich hier mit der anderen Oma meiner Enkel und male mir aus, wie es wäre, sie auszuziehen! Fast fürchtete er, Gusti könne seinen Gedanken ahnen. Aber sie plauderte munter über ihren Computer-Kurs und schien seine Verwirrung nicht zu bemerken. Jetzt griff sie auch noch nach seiner Hand und drückte sie fest. „Ach Werner, du hast mir so leid getan, als Maria gestorben ist!“, sagte sie leise. Ihre Hand in seiner schien zu brennen. Werner löste sich hastig von ihr und nahm einen Schluck Wasser. „Ja, leicht war es nicht. Ist es immer noch nicht“, fügte er hinzu und dachte verzweifelt an Maria, um die Gedanken an Gustis Nachthemd zu verbannen. Das konnte doch nicht normal sein! Er liebte Maria noch immer, gleichzeitig wünschte er sich ein amouröses Abenteuer mit Gusti! Ausgerechnet mit ihr. Hans bringt mich um, dachte er plötzlich belustigt. Oder wir duellieren uns. Oder Gusti will sowieso nichts von mir!

„Ich muss wieder ins Bett. Wir sehen uns beim Frühstück!“, sagte er unvermittelt zu Gusti, um die Situation für sich zu entschärfen und erhob sich. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Sitz hier nicht zu lange, zu wenig Schlaf gibt Falten“, ergänzte er noch. Gusti blickte ihn lächelnd an. „Ach, in unserem Alter kommt es doch auf ein paar mehr nicht an!“, antwortete sie. Er beugte sich hinunter und drückte einen Kuss auf ihren Scheitel. Erschrocken über seinen Wagemut verließ er das Zimmer und legte sich wieder in das Gästebett.

Zum ersten Mal seit Marias Tod hatte er das Verlangen nach einer anderen Frau verspürt. Sehr merkwürdig. Leider war es die komplett falsche Frau. Trotzdem – gemocht hatte er Gusti ja schon immer. Doch nun war sie auch noch ausgesprochen attraktiv geworden. Nie hätte er gedacht, dass er solche Empfindungen für sie haben könnte. Vorsichtig berührte er seinen Unterleib. O ja, da regte sich durchaus noch etwas. Wegen Gusti! Sp etwas geschah doch nur im Kino! Trotzdem gab er sich seinen Träumereien hin und genoss das Spiel mit sich selbst, bis er in den Schlaf entglitt. Verzeih mir, Maria, war sein letzter Gedanke.

Der nächste Morgen zog herauf, klar und kalt, mit ihm die brutale Realität nach einer Feier. Am Frühstückstisch herrschte das übliche Chaos einer Großfamilie. Alle waren unausgeschlafen und weniger schön als am Vortag. Die Kinder maulten über einen fehlenden Käse, die Eltern gähnten unentwegt, die Alten kamen sich überflüssig vor. Werner vermied es, Gusti anzusehen, auch wenn sie ihn in ein Gespräch zu verwickeln suchte. Er hatte Angst, sie könne in seinem Gesicht lesen, was er für sie empfand und was sich in der vergangenen Nacht in ihm und in seinem Bett abgespielt hatte. Lieber würde er sich die Zunge abschneiden als ihr irgendetwas zu gestehen. Hans hatte einen Kater und war ziemlich unausstehlich. Ich nehme sie mit, dachte Werner, ich nehme Gusti mit, dann hat sie Ruhe vor diesem Kerl. Ja, wir hauen zusammen ab. Bei dem Gedanken musste er fast lachen. "Du lächelst ja, Vater!", sagte seine Tochter erstaunt. "Oh, ich..", Werner räusperte sich und biss erst einmal herzhaft in sein Brötchen, "ich dachte gerade an einen Witz, den ich letztens in der Zeitung las, aber ich glaube, ich kann ihn nicht gut erzählen", schloss er in weiser Voraussicht, um keiner Aufforderung nachkommen zu müssen.

Nein, ihm war eher zum Weinen zumute. Nichts würde sich ändern. Es gäbe keine Revolution. Er würde wieder nach Hause zurückfahren, zurück zu Maria, die noch immer so präsent war, zurück zu seinen Erinnerungen, zu seiner Einsamkeit. Gusti würde er wiedersehen, beim nächsten Fest. Liebe und Begehren. Auch im Alter Unordnung und spätes Leid.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Val, vielen Dank, dass Du Dich so ausgiebig mit dem Text beschäftigt hast. Freut mich, dass er Dir gefällt und Deine Straffungsvorschläge habe ich weitgehend übernommen.

Du hast fast alles richtig verstanden. ;-) In erster Linie geht es um einen einsamen Witwer, der eine völlig überraschende Liebesgeschichte erlebt - ausgerechnet mit der anderen Oma seiner Enkel. Ich denke, das ist ein Tabu. Jedenfalls habe ich in der Realität noch nie von einem derartigen Fall gehört.
Aber der Leser erfährt nichts über Gustis Gefühle und was in ihr vorgeht. Bewusst habe ich immer nur "schien" geschrieben, weil sowohl Werner als auch der Leser im Unklaren bleiben sollen. Die Geschichte ist ja nur aus Werners Sicht geschildert.

Es gibt kein Happy-End, richtig, das wäre viel zu billig gewesen. Der Schluss ist eher traurig, Werner findet sich mit der Realität ab und weiß, er wird Gusti nur auf der nächsten Feier wiedersehen - passieren wird nichts. So sehe ich das. Die Konsequenzen einer solchen Tat wären für beide nicht zu schaffen. Im Angesicht der Kinder und Enkel und des noch lebenden Hans. Vor allen Dingen weiß er ja gar nicht, ob sie überhaupt etwas für ihn empfindet. Die Signale waren nicht eindeutig....

So dachte ich das Ganze. Nichtsdestotrotz kann der Leser seine Fantasie natürlich spielen und es anders geschehen lassen.
Für Werner gibt es nur einen kleinen Hoffnungsschimmer: Er kann neue Gefühle zulassen, es kann nochmal eine Frau geben, wenn er Maria den Platz gibt, der ihr zusteht, und sich dann auf etwas anderes einlässt.

Nochmals danke, dass Du das Schätzchen mit einem Kommentar bedacht hast.

LG Doc
 

Val Sidal

Mitglied
Doc,

Aber der Leser erfährt nichts über Gustis Gefühle und was in ihr vorgeht. Bewusst habe ich immer nur "schien" geschrieben, weil sowohl Werner als auch der Leser im Unklaren bleiben sollen.
-- dem möchte folgendes Bild aus der "Nacht der Gelegenheiten" gegenüber stellen:
Jetzt griff sie auch noch nach seiner Hand und drückte sie fest. „Ach Werner, du hast mir so leid getan, als Maria gestorben ist!“, sagte sie leise. Ihre Hand in seiner schien zu brennen.
-- auch Rheinländerinnen können Tabu-Bruch begehen - habe ich mir sagen lassen ...
Die Geschichte ist ja nur aus Werners Sicht geschildert.
-- das finde ich gerade so geschickt gelöst. Als Leser denkt man: Bist du blind Werner? Sie ist bereit! Ob daraus was wird (wg. Tabu und so) -- das ist eine andere Sache. Aber erkenne, dass sie dich mag!

Es gibt kein Happy-End, richtig, das wäre viel zu billig gewesen. Der Schluss ist eher traurig, Werner findet sich mit der Realität ab und weiß, er wird Gusti nur auf der nächsten Feier wiedersehen - passieren wird nichts.
-- es sei denn, Hans gibt den Löffel ab, oder Gusti lässt sich scheiden, oder ...
Für Werner gibt es nur einen kleinen Hoffnungsschimmer: Er kann neue Gefühle zulassen, es kann nochmal eine Frau geben, wenn er Maria den Platz gibt, der ihr zusteht, und sich dann auf etwas anderes einlässt.
oder, oder ...

Ob das Glas des Lesers halb voll oder halb leer ist, na ja, ein Ende kann vielschichtig offen sein. Jedenfalls finde ich deine Lösung sehr gelungen.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ja Val, so kann man den Text auch lesen und verstehen: Gusti sendet Signale! (Oder nicht?!?) Ich freue mich aber sehr, dass Du meine Lösung gut findest und dass der Text viele Gedankengänge auslöst. Jeder kann eine Fortsetzung im Kopf schreiben. (Hans stirbt - die Karten werden neu gemischt...)

LG Doc
 
U

USch

Gast
Hallo Val, hallo Doc,
so ist Textarbeit konstruktiv und erhellend. Schön, wenn es so gut läuft und eine so runde Geschichte dabei herauskommt. Kommt leider viel zu wenig vor in der LL. Vielleicht verändert unsere intensive Diskussion in Lupanien ja etwas.
LG USch
 
U

USch

Gast
P.S.: ich habe den Text vor einiger Zeit schon anonym bewertet, heute würde ich eine offene 9 geben. Geht aber nicht mehr.
LG
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo USch, so ist es: Textarbeit jenseits aller menschlichen Mauscheleien. Vielen Dank für die anonyme 8 und die nicht mehr mögliche 9.
Es wundert mich nur, dass niemand eine Assoziation zum Titel hat. Da hat mich ein echter Schriftsteller inspiriert - er ist - im Gegensatz zu uns - richtig bekannt. ;-)
LG Doc
 



 
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