Unschuldig

4,00 Stern(e) 3 Bewertungen
Unschuldig

Der große Zeiger der Uhr in ihrem sterilen Arbeitszimmer ähnelt dem der verdammten Straßenbahnhofsuhr.
Er verspricht seinem kleinen Bruder, ihn in wenigen Sekunden zum einhunderteinundsiebzigsten Mal zur Begrüßung zu küssen.
Ich erinnere mich, dass ich früher ebenfalls nur allzu gerne mit Küsschen um mich warf.
Wenn er bloß an meinem vorletzten Tag nicht aufgibt, denke ich.
Nein, er enttäuscht mich auch diesmal nicht. Selbst heute tut er mir den Gefallen und bleibt nicht stehen. Es ist Punkt Zwölf.
Irgendwie ist auf Uhren halt Verlass.
"Highnoon", lächelt die ganz in Weiß gekleidete Psychologin mir freundlich zu.
"Highnoon", antworte ich artig.
Was soll´s? Ich bin ihr trotz der unangenehmen Fragen nicht böse. Ihr Auftrag lautet, mein Wesen zu erkunden.
Manchmal, in all´ den vielen Wochen spiegelte sich in ihren schwarzen Augen ein trauriges Bild. Meins!
Der große Zeiger der Uhr hat längst an Fahrt gewonnen, seinen mickrigen Verwandten auch heute wieder einmal um Runden überholt, als sie zum Abschied den roten Knopf gleich neben dem PC drückt.
Bin ich gefährlich, oder soll ich das Ganze nur vergessen?
"Bis morgen, Herr Weiser", verabschiedet sie mich.
"Ach, eine Bitte habe ich noch", becirce ich die Schöne. "Ich bin müde, möchte morgen einmal richtig ausschlafen, so bis mittags um Zwölf."
"Klar, ist gebont", freut sich die junge Frau, der Uni vor ziemlich einem Jahr entwachsen, jetzt einen Erfolgsvermerk ins schwarze Buch eintragend.

Der beinahe zwei Meter große Pfleger holt mich ab. Er führt mich zum Zimmer 217. Mein Zuhause seit mittlerweile einhunderteinundsiebzig Tagen.
Auf dem Flur kann man schon das Klappern des Geschirrs fürs Abendbrot hören.
Fred, der Riese, versucht mir die Schlaftablette unter die Zunge zu schieben.
"Schlucken", bestimmt er.
Braucht er gar nicht. Heute nämlich hole ich die gesammelten Werke hervor. Einhunderteinundsiebzig sind es. Ich denke, das reicht.
Morgen also darf ich bis mittags schlafen, nie mehr einen Termin bei der hübschen Psychologin wahrnehmen.

"Na, was hat er denn ausgefressen?", höre ich noch durch Nebelwände den Notarzt fragen.

"Ein fünffacher Familienvater hat sich vor "seine" Straßenbahn geworfen. Punkt Zwölf, vor einhunderteinundsiebzig, nein, auf die Sekunde genau einhundertzweiundsiebzig Tagen. Weiser hat den armen Kerl überfahren. Damit wurde er nicht fertig", gibt ihm mein Bettnachbar Auskunft.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nach

meiner meinung ist das exitus am ende völlig überflüssig, es schadet der geschichte eher. ansonsten - gut gemacht!
lg
 
Warum kein Exitus?

Liebe flammarion,

vielen Dank für deinen Kommentar. Nun quält mich aber eine Frage: Weshalb empfindest du den "Exitus" am Ende als völlig überflüssig? Eigentlich schwirrte mir dieses Wort schon tagelang im Kopf herum. Die Geschichte ist quasi aus dieser Wurzel entstanden. Ich bin gespannt auf deine Antwort.

LG
GFÜ
 

maerchenhexe

Mitglied
Lieber GFÜ

Bin gerade auf deine Geschichte gestoßen und muss mich flammarion anschließen. In deiner Geschichte arbeitest du doch ganz klar den bevorstehenden Existus heraus,du beschreibst doch genau, auf welche Art Herr Weiser sich aus dem Leben schleichen will, weil durch ihn jemand zu Tode gekommen ist. Er verzweifelt daran und ist deshalb ja auch in der Psychatrie. Deine Geschichte ist meiner Meinung nach so gut geschieben, dass jeder Leser versteht, was abgeht. Also von daher würde ich das Wort Exitus auf jeden Fall streichen.

lg
maerchenhexe
 

maerchenhexe

Mitglied
ach so

hattest du das gemeint. Aber ohne deine Erklärung hätte ich den Zusammenhang so nicht gesehen. Ansonsten finde ich deinen Text wirklich prima.

lieber Gruß

maerchenhexe
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

dann musst du das noch anfügen, dass das das letzte ist, was er hört. finde ich aber dennoch überflüssig. es köpft die geschichte, schwächt sie ab.
lg
 

knychen

Mitglied
hallo GeisterFahrerÜberholer,
mal davon abgesehen, daß ich über das highnoon mit direkt anschließendem geklapper des abendgeschirrs (auch wenn da ein deutlicher absatz ist) gestolpert bin, finde ich dieses ständige "171" verwirrend. denn es handelt sich ja um eine uhr mit zeigern und die treffen sich an einem tag 24 mal. oder - wenn du wert darauf legst, daß es sich um das treffen auf der zwölf handelt - zweimal pro tag. wohl nur eine frage der formulierung, um klar zu machen, wie du es meinst.
die schuldgedanken - ob berechtigt oder nicht - die hätten mich interessiert.
gruß von unterwegs.
knychen
 
Hallo knychen,

das Geklapper des Abendbrotgeschirrs (in Landeskrankenhäusern um ca. 17.00Uhr) vernahm der Mann erst nach dem stundenlangen Gespräch mit der jungen Psychologin.

Seit 171 Tagen hielt sich der Suzidgefährdete in der geschlossenen Abteilung einer dieser Institutionen auf.
Die Tatsache, dass Weiser nicht die Schuld am Unfall trug, bei dem der fünffache Familienvater ums Leben kam und auch die Therapie, die versuchte, ihn von seiner Unschuld zu überzeugen, nutzten dem einstmaligen Straßenbahnführer nichts.
Er konnte der Bilder im Kopf und der verdammten Schuldgefühle, die ihn seitdem quälten, nicht Herr werden. Nichts und niemand brachte ihn von der Meinung ab, dass er die Verantwortung für das Geschehene hatte.

Das passiert in solchen Fällen beinahe immer. Oft können auch Eisenbahner (übrigens auch Brummifahrer), denen so etwas Schlimmes widerfährt, nie mehr ihren Dienst tun.
Selbst wenn feststeht, dass der Getötete Selbstmord begangen hat, fühlen sie sich weiterhin schuldig. Das haben meine Recherchen zu der kleinen Geschichte ergeben.
Warum dies so ist, weiß bis heute niemand.

Im Falle meines Protagonisten endete das Geschehene nun einmal für ihn tödlich. Er sah keinen anderen Ausweg.

LG
GFÜ
 
Jawoll, jetzt stimmt´s!

Liebe maerchenhexe,

das finde ich auch.

Danke für dein und flammarions freundliches "Stupsen". Manchmal ist man als Autor einer Geschichte echt "betriebsblind" :))

LG
GFÜ
 

Ripley

Mitglied
Für mich funktioniert die Geschichte nicht besonders gut. Deine Absicht bleibt hinter einem Berg von Symbolen (die Uhr, 12 Uhr mittags, die 172 - wobei letzteres bis zum Ende schleierhaft bleibt in seiner Bedeutung) verborgen.

Ich habe - entschuldige, wenn ich das so offen sage - den Verdacht, dass Du ein Thema sehr interessant fandest und versucht hast, Dich auch über Recherche damit auseinanderzusetzen - einen richtigen emotionalen Zugang hast Du aber nicht gefunden, und das mündet dann auch in Deinem erklärenden Nachsatz
Warum dies so ist, weiß bis heute niemand.
Auch ich als Leser finde keinen emotionalen Zugang zu dem Protagonisten und seiner Geschichte. Ich ärgere mich eher über das Setting:

Vor 172 Tagen ist das Unglück also passiert und genauso lange sitzt er schon in einer Nervenheilanstalt? Und genauso lange bekommt er als akut Selbstmordgefährdeter jeden Tag eine Schlaftablette, scheinbar ohne dass kontrolliert wird, was er damit macht (in manch einem normalen Internat finden jeden Tag Zimmerinspektionen statt, um Drogen etc. zu finden - von JVAs mal ganz zu schweigen.)?
 

Ripley

Mitglied
Ergänzung

Nach genauerem Nachdenken bekommt die Geschichte durch diese Symbolbefrachtung noch eine ganz andere, ungewollt... komische Dimension:

Die Figur der Psychologin spielt darin die Hauptrolle! Ist es nicht einfach großartig, einen Mann, der vor x Tagen um 12 Uhr mittags jemanden zu Tode gefahren hat, mit den Worte "High Noon" zu begrüßen?! Wie gerne werde ich da an den entsprechenden Western erinnert...
Diese Dame würde die Sitzung mit jemandem, der ein Kind überfahren hat, vermutlich mit folgenden fröhlich-heiteren Worten beginnen: "Ach... ich muss ihnen unbedingt erzählen, was meine kleine Lucy heute morgen wieder angestellt hat! Sie ist so SÜß, ich bin immer so DANKBAR, dass ich sie habe!!"

Ähnlich der Arzt, der sich nach dem "Ausgefressenen" erkundigt: Stark! Da hat man dann echt Vertrauen als Patient, wenn einem derselbe Minuten später versichert, man trage an den tragischen Ereignissen keine Schuld... Ich merke: Vielleicht kommst Du Deiner Frage nach dem "Warum" so gewollt oder ungewollt ein Stückchen näher...
 
Anders als all´ die anderen?

Hi ripley,

unser gemeinsames Thema finde ich immer noch mehr als interessant.

Ich habe bei meinen Recherchen, die meine kleine Geschichte betreffen, Erfahrungen mancher Therapeut(inn)en sammeln müssen, die keineswegs ein Plus auf deren Habenseite bezüglich ihrer Vorgehensweise, psychisch Kranke betreffend, aufwiesen.

Tut mir schrecklich Leid, dir nichts anderes berichten zu können.
Mag sein, dass du im Verlauf deiner Tätigkeit Besseres zu tun und dabei alles zum Guten ändern zu wollen, erfolgreich sein wirst. Das überzeugt mich aber in deinem Kommentar nicht.

Der Dienst an einem leidenden Menschen beginnt nun einmal nicht mit einer Kaffeepause um elf und endet auch nicht, spätestens um fünf Uhr nachmittags, mit einer solchen.

´tschuldigung, mag sein, dass du anders als all´ die anderen bist, trotzdem...

Gruß
GFÜ
 

Ripley

Mitglied
Ich habe fast befürchtet, dass Du so reagierst.

Nunja... muss mich in diesem Forum wohl noch in den Tonfall einarbeiten, der angebracht ist, wenn man Kritik üben möchte. Die Reflexe der Autoren sind irgendwie überall gleich...
 
Warum so bissig?

Liebe Ripley,
nimm es doch bitte nicht persönlich. Nur weil du selbst eine Psychologin bist, ändert das nichts an den Gegebenheiten, die nun einmal in den LKHs gang und gäbe sind. Das Desinteresse am Wohl und Wehe der Patienten ist der Status quo. Glaube mir, ich wäre der Erste, der sich freuen würde, wenn Verbesserungen einträten.
Nichts für ungut.

LG
GFÜ
 

Ripley

Mitglied
Ich denke, wir reden in diesem Punkt aneinander vorbei.

Ich versuche mal, das zu klären: Du sagst also - so fasse ich das auf - dass es Deine Absicht war, in dem Text diese Umgangsform aufzugreifen. Da sage ich : Aha! Das führt uns doch weiter! Wenn Du das wolltest und der Tonfall nicht, wie ich dann zu unrecht unterstellt habe, unfreiwillig hineingeflossen ist, muss ich einen Teil meiner Kritik revidieren.

Dann sage ich aber: Es ist mir nicht scharf genug. Dann "plätschert" es mir zuviel, vor allem die nette Reaktion des Ichs
"Highnoon", antworte ich artig.
Was soll´s? Ich bin ihr trotz der unangenehmen Fragen nicht böse. Ihr Auftrag lautet, mein Wesen zu erkunden.
Wenn Du in diesem Text bei einem Selbstmord enden willst, dann ist mir das

a) zu reflektiert für jemanden, der - ich nehme mal an, das willst Du darstellen - mit seiner Umgebung und sich selbst abgeschlossen hat

b) zu gleichgültig für jemanden, der sich eventuell aus Verzweiflung umbringt oder sogar aus Wut, weil er in seiner Umgebung eben keinen Ansprechpartner mehr findet - sich alleine, verlassen fühlt.

Ich nehme Sachen übrigens schon lange nicht mehr persönlich, die sich in einem Internet-Forum abspielen ;)
 



 
Oben Unten