Unschuldsnacht

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Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Unschuldsnacht
Franz saß in der Dachstube und arbeitete. Es war tief in der Nacht, doch dies war für Franz nicht ungewöhnlich, denn in der Nacht, wenn alles um ihn herum still war, tobten in seinem Kopf die Gedanken am heftigsten und er brauchte sie nur auf das Papier fließen lassen. Hin und wieder gönnte er es sich, im Hintergrund klassische Musik laufen zu lassen, doch heute war ihm nicht danach gewesen. Er nippte an seinem Tee und genoß den wärmenden Schauer, den die heiße Flüssigkeit in seinem Inneren auslöste, denn um ihn war es recht kalt. Man sagte, dies sei einer der kältesten Winter des Jahrhunderts oder sogar einer der kältesten Winter überhaupt. Franz stand, den Gedanken an den Winter verklingen lassend, auf und ging zum schrägen Dachfenster, um einen Blick auf die weiße Stille zu werfen und sich an dem Glitzern der Schneekristalle in der klaren Luft unter der Straßenlaterne zu erfreuen. Es schneite schon seit Stunden und die ganze Straße war weiße Unschuld. Kein Fußabdruck, keine Wagenspur, nichts durchbrach die perfekte Fläche, unter der man nur noch mit Mühe den Bürgersteig von der Fahrbahn unterscheiden konnte. Franz lächelte in zufriedener Einsamkeit und sein warmer Atem schlug sich auf der Scheibe nieder. Er kehrte zurück zu seinem Tisch und nahm seine Arbeit wieder auf.
Franz hatte gerade einen neuen Absatz begonnen, als ein Geräusch ihn aufhorchen ließ. Es war wie ein giftiges Murmeln, wie das vielstimmige Schwirren über einem Marktplatz. Franz sah auf seine Uhr, kurz nach drei. Er schüttelte den Kopf, als sei das Geräusch ein Insekt, daß sich auf seinen Kopf gesetzt hatte und das er so verscheuchen konnte. Er setzte an, einen neuen Satz zu schreiben, doch das Geräusch hob wieder an. Jetzt hörte Franz es deutlicher. Es war vielstimmig, aber nicht wie das Sirren einer geschäftigen Marktszene, sondern mit aggressiven Spitzen, scharfen Zischlauten und einschüchterndem Grollen. Franz hielt inne und konzentrierte sich ganz auf das unheimliche Geräusch. Er konnte nun unterscheiden zwischen Gekreisch und wütenden, unbestimmten Verwünschungen und Drohungen. Aufgescheucht kramte Franz in seinem Fundus von Erinnerungen, Ideen und Assoziationen; er kannte diese Geräuschkulisse, er wußte nur noch nicht woher. Dann, als hätte er eine richtige Türe geöffnet oder eine dicke Staubschicht von einem Etikett gewischt, war plötzlich alles klar: es waren die Geräusche eines Mobs, einer Menschenmenge, die in die Nacht hinausgegangen war, um ein Monster zu vertreiben, einen Menschen zu lynchen, eine Hexe zu verbrennen. Es waren die Stimmen kollektiver Hysterie.
Franz sah erneut auf die Uhr, dreiuhrachtundzwanzig. Franz rieb sich die Augen und hielt dann seine Handflächen fest auf seine Ohren gepreßt; plötzlich rieß er sie wieder weg und das Toben in der Straße war nun zu einem Lärm angeschwollen und schien direkt vor dem Haus zu hocken. Franz ging zum Fenster und blickte hinab. So wie er es schon in seinem Kopf gesehen hatte, stand die Menge auf der Straße, schreiend, Fäuste schüttelnd, ausspuckend. Ihre Füße hatten den Schnee zertrampelt und das glänzende weiß war unter einem bunten Haufen von Kleidern und Gesichtern begraben. Auch jetzt war die Fahrbahn nicht vom Bürgersteig zu unterscheiden, denn die Masse war so groß, daß sie über beides hinwegwogte. Franz fragte sich, wem dieser Aufruhr wohl galt, als ein schwerer Stein, mit Wucht und Wut in den Himmel geschleudert, die Scheibe neben ihm durchschlug und, einen Schleier eisiger Luft nach sich ziehend, mitten im Raum auf dem Boden aufschlug. Franz durchzuckte ein enormer Schreck und er schrie überrascht und entsetzt auf. Mit einem mal waren die Stimmen noch lauter: "Komm raus oder wir holen dich!"
Franz war wie vor den Kopf gestoßen, er zitterte am ganzen Körper und schüttelte wie automatisch immer wieder den Kopf: "Wahnsinn, das ist doch Wahnsinn.", stammelte er ohne recht zu wissen, was er da sagte. Auf seinem Schreibtisch flatterten Papiere im Winternachtswind, hoben dann, Blatt für Blatt, ab und glitten lautlos durch die Luft, verteilten sich über dem Boden und segelten durch das offene Treppenhaus nach unten. Franz durchruckte die Kontrolle über seinen Körper, die er wiedergefunden hatte, als er seine Arbeit entschwinden sah. Er stürzte die hölzernen Treppen hinab, schlang sich im Flur einen Mantel um den Leib und rannte dann in seinen Hausschuhen auf die Straße.
Franz stürmte in die Menschentraube, die sich vor ihm öffnete und hinter ihm wieder schloß, so daß er genau in ihrer Mitte nicht mehr vor und nicht mehr zurück konnte. Noch vor dem ersten klärenden Wort, daß er sprechen konnte, fühlte er ein Hagel von Armen, Händen und Fingern auf sich niedergehen. Er fühlte sie an seinem ganzen Körper, sie rissen an seinen Kleidern und seinen Haaren, krallten sich in sein Fleisch an den Gliedmaßen, am Rumpf spürte er dumpfe Fäuste, in seinem Gesicht Fingernägel und heißen Speichel. Dann wurde ihm der Boden unter den Füßen entrissen; er wurde dem Boden entrissen. Er hing einen Meter über dem Boden, mit Rucken und Zerren bewegte er sich über dem zertretenen Schnee, sein Gesicht nach unten, seine Füße nackt, die Hausschuhe verloren. Neben sich nahm er den offenen Hosenstall an einer Männerhose wahr, doch nur den Bruchteil einer Sekunde, dann wurde er hochgerissen und er spürte den kratzigen Hanf an seinem Hals. Wie in Zeitlupe sah er das andere Ende des Seils über die Laterne fliegen, bevor er den Zug an seinem Hals spürte, der ihn in die vertikalen Lüfte zog. Alle Geräusche waren jetzt abgestellt, um ihn herum eine brodelnde Masse voller Bewegung und Energie, doch völlig lautlos und unwirklich, als letztes sah er ein zerfurchtes Männergesicht, daß zu ihm aufblickte, dann auf ihn zuschnellte, als der Alte ihm an die Beine sprang. Kurz spürte er noch das Gewicht an seinen Füßen, dann war es aus.
Hätte zwei Stunden später eine Seele aus dem Fenster des Franz geblickt, an dem er in der Nacht zufrieden einsam gestanden hatte, er hätte eine schweigende Leiche gesehen, mit bloßen Füßen und blauem Gesicht, an den Mundwinkeln gefrorener Schaum. Ganz leicht schaukelte der tote Körper zwischen den lautlosen Schneekristallen im Winterwind, durch die Stille, über einer perfekten, weißen Fläche, unter der man nur mit Mühe den Bürgersteig von der Fahrbahn unterscheiden konnte, so stark hatte es geschneit. Auch das Haupt des Toten war mit weißer Unschuld bedeckt.
(c)Frank Zimmermann

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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