Unser Haus mit Zahnrad.

„Wir leben in einem anständigen Haus. Es ist unser Haus, wir haben sehr lange und hart dafür gearbeitet und uns unsere Ruhe verdient.

Über uns, neben dem Speicher, wohnen die Schneiders. Ein nettes, älteres Ehepaar, sie leben schon sehr lange hier, viel länger als wir selbst. Ihr Schicksal hat es nicht gut mit ihnen gemeint, nach Schlaganfällen, sind beide auf Pflege angewiesen. Ihr ältester Sohn wohnt nicht in unserer schönen, sauberen Gegend und ihre Tochter kommt auch nicht oft, sie arbeiten beide sehr fleißig und haben nur wenig Zeit. So besuchen sie die beiden nur selten. Aber sie haben eine Putzfrau, einen Pflegedienst und alles ist schön ordentlich. Das ist gut so.
Neben uns wohnen die Peters, ein freundliches Pärchen, man hört und man sieht sie kaum. Sie sind extrem fleißig und strebsam und kommen immer spät von der Arbeit. Anfangs vergaß Frau Peters immer den Flur zu putzen, da gab es etwas Ärger, aber schließlich gibt es Regeln bei uns im Haus. Das hat sie verstanden und nun putzt eine Ausländerin für sie den Hausflur und auch die Wohnung, das habe ich mal gesehen. Die Ausländerin putzt wirklich ordentlich und seitdem haben wir unseren Streit darüber beigelegt.
Unter uns wohnen die Engelhardts, die hatten mal Theater mit den Kramers, die links unten wohnen. Wir haben uns da raus gehalten das ging uns wirklich nichts an.“
„Stimmt“ sagt er und nickt dabei.
„Es ist zwar unser Haus, doch wenn es uns nichts angeht, halten wir uns natürlich raus und das grundsätzlich. Wir sind ja nur die Vermieter. Wir sorgen dafür, dass keiner der Kinder oder der Hunde den gepflegten Rasen im Vorgarten beschädigt oder beschmutzt, dass der Hausflur sauber ist, dass die Miete gezahlt wird und so weiter. Es soll halt alles seine Ordnung haben. Was im Haus hinter den Türen geschieht, ist nur dann wichtig, wenn etwas beschädigt wird. Da verlangen wir auch eine ehrliche Art des Mieters.“
„Stimmt genau.“ sagt er.
„Die Kramers machten aber nichts kaputt oder schmutzig, die Kinder mussten wir noch nie vom Rasen schmeißen, die gingen erst gar nicht drauf.“
„Gut erzogene Dinger.“ sagt er und nickt wieder.
„Die ganze Familie war immer freundlich, auch heute grüßen sie noch. Immer kurz angebunden, aber immer freundlich. Wir sind heute wieder zufrieden. Irgendwie ist unser Haus wie eine Uhr für unser Leben. Gehen die Peters aus dem Haus wissen wir, es ist Zeit zum Aufstehen. Kommt der Pflegedienst für die Schneiders zum ersten mal, dann frühstücken wir, beim zweiten mal, essen wir zu Mittag. Die Engelhardts gehen immer samstags einkaufen, wir nun auch. Wir wissen dann, morgen ist die Woche fast vorbei.
Wir brauchen keine Uhr und auch keinen Kalender mehr. Das geht jetzt wieder, seitdem die Kramers ausgezogen sind.“
„Stimmt, das haben auch die anderen gesagt.“ sagt der Ehemann.
„Sie waren ein abgebrochener Zahn am Sekundenrad des Uhrwerkes.“ sagt sie, sichtlich stolz auf ihren schön formulierten Satz.
„Nun wohnen sie direkt neben uns im Nachbarhaus, wir teilen uns eine Kinderzimmerwand. Wir haben zwar keine Kinder, aber so nennen wir halt die Zimmer, die wir nicht alltäglich nutzen. Unsere Wohnungen haben nämlich alle 96 m², da können wir nicht alles ständig bewohnen. Das ist ja viel zu groß für zwei Leute. Der Vater der Kramers trank und trinkt immer noch und hat auch seine Frau und Kinder bisweilen geschlagen. Wir konnten dann manchmal nachmittags oder auch in der Nacht nicht schlafen. Der hatte ja Schichtarbeit. Nicht nur das, die Kinder liefen uns ja auch oft im Hausflur über den Weg und guckten verschämt weg. Es gibt ja genug Elend in der Welt, da braucht man im Haus schon eine Oase der Ruhe, also mindestens hier. Das brauchen wir einfach.“
„Nicht nur wir, auch die Engelhardts brauchen das.“ sagt er.
„Einmal habe ich ja hingeschaut, die hatten beide dicke Pullover an, obwohl Sommer war. Man konnte blaue Flecken auf den Fingern und dem Handrücken sehen, ich bin ja nicht neugierig, aber ich konnte gar nicht mehr weg schauen. Warum weiß ich auch nicht. Ist ja auch egal, hat ja keiner gemerkt. Jedenfalls waren wir letztendlich ganz froh, dass die Engelhardts die Sache mit den Kramers für uns erledigt hatten. Wir wissen nicht wie, aber die zogen dann irgendwann nach nebenan, in eine 60 m² Wohnung.
„Das mag eng sein,“ bemerkt er und führt weiter aus: „angeblich soll der Kramer ja schon mal einen Säugling aus erster Ehe tot geschüttelt haben.“
„Ach was.“ sagte sie: „Da wird viel erzählt, glaube nicht alles, was die Leute erzählen. Wenn sie keine Neuigkeiten mehr zu erzählen haben, dann erfinden sie welche. Als die Familie ausgezogen war, war jedenfalls Ruhe. Unsere Kinderzimmerwand ist eine Brandschutzwand mit Isolation. Da geht kein Schall durch, da hört man nichts, da ist immer Ruhe. So ruhig, wie wir uns es verdient haben.“
 

DocSchneider

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Hallo Griffelfüller, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Zuerst erinnerte mich diese Geschichte an das Lied "Ein ehrenwertes Haus" von Udo Jürgens. Im weiteren Verlauf wurde sie aber immer dramatischer und lässt den Leser nachdenklich zurück.

Bitte ein paar kleinere Fehler noch verbessern.

Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Malkah

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Hallo Griffelfüller,

ich sehe das Vermieterpaar vor mir. Das ist gut, gefällt mir an Deinem Text. Überhaupt würde mir jetzt gefallen, weiteres zu lesen – schließlich hast Du die Spannung ja schon aufgebaut. Gibt es eine Fortsetzung? Drama? Rächen sich die Kinder wegen der unterlassenen Hilfe später an den alten Nachbarn?

An ein, zwei Stellen steige ich beim Lesen aus, weil da für mich ein unerklärter Bruch in den Charakteren ist:

1.
Dort wo die Rede der Erzählenden abstrakt wird, wo Menschen und Situationen analysiert werden. Das ist insbesondere im ersten Absatz der Fall oder dann, wenn von „fleißig“ oder „schön“ oder „verdienter Ruhe“ die Rede ist. So reflektiert stell ich mir nach den übrigen Zitaten die Vermieter nicht vor. Sonst wären sie doch eingeschritten, der?!
2.
Auch über Deinen zentralen Satz „Sie waren ein abgebrochener Zahn am Sekundenrad des Uhrwerkes“ stolpere ich, bringe ich nicht gut mit den beiden Menschen und dem, was schon an Äußerungen von ihnen kam zusammen. So lyrisch sind Protagonistin und Protagonist nicht, sag ich mal. Zudem ist für mich der zentrale Satz zu feingliedrig. „Sekundenrad des Uhrwerks“ – so differenziert denken die doch garnicht! Aber ich kenn die ProtagonistInnen natürlich nicht so persönlich wie Du ;-)

Der Ablauf im Haus als Uhr des Lebens – diese Schilderung und das Bild find ich aber schon sehr ansprechend.

In dem Sinne: Danke für den Text. Ich hoffe, Du kannst was mit der Rückmeldung anfangen...

Herzliche Grüße

Malkah
 
Liebe oder Lieber Malkah,

nun vielen Dank erstmal für das Lesen meiner Geschichte und die Kritik.

Als ich dieses Szenario schrieb war ich 18 Jahre Lenze. Die Geschichte ist also bald 30 Jahre alt. Ich sah dieses Haus einfach nicht als Haus, sondern als Sinnbild unserer Gesellschaft. Die Vermieter sind stellvertretend für die Mitglieder der Gesellschaft, die viel Reden, aber nicht handeln. Die mit sich beschäftigt sind und zwar ausschließlich. Sie rechtfertigen mit ihren "positiven" Tugenden, wie "fleißig" und das was sie sich wünschen "verdienter Ruhe" ihr tun oder besser gesagt ihr Nichtstun. Die Mieter sind stellvertretend für den Rest der Gesellschaft, in diesem Bereich wird ja nicht so sehr Einblick gewährt. Mein Augenmerk richtete sich also eher auf den bestimmten Typen Mensch.

Kinder die so betroffen wären, wären so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht auf die Idee kommen würden Rache zu üben. Sie schreien nach Hilfe, doch niemand hilft Ihnen.

Interessanterweise bin ich bei Punkt 2 ganz Deiner Meinung. Das war mir ebenfalls aufgefallen, als ich die Geschichte nach Jahren nochmal gelesen habe. Aber ich wollte Sie auch in Ihrer Ursprünglichkeit nicht verändern.

Übrigens habe ich diesen Typ Vermieter (in Teilen), in meinem späteren Leben tatsächlich getroffen. Ob sie allerdings die Augen so verschlossen hätten, wie die Nachbarn, die Erzieher, die Verwandten bei einem Pflegekind, welches in meiner Heimatstadt schwer misshandelt worden ist und in einer Wanne gestorben war, weiß ich nicht. Das war 2009.

Mit meiner übertriebenen Darstellung wollte ich damals bestimmt provozieren,

Liebe Grüße
Griffelfüller
 



 
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