Unser Platz

Profatus

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Unser Platz

Von der Bank aus hatte er alles gut im Blick. Der aufwändig gestaltete, alte Brunnen in der Mitte des Platzes erregte stets die erste Aufmerksamkeit. Erst danach ließ man die Augen auf den bunten Hausfassaden auf und ab wandern, die sorgsam um den Platz herum angeordnet waren. Es schien, als würden sich Geschäfte und Wohnungen in der Reihenfolge stets abwechseln. Nur der kleine Supermarkt und die Bäckerei lagen direkt nebeneinander. Und das Ärztehaus. Genau, das Ärztehaus lag noch zwischen den beiden. Man konnte es von der Bank aus nur nicht sehen, weil die großen Eiben davor standen.

Er fragte sich, warum er nicht schon mal früher hierhergekommen war. Diese Bank war wirklich ein schöner Platz, man konnte alles sehen. Aber dafür fühlte er sich immer viel zu jung. So etwas machten doch nur alte Leute.

Hinten rechts, am Ende des Platzes, ging es zu seiner Schule. Da war ein kleiner Weg, eigentlich mehr ein Trampelpfad. Er blickte hoch zur Kirchturmuhr. Kurz nach zwölf. Er überlegte. Ja doch, gleich müssten seine Freunde um die Ecke biegen. In wenigen Minuten müsste Schulschluss sein und der Weg bis hierher dauerte nicht viel länger als fünf Minuten. Unzählige Male waren er und seine Freunde diesen Weg zusammen gegangen. Er kannte dort jeden Strauch und jeden Grashalm. Er konnte den Johann schon hören, wie er wieder lauthals Witze erzählte. Gern auch schweinische Witze, die er immer von seinem großen Bruder erzählt bekam. Und Max würde sicher wieder irgendetwas essen. Vielleicht ein Brötchen oder eine Wurst. Aber das Gute daran, dass Max immer etwas zu essen dabei hatte, war, dass man selber ab und zu auch mal etwas Leckeres abbekam. Am Liebsten natürlich Süßigkeiten.

Er war schon gespannt, was sie diesmal zusammen unternehmen würden. Vielleicht ein bisschen Fußball spielen. Oder mal wieder den fetten Hund vom Schlachter ärgern. Oder einfach nur ein Eis kaufen und auf dem Platz rumhängen.

Ja, gleich müssten sie dort um die Ecke biegen.

Er schaute in den Himmel und ließ seinen Blick den Wolken und Vögeln folgen. Für seine Träumereien war er überall bekannt. Seine Freunde machten sich meistens lustig darüber. Dann lachten sie und nannten ihn »Marsmännchen«, weil er mit seinen Gedanken mal wieder nicht auf der Erde war. Nur Marie machte sich nie lustig über ihn. Sie nannte ihn nur liebevoll »Träumer« und wollte immer wissen, woran er gerade gedacht hatte.

Marie, sein süßer Engel.

Hinten links ging von dem Platz eine kleine Straße ab, die direkt auf die kleine Fabrik ihrer Eltern zuführte. Es war der größte Arbeitgeber hier im Ort und entsprechend wohlhabend war die Familie. Marie ging nicht auf seine Schule. Sie bekam Privatunterricht und arbeitete nebenbei ein paar Stunden in der Woche in der Fabrik ihrer Eltern. Gleich würde sie ihre Mittagspause beginnen.

Er starrte gebannt auf die kleine Straße. Vielleicht trug sie ja wieder das hübsche, grüne Sommerkleid. Sobald sie um die Ecke bog, würde sie ihn bestimmt sofort erkennen und lächeln. Ein Lächeln, das ihm stets die Knie weich werden ließ. Er schloss die Augen und genoss die Vorstellung. Jetzt konnte er sogar ihren Geruch wahrnehmen. Diesen süßen, atemberaubenden Geruch. Immer, wenn er sie ganz besonders vermisste, streifte er in Parfümerien umher und suchte diesen Duft. Doch er fand ihn nicht. Er war einmalig. Es war ihr eigener Duft.

Er ließ sich seufzend auf der Bank zurückfallen. Die Vorfreude war groß. Bald würde er sie alle wiedersehen. Aber nicht heute.

Er beugte sich wieder vor und drückte sich mit Hilfe seines Stocks von der Bank hoch. Schwerfällig machte er ein paar Schritte. Nach wenigen Metern blieb er stehen und drehte sich ein letztes Mal um.
Ein kleiner Junge, der in diesem Moment seinen Weg kreuzte, wurde auf ihn aufmerksam: »Brauchen Sie Hilfe?«

Er sah ihn lächelnd an.

»Schon gut, mein Junge. Ich habe nur etwas gesucht. Aber es ist nicht mehr da.«

Der Junge sah auf den Platz und wieder zurück zu ihm.
»Oh, das ist ja schade. Tut mir leid«, sagte er mitfühlend.

»Das ist schon in Ordnung so, mein Kleiner.«
Er strich dem Jungen über den Kopf.
»Und ich bin sicher, du wirst es finden. Irgendwann.«
 

Vagant

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hallo profatus,

eine melancholische rückschau auf die plätze der kindheit, die alten schulfreunde, das erste mädchen - der stoff, aus dem alte männer ihre geschichten basteln. ich mag so was ganz gern.
am ende bringst du die "überraschende wendung", sozusagen als ende des spannungsbogens, als effekt. ich denke, der plot wäre auch ohne diesem ausgekommen. es las sich recht rund. wie ich schon sagte: ich mag solche sachen.

ein bisschen textkram:

du beginnst mit einem, vom brunnen ausgehenden, schwenk über die szenerie. das braucht es natürlich. details, an die der protagonist seine erinnerungen heftet. du hast also: brunnen, häuser, supermarkt, bäckerei, ärztehaus - allesamt statische details, die da einfach so auf dem tisch verteilt liegen. mir fehlt da so ein kleiner schlenker in der melodie, eine veränderung der brennweite - vielleicht etwas flüchtiges, kleines, vielleicht eine blindschleiche die im busch verschwindet, ein vogel, einen blüte, etwas, wo wir sagen: ops, was ist der erzähler doch für ein ausgebuffter beobachter.
es war ein schwenk über einen kleinstadtszenerie, der uns in die welt von forest gump entführte, aber seine poesie bekam er erst durch die schwebende feder. nur ein flüchtiger moment inmitten all der für die ewigkeit gebauten backsteinhäuser - aber ein bleibender.
ich weiß nicht, ob du verstehst was ich meinte. meist fallen einem solche sachen auch immer nur bei den texten anderer auf, nie bei den eigenen.

die perspektive ist mir hier nie so richtig klar geworden.
es ist eine er-erzählung, deren titel "unser platz" mir eigentlich einen involvierten erzähler suggeriert. aber der fehlt hier.
wer gehört alles zu "unser"?
sicher, der namenlose protagonist, wirst du sagen. aber wer sind die anderen?
es klingt über weite strecken so seltsam fern, und nur manchmal gibt es einen kleinen hinweis.
ich denke, der plot, ohne eigentliche aktive handlung, hätte mehr nähe zum protagonisten verdient. meist sagt der autor dann, dass er genau diesen effekt erzielen wollte, aber dann muss man die frage stellen dürfen: warum? was macht die geschichte zu einer, die mit abstand erzählt werden muss?

=== zitat, 1. absatz)
Genau, das Ärztehaus lag noch zwischen den beiden. Man konnte es von der Bank aus nur nicht sehen, weil die großen Eiben davor standen. zitatende ===

genau? wer versichert sich hier? erzähler? protagonist? das ist nie richtig klar. wenn ich aus dem 'man' ein 'er' mache, dann rücke ich den vorhergehenden satz eindeutig zum protagonisten, er wird zur gedankenrede.

noch ein kurzes beispiel aus dem 2. absatz)

=== zitat)
. Aber dafür fühlte er sich immer viel zu jung. So etwas machten doch nur alte Leute. zitatende ===

das liest sich wie eine vom erzähler verkündete weisheit, und ich frage mich, woher er denn so genau weiß, dass das wirklich nur alte leute machen.
wenn du 'machten' ins präsens setzt, also 'machen' daraus machst, dann wird dieser satz wiederrum zur gedankenrede, gehört also dem protagonisten.

so ließe sich, queer durch den text, mit ein paar kleinen veränderungen mehr nähe zum protagonisten herstellen.

bleibt man bei der distanz, dann müsste man a) den titel ändern, b) einige eingestreute zeilen gedankenrede (ja, gleich müsste sie dort um die ecke biegen --- marie, mein süßer engel) streichen, und c) konsequenterweise den dialog durch eine elegante indirekte rede ersetzen.

ich denke, dass du hier einen text hast, der nicht durch einen effekt am ende, sondern durch seine figur leben sollte.

ich möchte auch nicht weiter meckern. ich mag solche texte, und habe ihn, auch mit ein paar kleinen schwächen, gern gelesen.

vagant.
 

Profatus

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Hallo Vagant,

danke für Deinen Kommentar. Und schön, dass Dir die Geschichte gefällt.

Am Anfang der Geschichte wollte ich die Stimmung aufbauen - beschaulich, ruhig, unaufgeregt. Dabei dann auch der erste Hinweis auf die Thematik: die Eiben, die das Ärztehaus verdecken. Eiben, so habe ich nachgelesen, stehen symbolisch für den Tod.
Ehrlich gesagt reichte mir das dann schon als kleiner "Farbtupfer" in der statischen Beschreibung. Aber ich gebe Dir recht (und finde das Feder-Beispiel hier auch sehr schön), ich hätte noch etwas mehr Poesie einbringen können.
Hierzu werde ich mir mal was überlegen und entsprechend nachtragen.

Deinen Vorschlag, mehr Nähe zum Protagonisten aufzubauen, kann ich ebenfalls nachvollziehen. Ist auch ganz in meinem Sinne. Und die beiden von Dir aufgeführten Zitate klingen dabei, mit den vorgeschlagenen Änderungen, auch in meinen Ohren sehr viel besser.

Generell wollte ich mit dieser Geschichte die Thematik "Alter" bzw. "älter werden" behandeln. Aus diesem Grunde hatte ich mich dafür entschieden, den kleinen Jungen am Ende auftauchen zu lassen, um den Unterschied / das Gegenteil noch mal deutlich zu machen. Damit wollte ich sicher gehen, dass man die Thematik besser erkennt. Und nicht möglicherweise denkt, es ginge hier (nur) um Verlust oder den Tod.

Vielen Dank noch mal.

Gruß, Profatus
 

Profatus

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Unser Platz

Von der Bank aus hatte er alles gut im Blick. Der aufwändig gestaltete, alte Brunnen in der Mitte des Platzes erregte stets die erste Aufmerksamkeit. Erst danach ließ man die Augen auf den bunten Hausfassaden auf und ab wandern, die sorgsam um den Platz herum angeordnet waren. Es schien, als würden sich Geschäfte und Wohnungen in der Reihenfolge stets abwechseln. Nur der kleine Supermarkt und die Bäckerei lagen direkt nebeneinander. Und das Ärztehaus. Genau, das Ärztehaus lag noch zwischen den beiden. Er konnte es von der Bank aus nur nicht sehen, weil die großen Eiben davor standen.

Als sein Blick zurück zum Brunnen schweifte, sah er an dessen Rand einen farbenfrohen Falter sitzen. Ganz still und starr. Und so wie er selbst auf den Brunnen schaute, so schien auch der Schmetterling zu ihm herüber zu sehen. Dann, ganz unvermittelt, schoss das Insekt in die Luft, flog hektische Runden, wirre Muster, wellenartige Etappen - und verschwand schließlich im Schatten der Eiben.

Er fragte sich, warum er nicht schon mal früher hierhergekommen war. Diese Bank war wirklich ein schöner Platz, man konnte alles sehen. Aber dafür fühlte er sich immer viel zu jung. So etwas machen doch nur alte Leute.

Hinten rechts, am Ende des Platzes, ging es zu seiner Schule. Da war ein kleiner Weg, eigentlich mehr ein Trampelpfad. Er blickte hoch zur Kirchturmuhr. Kurz nach zwölf. Er überlegte. Ja doch, gleich müssten seine Freunde um die Ecke biegen. In wenigen Minuten müsste Schulschluss sein und der Weg bis hierher dauerte nicht viel länger als fünf Minuten. Unzählige Male waren er und seine Freunde diesen Weg zusammen gegangen. Er kannte dort jeden Strauch und jeden Grashalm. Er konnte den Johann schon hören, wie er wieder lauthals Witze erzählte. Gern auch schweinische Witze, die er immer von seinem großen Bruder erzählt bekam. Und Max würde sicher wieder irgendetwas essen. Vielleicht ein Brötchen oder eine Wurst. Aber das Gute daran, dass Max immer etwas zu essen dabei hatte, war, dass man selber ab und zu auch mal etwas Leckeres abbekam. Am Liebsten natürlich Süßigkeiten.

Er war schon gespannt, was sie diesmal zusammen unternehmen würden. Vielleicht ein bisschen Fußball spielen. Oder mal wieder den fetten Hund vom Schlachter ärgern. Oder einfach nur ein Eis kaufen und auf dem Platz rumhängen.

Ja, gleich werden sie dort um die Ecke biegen.

Er schaute in den Himmel und ließ seinen Blick den Wolken und Vögeln folgen. Für seine Träumereien war er überall bekannt. Seine Freunde machten sich meistens lustig darüber. Dann lachten sie und nannten ihn »Marsmännchen«, weil er mit seinen Gedanken mal wieder nicht auf der Erde war. Nur Marie machte sich nie lustig über ihn. Sie nannte ihn nur liebevoll »Träumer« und wollte immer wissen, woran er gerade gedacht hatte.

Marie, du süßer Engel.

Hinten links ging von dem Platz eine kleine Straße ab, die direkt auf die kleine Fabrik ihrer Eltern zuführte. Es war der größte Arbeitgeber hier im Ort und entsprechend wohlhabend war die Familie. Marie ging nicht auf seine Schule. Sie bekam Privatunterricht und arbeitete nebenbei ein paar Stunden in der Woche in der Fabrik ihrer Eltern. Gleich würde sie ihre Mittagspause beginnen.

Er starrte gebannt auf die kleine Straße. Vielleicht trug sie ja wieder das hübsche, grüne Sommerkleid. Sobald sie um die Ecke bog, würde sie ihn bestimmt sofort erkennen und lächeln. Ein Lächeln, das ihm stets die Knie weich werden ließ. Er schloss die Augen und genoss die Vorstellung. Jetzt konnte er sogar ihren Geruch wahrnehmen. Diesen süßen, atemberaubenden Geruch. Immer, wenn er sie ganz besonders vermisste, streifte er in Parfümerien umher und suchte diesen Duft. Doch er fand ihn nicht. Er war einmalig. Es war ihr eigener Duft.

Seufzend ließ er sich auf der Bank zurückfallen. Die Vorfreude war groß. Bald würde er sie alle wiedersehen. Aber nicht heute.

Er beugte sich wieder vor und drückte sich mit Hilfe seines Stocks von der Bank hoch. Schwerfällig machte er ein paar Schritte. Nach wenigen Metern blieb er stehen und drehte sich ein letztes Mal um.
Ein kleiner Junge, der in diesem Moment seinen Weg kreuzte, wurde auf ihn aufmerksam: »Brauchen Sie Hilfe?«

Er sah ihn lächelnd an.

»Schon gut, mein Junge. Ich habe nur etwas gesucht. Aber es ist nicht mehr da.«

Der Junge sah auf den Platz und wieder zurück zu ihm.
»Oh, das ist ja schade. Tut mir leid«, sagte er mitfühlend.

»Das ist schon in Ordnung so, mein Kleiner.«
Er strich dem Jungen über den Kopf.
»Und ich bin sicher, du wirst es finden. Irgendwann.«
 

Profatus

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Ich habe die Geschichte gerade überarbeitet.
Zum einen an ein paar Stellen den Bezug zum Protagonisten besser herausgearbeitet, zum anderen den "Schmetterlings-Absatz" am Anfang eingebaut.
Natürlich nicht ganz ohne Einfluss durch den guten Hinweis auf die Feder-Sequenz aus Forrest Gump. Ich habe aber ganz bewusste den Falter (als Symbol für das vergnügte Leben) gewählt, der sich hektisch (ereignisreich) den Eiben (Tod) nähert.
 



 
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