Unsterblichkeit

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Kadira

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Unsterblichkeit

Das helle Tageslicht brennt mir ebenso unbarmherzig in den Augen, wie zuvor das kalte Licht der Neonröhren. Vielleicht noch grausamer, denn es ist real. Ich wünschte, die Sonne würde aufhören zu scheinen, würde der Welt nicht etwas vorgaukeln, was nicht mehr da ist, und somit das was passiert ist verhöhnen und verspotten mit ihrer Existenz. Ich will das es dunkel wird, so dass ich die Maske, die sich über meine Gesichtszüge gelegt hat, fallen lassen kann, dass ich mir einreden kann, das nicht nur meine Welt so kurzfristig zusammengebrochen ist, sondern die Welt sich meiner Stimmung anpasst. Ich will, dass es gewittert. Ein Spektakel von Donner und Blitzen, die den Himmel erhellen, so das der Vorhang zu einem Schlussakt fällt, der der Show die sein Leben war, würdig ist, wenn nicht sogar übertrifft. Es wäre das verdammt mindeste, was diese Welt ihm schuldet nachdem er sie so dermaßen und immer wieder in ihren Grundfesten erschüttert hat. Ein letzter Applaus für ihren gefallen und ungewürdigten Helden.

Ich schließe für einen kurzen Augenblick meine Augen, hoffend, beinahe betend, dass sich etwas ändert, aber als ich sie öffne, ist noch alles beim Alten. Die Sonne scheint noch immer, die Welt dreht sich noch immer, und die Leute hasten um mich herum, als wenn nichts geschehen wäre. Natürlich. Die Welt interessiert einen Scheißdreck was passiert ist. Was auch sonst. Genau wie Gott, oder besser dieser Illusion, dem die Leute nachlaufen, der Geschichte, welche die Kirche ersonnen hat, um sie unter Kontrolle zu halten. Denn was könnte es anderes sein? Würde Gott existieren in seiner angeblich immer währenden Liebe und seiner niemals endenden Fähigkeit zu vergeben, hätte er ja wohl kaum zu lassen können, dass einer seiner eigenen Anhänger eine solche Tat begeht. Und falls es ihn wieder erwarten doch gibt, kann er mir gestohlen bleiben - in all seiner Herrlichkeit.

Zynisch? Vielleicht. Aber ich habe von dem Besten gelernt und spätestens heute ist der ideale Zeitpunkt aufzuhören an diese Scheinwahrheit zu glauben. Immerhin müssen wir alle auch irgendwann aufhören an den Weihnachtsmann und den Osterhasen zu glauben, und das hier ist nur ein weiterer kleiner Schritt ins wirkliche Erwachen.

Die Menschen die ich passiere, scheinen gleichmütig, kalt ... tot. Wie er, nur schrecklicher, denn sie wählten diesen Zustand der emotionellen Stagnation. Bald wird sich der Gleichmut, die kalte Gleichgültigkeit regen, wird Risse bekommen, wenigstens für ein paar Stunden, vielleicht sogar Tage oder Wochen. Sobald die Erklärung draußen ist, dass es diesmal nicht nur ein Gerücht war, dass ihre zweifelhafte Berühmtheit #1 diesmal tatsächlich nicht wieder erscheinen wird, um alles was sie jemals geglaubt haben und andere Leute glauben machen wollten lautstark anzuprangern.

Bis auf den Teil, der seine Freude darüber, nicht verkneifen können wird, die die am Ende für das Geschehene verantwortlich waren, und die wenigen anderen, die ihn nicht zu einem Mythos erheben werden, sondern die, die hinter dieser Fassade sahen. Verehrt, geliebt und gehasst - bis in den Tod und darüber hinaus. Ich kann mir ein Grinsen bei dem Gedanken, dass dies genau das ist, was ihm gefallen würde, nicht verkneifen. Es fühlt sich genauso hohl und leer an, wie mein Inneres.

Der Boden unter meinen Füssen wurde mir weggezogen - von jetzt auf gleich, ohne Warnung, ohne das wir irgendeine Chance auf irgendetwas hatten. Jedenfalls was uns anging. Zu viele Verpflichtungen, zu viele Reisen, ohne das wir noch mal wirklich zusammen kommen konnten. Heute abend, nach dem letzten Konzert auf dieser Tour, wäre es endlich so weit gewesen. Ein Abendessen, vielleicht auch einfach nur irgendwo abhängen, reden, Spaß haben, die letzten Monate wettmachen.

Das war wenigstens der Plan. Gestern abend, als wir telefoniert haben, und auch noch heute morgen. Zum Teufel! Es war noch bis vor zwei Stunden der Plan, als das Telefon auf einmal klingelte und meine Welt über mir zusammenbrach.

Ohne weiter darüber nachzudenken, überquere ich die Strasse irgendwo mitten drinnen. Das Hupkonzert der Autos nehme ich nur nebenher wahr, bevor es beinahe sofort mit dem allgegenwärtigen Lärmpegel meiner Umgebung verschmilzt und unwichtig wird - wie alles andere um mich herum.

Ich schrecke zusammen, als sich eine Hand auf meinen Arm legt.

»Alles in Ordnung, Mister?«

Dämliche Frage. Nichts ist in Ordnung. Nie wieder wird etwas in Ordnung sein. Für einen kurzen Augenblick bin ich verführt genau das der alten Lady zu erzählen, meine Wut und meinen Schmerz herauszubrüllen, dann habe ich mich wieder unter Kontrolle. Oder vielleicht liegt es auch nur an dem Gewicht das sich auf meine Brust gelegt hat, als ich den Anruf bekam und sich seitdem nur noch verstärkt hat, oder an meiner zugeschnürten Kehle aus der kein Geräusch entkommen kann, oder ...

Ich sage nichts, nicke nur, ringe mir sogar noch ein Dankeslächeln ab. Es scheint allerdings nicht den gewünschten Effekt zu haben. Die alte Frau sieht mich stirnrunzelnd an. »Sind sie ganz sicher? Sie sehen aus wie eine wandelnde Leiche.«

Ich habe Mühe ein hysterisches Lachen zu unterdrücken. Wenn sie wüsste, wie nahe sie an der Wahrheit dran ist. Ich wundere mich, ob ihr die Neuigkeiten etwas sagen würden, oder ob sie zu der kleinen Gruppe von Leuten gehört, die das große Glück haben - oder Pech, das hängt wohl von der Sichtweise ab - niemals von ihm gehört zu haben, und die das Ganze nicht weniger interessieren könnte. Ich zwing mich ihren Blick zu halten, in ihre Augen zu sehen, die, wie sollte es auch anders sein, die beinahe identischen Anteile von grün und braun haben wie deine. Mir wird übel.

»Ich bin in Ordnung«, würge ich hervor. »Es ist nur eine Erkältung«, ergänze ich ebenso mühevoll, als sie keine Anstalten macht mich alleine zu lassen, oder wenigstens woanders hin zu sehen.

»Sie sollten zum Arzt gehen, junger Mann. Sie sehen wirklich gar nicht gut aus«, sagt sie, zieht ihre Hand aber von meinem Arm zurück. »Diese Bakterien sind überall. Und jedes Jahr entdecken sie eine neue Art von Grippe, die uns irgendjemand von irgendwo eingeschleppt hat. Wenn ich was zu sagen hätte, müsste ja jeder erst mal in Quarantäne und aufs gründlichste untersucht werden, der einreisen will!«, sagt sie voller Inbrunst und sieht mich dann erwartungsvoll an.

Ich widerstehe der Versuchung ihr zu sagen, dass mich das einen Scheißdreck interessiert, und lächle sie stattdessen noch einmal an, darauf hoffend, dass es diesmal glaubwürdiger ist, so das ich endlich wieder meine Ruhe haben kann.

Es scheint zu wirken. Oder vielleicht habe ich ihre Hoffnung enttäuscht, als ich nicht aktiv auf ihren Gesprächsversuch eingestiegen bin, oder ihr aber zumindest mein Herz ausgeschüttet habe. Mit einem beinahe lächerlichen Gefühl der Erleichterung, drehe ich mich um und sehe sie noch aus den Augenwinkeln mit einem Kopfschütteln in die entgegengesetzte Richtung davon schlurfen.

Ich habe keine Ahnung wo ich bin oder welchen Weg ich genommen habe, aber plötzliches Kindergeschrei reißt mich aus meinen krampfhaften Bemühungen an nichts zu denken heraus. Die Sonne ist leicht abgeschirmt und als ich aufsehe, vielleicht in der absurden Hoffnung, dass wenigstens einer meiner Wünsche in Erfüllung gegangen ist, stelle ich fest, dass ich in einem Park gelandet bin, und das einzig alleine die Bäume an der Lichtveränderung schuld sind.

Meine Schritte verlangsamen sich, bis ich an einer niedrigen Umzäunung zum stehen komme, die einen Spielplatz vom Rest des Parks abtrennt. Das Bild das sich mir bietet wirkt surreal. Spielende Kinder, Mütter und einige vereinzelte Väter, die entweder sinnlos herumstehen, oder den neusten Klatsch auf den vereinzelten Bänken unter den Bäumen austauschen. Beinahe wie aus einem dieser schlechten Filme, über die wir uns immer lustig gemacht haben.

»Ich hab dich getroffen! Du bist tot«, dringt es in mein Unterbewusstsein, und meine Aufmerksamkeit wird auf zwei kleine, vielleicht 6-jährige Jungens gezogen, die sich beide mit täuschend echt aussehenden Spielzeugpistolen gegenüberstehen.

»Du kannst mich nicht umbringen! Ich bin unverwundbar. Ich bin unsterblich!«, quäkt der kleine Blonde, und ich fühle, wie der Boden unter mir sich noch weiter auflöst, bis das einzige, dass mich noch zu halten scheint, mein eiserner Griff um das Bäumchen neben mir ist.

~~~~~~~~

Unsterblich. Das glaubtest du auch zu sein.

Ich fühle mich unsterblich, also muss ich wohl für immer leben

- einer deiner liebsten Sprüche, wenn ich dich gebeten habe, doch etwas vorsichtiger zu sein, sei es in bezug auf das was du dir selber abgefordert hast, auf deinen Drogenkonsum, deinen Lebensstil, oder sogar auf die Drohungen, dicht gefolgt von:

Ich habe noch viel zu viel zu tun, als das ich sterben könnte.

Ich schließe meine Augen, als ich dein Lachen höre, so deutlich, als wenn du gleich neben mir stehen würdest. Einzig alleine das Wissen, dass ich dich nur kurz zuvor auf einem Metalltisch in einem weiß-gekachelten Raum habe liegen sehen, kalt und tot, hält mich davon ab, mich nach dir umzudrehen.

Warum? Warum hast du die Bedrohungen nicht etwas ernster genommen? Dich um mehr Sicherheit gesorgt? Wolltest du als Held oder Märtyrer in die Geschichte eingehen? Der große letzte Auftritt, der sich unwiderruflich in den Köpfen der Leute festsetzen würde? Waren das wirklich deine Pläne, vielleicht unterbewusst? Oder hast du dich tatsächlich für unsterblich gehalten? Ich halte alles für möglich soweit es dich betrifft.

Nicht die, die mir offen drohen, sind gefährlich, sondern die, die nichts sagen

- spielt sich ein Gespräch in meinem Kopf wieder. Eins von vielen. Wann immer, du deine Post durchgegangen bist, Fanmail von Drohungen getrennt hast, bis beides einen ungefähr gleich großen Stapel ergeben hat, den du dann mit einem selbstzufriedenen Lächeln begutachtet hast, bevor du dich deiner Drohpost zugewandt hast und sie nach den kreativsten Beschreibungen durchgegangen bist.

Bitterkeit kommt in mir auf bei der Erkenntnis, wie bereitwillig ich mitgemacht habe, nachdem es dir wieder einmal gelungen war, meine Besorgnis beiseite zu schieben, sei es mit gut gewählten Worten, oder einer einfachen Berührung, oder einem Kuss.

Und jetzt?

Mir wird übel, als ungebeten das letzte Bild von dir vor meinem inneren Auge auftaucht. Ich wünschte mir, es wäre nicht von dir wie du auf dem rollenden Metalltisch liegst. Lange, schwarze Haare runterhängend, Augen geschlossen und wie gewohnt blass, beinahe so, als wenn du jeden Moment aufspringen würdest, und es als Retourkutsche für meinen letzten Scherz outen würdest. Und wäre es nicht für die unnatürliche Kälte gewesen, die von dir ausginge, oder den fünf kleinen Löchern in deinem Brustkorb, hätte ich es fast glauben gekonnt.

Ich wollte es glauben. Aber selbst dieser Glauben verließ mich, als ich deine Hand in meine nahm, wie ich es so oft tat, wenn du schliefst, einfach um dich Nahe zu spüren. Nur gab es mir diesmal keinen Komfort. Anstatt meine Hand zu drücken, wie du es sonst immer tatst, selbst, wenn du schliefst, lag sie kalt und steif in meiner, erlaubte mir noch nicht einmal die Illusion, dass ich in einem Alptraum gefangen bin!

Ich will dich nicht so erinnern. Ich will dich erinnern, wie an meinem Geburtstag, oder als wir das letzte Mal einen drauf gemacht haben, oder im Studio, oder in mitten von unseren Freunden. Alles - aber nicht so! Ein weiterer Wunsch, der nicht in Erfüllung gehen wird, weiß ich doch mit ziemlicher Sicherheit, dass sich dieses Bild für immer in mir eingegraben hat, mir folgen und mich verfolgen wird wohin auch immer ich mich wende. Deine Hinterlassenschaft an mich, viel stärker als all die anderen Momente, die uns miteinander verbinden, beinahe so, als wenn es sie auslöschen will. Und ich habe nicht die Kraft dem zu widerstehen. Nicht jetzt und vielleicht nie wieder.

Das erkenne ich, als ich zwanghaft versuche mir unser letztes Beisammensein vorzustellen. Der Abend, als du während meines Konzertes auf die Bühne gekommen bist und wir gemeinsam das Stadium zum beben gebracht und unsere Fans in Extasse versetzt haben. Definitiv ein Höhepunkt, wenn auch gerade, hier und jetzt, ein sehr schmerzhafter. Noch viel mehr die Stunden danach, bevor wir wieder in die verschiedenen Ecken der Welt mussten - du um dein neues Album zu promoten, und ich um an meinem zu arbeiten.

Bitter-süß und äußerst schmerzhaft. Beinahe schmerzhafter, als der Rest, denn es war unwiderruflich unser letztes Treffen, auch wenn es damals keiner von uns wusste. Oder war nur ich derjenige, der es vorzog in Ignoranz zu leben? War dir vielleicht bewusst, was dir bevorsteht? War das der Grund, dass du einfach so nachgegeben hast, bevor unsere letzte kleine Meinungsverschiedenheit in einen Streit auswachsen konnte?

Höchstwahrscheinlich bin ich einfach nur paranoide. Wir beide wissen, dass ich einen Hang dazu habe Dinge zu sehen und aufzubauschen, die so vielleicht gar nicht da sind.

Meine Lippen verziehen sich zu einem schmerzvollen Lächeln, als ich an deine Spöttereien denke, die mir das eingebracht hat. Aber damit ist jetzt Ende. Schluss, aus, vorbei. Keine Kabbeleien mehr, keine gemeinsam durchwachten Nächte, keine ewiglangen Diskussionen über Gott und die Welt, keine Streitereien mit anschließenden Versöhnungen mehr. Kein Gegenseitiges wieder Aufbauen nach einem schlechten Trip oder der gemeinsamen Suche nach dem Sinn allen Lebens - nichts.

Und es ist dieses nichts, was mich droht zu ersticken. Dieses Absolute, Unwiderrufliche. Kein vielleicht morgen, oder sonst halt nächsten Monat, sondern nie wieder. Endgültig und besiegelt. Da tut sich keine Tür mehr auf, wenn es gar nicht mehr geht. Kein Telefonanrufe mehr mitten in der Nacht, weil einer von uns den Zeitunterschied vergessen hat, oder ein unerwartetes Sturmklingeln. Kein plötzliches 'Es war alles nur ein Scherz' oder sogar ein 'es war nur ein Missverständnis'.

Aus und vorbei.

Keine zweite Möglichkeit, keine Wiederholungsperformance, kein Zerreißen eines Papiers, wenn einem der Liedtext nicht gefällt und einfach noch mal von vorne anfangen.

So sehr ich es mir wünsche.

Wir haben den perfekten Traum gelebt, zwei Seiten, die sich gesucht und gefunden haben, die perfekte Ergänzung für beinahe zwei Dekaden. Durch dick und dünn, von Anfang bis Ende. Und einige Male war das Ende sogar erschreckend nahe, wenn auch nicht in diesem Sinne. Wie viel Zeit haben wir mit dummen Streitereien über nichts verschwendet? Nur wegen zu groß geratenen Egos, bessere Verkaufszahlen und intensivere Performanzen? Und gerade als wir uns wieder richtig zusammengefunden haben, das. Ein weiteres Ende. Nur diesmal eins, dass man nicht mit unerwarteten Aktionen, Telefonanrufen oder Gesprächen beiseite schieben kann.

Bis das der Tod uns scheidet

Ich kann ein leises Lachen nicht unterdrücken, auch nicht als ein kleiner Teil von mir sehr wohl die unterliegende Hysterie erkennt. Mit Mühe halte ich mehr zurück, denn ich weiß, es wäre unmöglich aufzuhören, wenn der Damm einmal Risse bekommt. Und an einem öffentlichen Platz nicht nur erkannt zu werden, sondern das auch noch flennend, ist wirklich das Letzte, was ich momentan brauche oder will, und das nicht zwangsläufig wegen der interessanten Publicity, die es mit Sicherheit bringen würde. So hole ich tief Luft, bis ich meine Gefühle wieder so weit unter Kontrolle habe, dass man mir hoffentlich nicht meilenweit entfernt ansieht, dass etwas nicht stimmt.

Erst als ich mir sicher sein kann, dass das Brennen in meinen Augen nicht ins nächste Stadium überwechselt und das meine Beine mir auch garantiert nicht den Dienst versagen, löse ich meinen Stahlgriff um das kleine Bäumchen und gebe es wieder frei.

Mein Blick bleibt an den beiden Jungens hängen. Sie scheinen sich mittlerweile geeinigt zu haben, denn nun rennen sie mit lautem 'Peng-Peng' zwischen den Bänken herum. Die missbilligenden und entnervten Blicke der herumlungernden Erwachsenen ignorieren sie so komplett, wie es wohl nur Kinder können.

Von rechts dringen Wortfetzen wie 'muss das sein?' über 'lass sie nur spielen' und 'gute Vorbereitung fürs Leben' zu mir herüber, letzteres von einem älterer Herren, komplett ausgestattet mit Spazierstock und grünem Lodenhut. Unter normalen Umständen würde mich sein Auftreten wohl eher amüsieren als alles andere. Wie die Situation jedoch liegt, muss ich dagegen ankämpfen nicht zu ihm rüber zu gehen und Verstand in ihn reinzuschütteln.

Ich gewinne den Kampf nur teilweise. Bevor ich mir dessen wirklich bewusst bin, stehe ich rechts hinter ihm und beuge mich über den Zaun. »Sagen sie das auch noch wenn er eines Tages mit einer echten Waffe vor ihnen steht und es dann wirklich peng macht?«, höre ich mich ihn fragen, meine Stimme tonlos, aber zur gleichen Zeit auch belegt mit den verschiedensten Emotionen, die ich weder identifizieren kann noch will, denn jede von ihnen ist so schmerzhaft wie die andere.

Langsam dreht sich sein Kopf, und für einen Moment sieht er mich fassungslos an. Ein schwaches Gefühl des Triumphes durchfließt mich, nimmt der Hilflosigkeit die ich fühle wenigstens für einen winzigen Augenblick ihre Schärfe. Es hält nicht länger als höchstens 5 Sekunden, genauso lang wie mein Gegenüber braucht um sich von seiner Überraschung zu erholen. »Guter Mann«, beginnt er, in einer Tonlage, die ich nur zu gut von meinem Großvater kenne und die er immer benutzt hat, wenn er meinte mich - das kleine, unwissende Kind (in seinen Augen) - über das Leben aufklären zu müssen. Meine Fingernägel graben sich unwillkürlich in meine Handballen, der Schmerz vielleicht das Einzige, dass mir hilft den Fokus beizubehalten.

»Guter Mann«, wiederholte er, wahrscheinlich um einen tieferen Eindruck zu hinterlassen. »Sehen sie das Ganze vielleicht nicht etwas zu negativ? Es ist ein Spiel. Nicht mehr. Abgesehen davon, ist es falsch, wenn sie sich irgendwann durchzusetzen und zu verteidigen wissen? Nur die Starken überleben in dieser Welt, und ich werde meinen Enkel sicherlich nicht zu einem Weichei erziehen, dass Gänseblümchen pflückt, anstatt Kriegsdienst zu machen, und irgendwann unter die Räder kommt. Aber ich erwarte nicht, dass sie das verstehen. Sie kommen sicherlich aus einer dieser krankhaft pazifistischen Familien, nicht? Alle lieben sich und Gewalt und Waffen sind des Teufels und all so ein Blödsinn. Abgesehen davon, erziehe ich meinen Enkel dazu, ein rechtschaffender Bürger zu sein, der seinesgleichen akzeptiert.«

Er mustert mich. Noch bevor sich unsere Blicke wieder treffen weiß ich, in welche Kategorie ich für ihn falle. Enge dunkelbraune Lederhosen mit dazu passender Jacke, schwarzes Shirt gepaart mit Septum Piercing scheint für ihn nicht unter 'rechtschaffender Bürger' oder auch nur 'akzeptanzwürdig' zu fallen. Ich bezweifele, dass 'Musiker' es tun würde ...

Eine Welle der Übelkeit schlägt über mir zusammen bei seinen Worten. Ich bin versucht mich einfach noch etwas weiter nach vorne zu beugen, um sie über meinem Gesprächspartner zu ergießen. Nur meine doch recht gute Erziehung hält mich davon ab. Meine Gedanken überschlagen sich, als ich nach einer passenden Antwort suche, aber gerade da, wo sie wahrscheinlich wäre, befindet sich nur ein großes, schwarzes Loch.

Und wieder einmal wünsche ich, du wärst hier. Im Gegensatz zu mir, würde dir sicherlich das Richtige einfallen, um ihn seine Klappe halten zu lassen. Du warst schon immer der extrovertiertere von uns beiden. Es ist Teil des Grundes, dass dich mindestens die Hälfte der Bevölkerung fürchtet und hasst.

Nicht mehr.

Wie ein Schlag trifft mich dieser Gedanke auf einmal wieder. Es gibt kein Jetzt mehr und erst recht keine Zukunft. Nicht für dich, nicht für uns. Es gibt keinen Grund mehr dich zu hassen oder zu fürchten. Vergangenheitsform, fürchtete und hasste, denn du fielst einem ach so rechtschaffendem Bürger zum Opfer, der neben seiner Ganztagsbeschäftigung, fleißige Kirchgänge und Gebetskreise, noch immer Zeit fand auf dich zu schießen.

Deinem Leben ein Ende zu setzen.

Dich zu töten

- arbeite ich mich langsam vor.

Du bist tot. Du wirst nie wieder offen das aussprechen, was andere - mich eingeschlossen - nicht wagen, oder vielleicht auch nicht aussprechen können, weil ihnen der Mut oder auch einfach die passenden Worte fehlen.

Du wolltest die Leute, solche wie mein Gegenüber mit dem geringschätzigen Blick, zum Denken anregen, sie aus ihrer Lethargie und ihrem festgesetzten Denken befreien, die Welt verbessern. Nur um was für einen Preis? War er es wirklich wert bezahlt zu werden? Gibt es in dieser beschissenen, egoistischen Welt, in der Kinder schon dazu angehalten werden Gewalt zu üben, noch irgendwas zu retten oder auch nur zu verbessern? Ist da überhaupt noch Hoffnung? Sind solche Leute es überhaupt wert wachgerüttelt zu werden? Leute, wie der Mann auf dieser Parkband und seinesgleichen? Leute, die einfach nur blind folgen, unfähig für sich selbst zu denken? Leute, die dich willentlich missinterpretiert haben, um ein Hassobjekt zu haben, mit dem sie von ihren eigenen Fehlern ablenken können? Leute, die die Bibel so auslegen, dass sie zu Hass und Verachtung aufruft? Leute wie der, der auf dich geschossen hat?


Hass kommt in mir auf. Nicht nur ein fernes Echo oder verworren mit anderen Emotionen, sondern alles verzehrender Hass, dessen Flammen so hoch schlagen, dass ich beinahe körperlich fühlen kann, wie er in meinem Inneren wütet und sich langsam einen Weg nach draußen brennt. Es ist Hass auf diese beschissene Welt, auf ihre Politiker, auf ihre Gesetze, auf ihre ungeschriebenen Normen, die etwas wie dies zu lassen konnten, auf meinen Gegenüber, der vielleicht dabei ist einen weiteren rechtschaffenden Bürger heranzuziehen, auf Gott, auf deinen Schützen, auf mich, und auch auf dich.

Auf dich vielleicht am meisten. Hass darauf, dass du es so weit hast kommen lassen, dass du nicht besser aufgepasst hast, dass du so überzeugt von deiner eigenen Unsterblichkeit warst, dass ich es selber fast geglaubt habe. Dafür, dass du mich einfach so alleine zurück gelassen hast, in dieser beschissenen Entschuldigung dessen, was man Leben nennt, mit dem Bild von deinem toten Körper für immer eingebrannt in meinem Kopf! Dafür hasse ich dich am meisten.

Das Brennen in meinen Augen nimmt zu. Ich halte mich an meinem Hass und dem Schmerz in meinen Handballen fest, den meine Fingernägel dort hinterlassen, als ich mich so weit vorlehne, dass ich nur noch Millimeter von meinem Gegenüber entfernt bin, bis ich jede der kleinen Adern in seinen Augen erkennen kann. Die Unsicherheit, die auf einmal in seinen vormals kalten braunen Augen erscheint, regt nichts in mir. Auch nicht dann, als er sich immer weiter zurücklehnt, bis er fast wieder stur geradeaus guckt.

»Dann hoffe ich für sie mit, dass er sich nicht auf einmal gegen ihre sogenannten rechschaffenden Leute wendet, und sie - oder irgendjemand der ihnen nahe steht - sein erstes Ziel sind. Es wäre ja nicht das erstemal, dass sich eine Kreatur gegen ihren Erschaffer wendet «, sage ich ihm mit tonloser Stimme.

Ohne einmal wegzusehen, ziehe ich mich langsam zurück. Der Mann sagt weder etwas, noch rührt er einen Muskel. Erst als ich mich abgewendet habe und mich bereits einige Schritte entfernt habe, höre ich ein entrüstetes, wenn auch ziemlich leises: »Verdammtes, arbeitsloses Pack!«

Ich drehe mich weder um noch reagiere ich in sonst irgendeiner Art und Weise. Meine Wut, der unglaubliche Hass, ist so schnell verflogen wie er gekommen ist, und ich fühle mich jetzt nur noch unendlich müde und alleine. Es ist es einfach nicht wert. Das zumindest erzähle ich mir wieder und wieder, versuche ein leichtes Schuldgefühl damit zu überdecken, das sich in mir festgesetzt hat, als ich den Park durchquere auf meinem Weg nach ... irgendwo.

Ich war nicht wirklich fair, aber ist es der Rest? Ist es fair, das du sterben musstest? Das ich jetzt hier bin, ganz alleine? Das wir niemals eine Chance hatten? Das Leben ist nicht fair, warum also sollte ich es sein.

~~~~~~~~

Die Tasse liegt schwer in meiner Hand, als ich sie anhebe und beinahe mechanisch trinke, ungeachtet dessen, dass der Kaffee viel zu heiß ist um auch nur im entferntesten angenehm zu trinken zu sein. Nicht das ich wirklich Durst habe, aber diese Illusion des Normalen hilft irgendwie, verankert mich wieder einmal auf der Erde, erlaubt mir Luft zu holen und wieder zu mir selber zu finden - soweit das überhaupt möglich ist.

Nun da mein Hass mich verlassen hat, fühle ich mich wie eine ausgebrannte Hülle, kalt und leer, die einzige Emotion, die ich wirklich noch fühlen kann, dieser unwiderrufliche Schmerz, der seitdem ich dich habe dort liegen sehen, mein konstanter Begleiter ist. Und wieder einmal, und ohne das ich es verhindern kann, stellt sich mir eine Frage, steht über allem: Warum?

Ich nehme einen weiteren Schluck, und ziehe eine Grimasse. Nicht nur heiß, sondern ich habe auch den Zucker vergessen. Trotzdem trinke ich weiter, halte mich weiter an dem kleinen, zerbrechlichen Porzellangefäß fest, als wenn es meine einzige noch immer existierende Verbindung zu dieser Welt wäre.

Vielleicht ist es das auch.

Die lokale Tageszeitung und ein überregionales Blatt liegen aufgeschlagen neben mir. Das Bild eines Mannes, der gerade von der Polizei abgeführt wird, sticht mir ins Auge. Die Schlagzeile informiert die Leser davon, dass ein häuslicher Disput tödlich ausgegangen ist. Dann, in etwas kleiner darunter: Der Polizist Torsten F. (42) tötete nach einem häuslichen Streit erst seine Frau (38) und dann seine beiden Kinder (8 und 13). Als er seine Dienstwaffe gegen sich selber einsetzen wollte, konnte er von den gerade eintreffenden Polizisten daran gehindert werden. Die Beamten wurden von einer besorgten Nachbarin gerufen, als diese den ersten Schuss hörte. Die Hintergründe dieser Tragödie sind bisher unbekannt.

Das ganz alltägliche Drama der menschlichen Existenz also nur wieder, denke ich mir, während es mich innerlich schüttelt. Abwesend schütte ich mir Zucker in meinen Kaffee.

Auf Seite drei ein Artikel über Gewalt in Schulen, und ob man ihr mit noch mehr autoritärer Gewalt Herr werden kann. Auf Seite fünf erklärt die spärlich bekleidete Sonya, dass der Sommer nun in der Tat da sei, während Politiker auf Seite sechs bis sieben versuchen sich mit noch mehr Lügen aus unbequemen Situationen herauszureden und mit Schönrederei Wählerstimmen zu bekommen. Dann der Sportteil, den ich wie immer überspringe (etwas, dass ich von dir übernommen habe), gefolgt von sinnloser Werbung, Rätsel und Preisausschreiben. Die vorletzte und letzte Seite ist reserviert für die kleinen und großen Schicksalsschläge des Lebens, die nicht durchschlagend genug sind, um es auf die Titelseite zu schaffen - Peter W., 53, verlor seinen Job, trank sich dann besinnungslos und fuhr gegen eine Eiche. Rebecca, 22, amtierende Miss Soundso wurde wegen Drogenbesitz festgenommen. Rentner Ronald S. verstarb in seiner Wohnung an Herzversagen, wurde erst Wochen später aufgefunden. Hausfrau fiel während des Frühjahrsputzes von der Leiter und brach sich die Hüfte. Der kleine 10-jährige Mark wurde auf dem kurzen Weg von der Schule nach Hause von einem Schäferhund angegriffen - und so weiter und so fort.

Natürlich steht noch nichts über den Vorfall drinnen. Es ist noch zu früh. Ich bin mir nicht sicher, ob ich darüber verärgert oder erleichtert sein soll, entscheide mich aber dann für letzteres. Es gibt mir Zeit noch die Dinge zu erledigen, die erledigt werden müssen, egal wie unangenehm sie sind, wie den Anruf bei seinen Eltern.

Wieso habe ich dem nur jemals zugestimmt, dass wir beide die ersten Kontaktpersonen in Notfällen sind? War es die Illusion, dass uns gar nichts passieren kann? Dein Gerede von Unsterblichkeit? Das ich niemals erwartet habe, dass ich derjenige bin, der zurück bleibt?

Du hättest leben müssen. Immerhin warst du derjenige, der so überzeugt davon war unsterblich zu sein. Es ist unfair mich hier in dieser beschissenen Welt alleine zu lassen. Noch unfairer mir das Versprechen abzunehmen, weiter zu machen - egal was passiert. Ich verdränge erfolgreich den Gedanken, dass es ein gegenseitiges Versprechen war. Immerhin ist das ja jetzt auch irrelevant, oder? Ich bin noch hier. Du nicht mehr. Du kannst nicht mehr mit mir über solche Kleinigkeiten argumentieren, und mich damit in den Wahnsinn treiben.

»Soll ich ihnen die Speisekarte bringen?«, reißt mich eine kleine, hübsche rothaarige Kellnerin aus meinen Gedanken heraus.

Ihr Lächeln wankt etwas, als ich nicht direkt antworte. »Es ist bereits Mittagszeit, aber wir haben auch noch das eine oder andere vom Frühstück da«, fährt sie fort, und ich beobachte für ein paar Sekunden fasziniert, wie ihre Zunge immer wieder leicht ihre Lippen befeuchtet, vielleicht unbewusst ihrer Nervosität Ausdruck verleiht.

»Ich bin nicht hungrig. Nur noch einen Kaffee, danke.«


Das ist die Zungenspitze wieder. Sie scheint ziemlich nervös zu sein. Sicherlich nicht unbedingt von Vorteil in ihrem Beruf. »Es tut mir leid, aber das geht nicht. Wir sind auf Mittagsgäste spezialisiert. Es ist eine feste Regel.«

Und das soll mich wieso interessieren? frage ich mich. Aber das hat man wohl davon, wenn man in einer atypischen Umgebung versucht unterzutauchen. Unter normalen Umständen würde ich mich hier niemals sehen lassen. Viel zu spießig mit dem ganzen Möchtegern Bauern Getue, den - wahrscheinlich nachträglich - eingezogenen schwarzen Balken, um das Ambiente noch zu unterstützen, und den beinahe unerträglich hässlichen blau-weiß karierten Tischdecken, komplettiert bei irgendwelchen Trockenblumensträußen. Vielleicht sollte ich dankbar dafür sein, dass die Musik wenigstens so leise eingestellt ist, dass ich diesen nervenzehrenden Volksmusikpop leicht ausblenden kann

Die perfekte Umgebung, wenn man sein Toleranzlevel testen will. Oder zum untertauchen und vergessen. Die Chance das mich hier jemand erkennt ist gleich Null, was mir genau in den Kram passt. Außerdem, und das noch viel mehr, wie ich mir sehr wohl bewusst bin, erinnert hier nichts an ihn. Es ist genau die Art Bar (oder was immer es sein soll), die er gehasst und vermieden hat. Es macht es einfacher. Das habe ich wenigstens gehofft. Letztendlich ändert es gar nichts. Vergessen ist unmöglich, scheint es. Nicht, wenn die Wunde noch so verdammt frisch ist. Und vielleicht will ich es auch gar nicht. Vielleicht sollte ich es nicht. Und falls doch, ist Kaffee mit Sicherheit das falsche Getränk. Ich lächele müde bei dem Gedanken, ob eine ganze Flasche Whiskey auch als Mittagessen gelten würde, denn die würde mich vielleicht wenigstens temporär vergessen lassen.

»Wie bitte?« Der entgeisterte Gesichtsausdruck der Kellnerin macht mir bewusst, dass ich das Letzte vielleicht doch laut ausgesprochen habe, und das dies scheinbar nicht auf dem Mittagsplan steht. Damit bleibt mir die Alternative rauszugehen, und mich dem zu stellen, was ich tun muss, wie Anrufe tätigen (ich bin mir ziemlich sicher, dass seine Eltern es vorziehen würden, nicht erst was aus der Presse oder von der Polizei zu erfahren), oder mir was zu bestellen.

»Nichts. Es war nur ein Scherz«, winke ich ab und versuche mich an einem besänftigenden Lächeln. Die Kellnerin sieht mich an, als wenn ich ihr gerade eröffnet hätte, das ich sie und ihre gesamte Familie verschlingen wolle. So viel also dazu. »Was gibt ...«, beginne ich, stoppe aber wieder, als eine nur allzu bekannte Tonfolge aus dem Radio ertönt, gefolgt von noch mehr Tönen, die eine mir ebenso bekannte Melodie ergeben. Dann die Stimme ... schmerzhaft vertraut. Gott! Noch nicht einmal hier. Das Gewicht um meine Brust nimmt wieder zu, ebenso das Brennen in meinen Augen. Ich bin froh, dass ich meine Sonnenbrille beim Eintreten nicht abgenommen habe.

Irritiert wendet die Kellnerin den Blick von mir ab. »Marcel, kannst du den Lärm mal abstellen? Versuch mal Kanal 5, da läuft doch eigentlich immer was Gescheites.« Dann, mir wieder zugewandt: »Entschuldigen sie, Aushilfen ...« und sieht mich mit peinlicher Berührung an.

Die folgende, plötzliche Stille schmerzt. Beinahe mehr als die unerwartete Konfrontation, sicherlich mehr, als das Erklingen eines Schmusesängers, der von ewiger Liebe singt. Ich möchte lachen und schreien - am besten zur gleichen Zeit. Stattdessen frage ich nur: »Kannten sie die Musik?«

Verwirrt sieht sie mich an. »Ist nicht wirklich meine Richtung. Ich stehe eher auf Madonna und so. Ist es nicht dieser Schockrocker der immer Ärger macht?«

'Der immer Ärger macht ...' Und für solche Leute musstest du sterben ...

»Wissen sie schon was sie wollen, oder soll ich ihnen doch die Karte bringen?«, setzt sie beinahe sofort hinzu.

»Ich habe ihn gekannt«, sage ich, bevor ich mich selber stoppen kann. »Er wird keinen Ärger mehr machen. Er ist tot. Wurde erschossen. Heute morgen«, sage ich beinahe beiläufig, als wenn wir gerade nur über etwas banales wie das Wetter reden würden.

Ein 'oh', und ein umherschweifender Blick, ist ihre erste Reaktion. Dann, als sie offensichtlich nichts entdeckt, was sie vor mir und der unangenehmen Situation retten kann, sieht sich mich wieder an, jedoch trifft ihr Blick nicht meiner. »Das tut mir leid«, sagt sie und schafft es sogar etwas wie Anteilnahme mitschwingen zu lassen. »Wollen sie ...«, fragt sie, und zeigt auf eine kleine halbversteckte Anlage in der Ecke. »Ich kann den Sender gerne wieder anmachen.« Ihr Angebot ist ehrlich gemeint, soviel sagt ihr Blick, als sie mich doch wieder ansieht.

»Das ist nicht nötig«, sage ich und stehe auf. »Er würde das nicht wollen. Trotzdem Danke für das Angebot.«

Ich krame Kleingeld heraus, lege es auf den Tisch. Nach einem Blick auf ihren nun doch ehrlich betroffenem Gesichtsausdruck, lege ich noch ein großzügiges Trinkgeld drauf, bevor ich mich auf die Türe zu bewege.

»Vielen Dank und einen schönen Tag noch. Wir hoffen, dass sie ihren Aufenthalt hier genossen haben und uns bald wieder beehren«, tönt mir nach. Es klingt, als wenn es von einem schlechten Tonband kommt.

Als ich mich noch mal umdrehe, steht die Kellnerin noch immer an der gleichen Stelle. Sie wendet ihren Bestellblock nervös hin und her und sieht mich an. »Es ... es tut mir leid«, bringt sie heraus, bevor sie fluchtartig hinter der Theke verschwindet.

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Auf dem Weg zu meinem Hotel passiere ich die Einkaufsstrasse, für die diese Stadt so gerühmt ist. Ein Geschäft nach dem anderen, strahlenden Fensterscheiben gefolgt von Fassaden, deren letzter Neuanstrich den Dreck darunter nicht wirklich verbergen kann, verglaste Eingänge zu Passagen mit noch mehr Geschäften, überfüllte Mülleimer und Abfall, der auf der Strasse liegt, und den die Straßenreinigung offensichtlich nicht bewältigen kann. In den Geschäften und davor drängelnde und sinnloses Zeug plappernde Menschen mit Einkaufstüten, die mehr oder weniger eilig ziellos umher zuhasten scheinen. Die Gruppe Mormonen, die die Strasse um die Hälfte verengt, als sie sich um einen der ihrigen schart, der, um besser gesehen zu werden, auf einer Orangenkiste steht, passt mit ihren adretten Klamotten und ihren blankpolierten Schuhen wesentlich besser ins Bild, als die beiden Punks, die mich anschnorren.

Abwesend gebe ich der Frau mit den grünen Spikes auf dem Kopf etwas Kleingeld, und drücke mich dann an einer Gruppe von Geschäftsleuten vorbei, die mit gewichtiger Miene ihre Mittagessenpläne besprechen. Die Strasse und die Menschenmenge droht mich zu ersticken, anstatt Ablenkung oder sogar nur Erleichterung zu bieten. Diese dauerhafte ziel - und sinnlose Geschäftigkeit macht mich nervös und erweckt in mir den Wunsch zu fliehen. Mal wieder. Nur wohin, weiß ich nicht. Denn das, wovon ich wirklich flüchten will, lässt mich nicht los.

Egal wohin ich mich wende, egal in welcher Umgebung ich bin, alles scheint mich an dich zu erinnern. Und es schmerzt. Der Gedanke, dass wir niemals wieder zusammen durch die Strassen gehen werden, dass wir nie wieder irgendetwas gemeinsam machen werden, tut weh.

Meine Hände ballen sich zu Fäusten in meiner Hosentasche und ich laufe schneller und schneller, bis ich renne, bis die Menschen nur noch an mir vorbeifliegen, ihre verstörten und missbilligenden Blicke nichts weiter als aufdringlich flackernde Blinklichter, die auftauchen und wieder in Vergessenheit geraten, sobald sie stoppen. Ich renne an sonnenlichtreflektierenden Schaufenstern vorbei, an kleinen Marktständen, an überfüllten Mülleimern und kläffenden Hunden, bis alles zu einer einzigen grauen, gesichtslosen Masse verschwimmt.

Ich wünsche, dass gleiche würde mit meinen Schmerzen passieren. Ich will nicht mehr denken, nicht mehr fühlen, nicht mehr wissen. Ich will das was passiert ist vergessen, will den heutigen morgen komplett aus meinem Gedächtnis streichen, will dich vergessen.

Ich renne ohne nach rechts und links zu gucken, bis ich keine Luft mehr bekomme und keuchend gegen eine Wand sacke. Noch während ich nach Luft schnappe rutsche ich an ihr herunter, bis ich auf dem Boden sitze. Ich nehme meine Sonnenbrille ab und wische mir den Schweiß aus dem Gesicht. Zumindest versuche ich mir einzureden, dass es nur Schweiß und nichts anderes ist.

Nein, ich will nicht ihn - dich - vergessen. Nicht wirklich. Zu viel ist dafür passiert. Zu sehr waren unsere Wege dafür verknüpft. Und egal wie schwierig und hoffnungslos es manchmal war und schien, ich will es nicht vergessen oder herabsetzen, was ich bei dem bloßen Wunsch des Vergessens schon tue. Ich beneide nicht die Leute, die dich niemals gekannt haben, außer vielleicht durch deine Musik oder Gerüchte oder Bücher oder Interviews, denn sie wissen nicht, was ihnen entgangen ist, wissen nichts von dir. Sie haben keine Ahnung, wie du Leute prägen konntest, wie es ist, war, mit dir zusammen zu sein. Nicht auf oder vor der Bühne, sondern einfach so. Das Gefühl von Sicherheit, dass du einem vermitteln konntest, wie du einen in jeder Situation aufmuntern konntest, wie du mich immer zum Lachen bringen konntest, wie es war mit dir zu diskutieren, wie es sich anfühlte einfach in deiner Nähe zu sein, die Tage und Nächte mit dir zu verbringen, wie du jeden Tag gelebt hast, als wenn es dein letzter wäre. Oder zu sehen, wie du dein volles Potential entwickelst und über dich selber hinauswächst. Nichts von all dem möchte ich missen, auch nicht die Tage, in denen du so von Selbstzweifeln gequält warst, dass ich Angst vor dem hatte, was du selber dir antun könntest, oder wie ich dich nach einer besonders aktiven Nacht mit viel zu vielen Drogen im Krankenhaus besucht habe, noch nicht einmal unsere Streitereien. Nichts von dem, was wir in unserer Zeit zusammen erlebt haben ...

In mir wirst du immer unsterblich bleiben - dafür werde ich sorgen. Ich werde dich nicht in Vergessenheit geraten lassen.

Als mich das unangenehme Quietschen einer Türe wieder in das Hier und Jetzt zurückholt, ist das Erste, dass ich wirklich wahrnehme ein grell gelbes Plakat mit feuerroter Schrift das in meinen Augen brennt, und das sich an alle gequälten Seelen richtet.

Inneren Frieden - wir können dir helfen ihn zu finden

verkündet es großspurig, und ich kann ein hartes Lachen nicht unterdrücken. Mühevoll und mit vor Trockenheit brennenden Augen komme ich wieder auf die Beine, als zwei der Gestalten vor dem Gebäude auf mich zukommen. Eine Diskussion mit irgendwelchen Leuten von dubiosen Gruppen ist das letzte was ich brauche. Trotzdem komme ich nicht umher mich zu wundern, ob du deinen inneren Frieden jetzt im Tod gefunden hast, als ich das kleine Seitengässchen entlang laufe, bis mich die Geschäftigkeit der Einkaufsstrasse wieder in sich absorbiert.

Die Leute scheinen mich nicht mehr zu erdrücken, auch wenn ich dem Schmerz und der überwältigenden Leere in mir nicht entkommen bin. Ich bezweifele, dass ich es jemals werde. Und vielleicht will ich es auch gar nicht mehr, denn es ist nun ebenso Teil von dem was uns verbindet, wie alles andere. Das erkenne ich langsam.

Ich wünsche dir, dass du deinen inneren Frieden gefunden hast, mehr, als in deiner Unsterblichkeit, in der du immer auf der Suche nach mehr warst, nach dem nächst größeren Kick, nach noch mehr Aufmerksamkeit, nach noch mehr.

Vor einem großen Musikgeschäft halte ich automatisch an. Mein Blick bleibt an einer weißen Tafel hängen, die verkündet, dass man dort Konzertkarten kaufen kann und für welche Konzerte. Auch du stehst da darauf. Allerdings befindet sich anstelle des Preises ein dickes 'ausverkauft'.

Ich grinse unter den unwillkommenen Tränen, die sich, versteckt hinter meiner Sonnenbrille, schon wieder ansammeln. Ja, es hätte dir wohl gefallen. Keine Zweifel. Bevor ich mir dessen wirklich bewusst bin, habe ich den Laden betreten. Zielstrebig durchquere ich ihn, bis ich zur Kategorie 'Alternativ' komme. Ich gehe die Reihe ab, scanne die Namen, bis ich dich finde, in der Mitte, dritter von oben.

Sie haben nur drei von deinen Alben da, und noch nicht einmal dein Neustes. Ich schnappe mir den Verkäufer, der eine Reihe weiter scheinbar sinnlos in den CDs rumwühlt und frage.

»Wir warten auf die neue Lieferung«, erklärt er mir wie aus der Pistole geschossen. »Wir sind restlos ausverkauft seit der Ankündigung des Konzertes. Die Leute kaufen es wie verrückt. Man könnte meinen, wir reden hier von den Stones. Wir haben aber bereits neu bestellt.«

Ich nicke und erwidere sein Lächeln. »Ihr solltet alle seine Alben nachbestellen«, sage ich und wedele mit den drei CDs in meiner Hand. »Das hier ist alles was ihr noch habt, und ich habe das Gefühl, als wenn die Nachfrage in den nächsten Tagen noch immens steigen wird.«

»Warum?«, fragt er, und ich kann sehen, dass er nicht weiß, was er von meiner Aussage halten soll.

»Spätestens heute abend wirst du es erfahren«, sage ich nur, bevor ich ihm den Rücken zuwende und einen Schritt in Richtung Kasse mache.

»Du meinst das ernst, nicht?«

Ich drehe mich noch mal um und grinse ihn an. »Sonst würde ich es nicht sagen.«

»Aber was ... kenne ich dich nicht irgendwo her?«

Ich zucke mit den Schultern. »Vielleicht«, sage ich. Dann, bevor ich mich wieder umdrehe: »Glaubst du an die Unsterblichkeit über den Tod hinaus?«

Ich verschwinde in einer Menschentraube von Jugendlichen, tauche in ihr unter, bis ich die Kassen erreiche, seinen verständnislosen Blick in meinem Rücken. Nicht das ich deine CDs gebraucht hätte, immerhin habe ich jede CD mindestens einmal signiert bei mir im Regal stehen, aber es ist ein erster Schritt.

Nachdem ich meinen Einkauf bezahlt habe, verlasse ich den Laden. Vor dem Geschäft nehme ich meine Brille ab und sehe das erste Mal an diesem Tag in die Sonne, nicht mit dem Wunsch sie verschwinden zu sehen, sondern einfach so. Lass die Sonne scheinen so viel sie will. Lass die Leute in Lethargie versinken, solange sie noch können, denke ich mir, bevor ich meine Brille wieder aufsetzte, mir die Tüte unter dem Arm klemme, und mein Handy heraushole. Heute Abend würde es mit der Lethargie vorbei sein. Ich drücke eine der Kurzwahltasten.

»Ich bin es. Wo bist du gerade? Hast du Zeit heute?«

Ohne meinem Gesprächspartner wirklich Zeit zum antworten zu geben, fahre ich fort, erkläre ihm was passiert ist, und wann und wo er sein soll mit den anderen. Sobald ich seine Zustimmung habe und die Verbindung unterbrochen ist, tippe ich die nächste Nummer, wiederhole das Gespräch fast Wort für Wort. Der Schock ist da, aber auch die Bereitwilligkeit mir zu helfen. Ich lächele als ich meinen letzten Anruf beendet habe, und in Richtung meines Hotels eile. Die Geste ist nicht mehr erfüllt von Bitterkeit, sondern nur noch von Trauer und Entschlossenheit.

Das Konzert wird stattfinden. Es wird ein Spektakel sein, dass dir nicht nur würdig ist, sondern unvergesslich für jeden sein wird. Dafür werde ich sorgen. Deine Fans werden dich vielleicht nicht mehr bekommen, aber dafür jeden, dem du etwas bedeutet hast. Sie alle werden da sein, und in deinem Andenken spielen, werden zu deiner Unsterblichkeit beitragen.

Ich werde deine Unsterblichkeit leben - jedenfalls solange ich kann.

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