Unter der Erde

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Empi

Mitglied
Sebastian kicherte als die Erde auf den Sargdeckel klatschte. Normalerweise kicherte er nicht oft, aber bei jedem Schwung überkam es ihn, ob er wollte oder nicht. Mit der Zeit veränderte sich das Geräusch, von Erde auf Holz zu Erde auf Erde, immer schwächer, immer schwächer. Und dann – gar nichts.
Es war still wie in einem Grab.
Sebastian lachte gellend über seinen eigenen Scherz. Sein Lachen rauschte ihm wieder entgegen, wirkte im Sarg unnatürlich laut.
Kontrolle! Verschwende keinen Sauerstoff!
Bereits jetzt war die Luft stickig. Ist ja auch kein Wunder! Sebastian tastete mit der Hand nach oben und stieß gleich auf Holz. Die Seitenwände des Sargs drückten gegen seine Schultern.
Verdammt eng hier drin.
Er presste seine Hand auf den Mund um ein weiteres Glucksen zu unterdrücken, nahm das Mundstück des Sauerstofftanks und atmete tief ein.
Hoffentlich war in der Sauerstoffflasche genug Luft...
Natürlich! Schließlich musste er nur eine Stunde hier unten bleiben, und Sauerstoff hatte er mindestens für zwei. Allerdings sollte er nicht aus Versehen an das Ventil kommen.
Sebastian erstarrte. Unendlich sachte berührte er die Flasche, die zwischen seinen Beinen lag. Ok. Es war alles in bester Ordnung.
Trotzdem merkte Sebastian, wie sein Atem pfiff. Er hielt die Luft an. In seinen Ohren rauschte das Blut zum rasenden Takt seines Herzens.
Wie viel Zeit war schon verstrichen? Keine Ahnung. Sekunden, Minuten, alles verlor sich in dieser abgrundtiefen Schwärze. Sebastian blinzelte um festzustellen, ob seine Augen offen waren oder nicht. Nichts. Es machte keinen Unterschied. Dunkler als die dunkelste Nacht.
Aber bis jetzt hatte sich noch niemand beschwert.
Das Lachen kämpfte sich wie Erbrochenes seinen Hals hinauf. Entweder er riss sich nun zusammen, oder... ja, was?
Oder er wurde verrückt?
Sein schrilles Lachen kam in unregelmäßigen Stößen.

Markus patschte mit der Schaufel die lose Erde fest. Schweiß rann sein Gesicht hinab. „Mann, das war ein Haufen Arbeit.“
„Das kann man wohl sagen“, keuchte Peter, der seine Schaufel absetzte. „Los, wir haben eine gute halbe Stunde, bevor wir ihn wieder ausbuddeln müssen.“ Er ging zu dem Kleinlaster und legte die Schaufel auf die Ladefläche. „Lasst uns bei „Ernas Imbissbude" einen kleinen Snack essen.“
„Meinst du nicht, wir sollten hier bleiben?“, fragte Bernhard besorgt. „Falls etwas passiert, meine ich.“
„Und wie willst du das mitkriegen? Seine Schreie würde man von da unten kaum hören.“ Peter lachte. „Jetzt kommt schon, ihr beiden Memmen.“
Markus machte eine auffordernde Geste in Bernhards Richtung und folgte Peter.
Mit einem Seufzer drehte sich Bernhard um und ging auf Peters Laster zu. Als sein Blick auf den großen, reißerischen Aufkleber fiel, den Peter auf beiden Seiten seines geliebten Kleinlasters angebracht hatte, zog sich sein Magen zusammen. „Höllenritt“ verkündeten die schwarzen Lettern.
Wie jedesmal, wenn Bernhard in den Laster stieg, überkam ihn ein ungutes Gefühl.

Sie verließen den Wald und bogen auf die Straße ab.
„Mir ist schon ganz mulmig, wenn ich daran denke, dass ich da auch mal runter muss“, sagte Bernhard nach einer Weile.
„Tja, das ist unsere Mutprobe.“ Peter grinste. „Du willst doch in die Gruppe, oder?"
Der hat leicht reden, dachte Bernhard. Schließlich hatten es Peter und Markus bereits hinter sich.
Markus versuchte, Bernhard aufzumuntern. „Hey, keine Sorge. Immerhin hast du ein Radio dabei. Da wird’s wenigstens nicht langweilig.“

Sebastian fummelte am Radio. Erst ertönte nur ein Rauschen und Knistern, aber dann bekam er Empfang. Sie spielten gerade „Losing my Religion“ von R.E.M. Sebastian summte das Lied mit.
Kontrolle.
Er hatte die Kontrolle zurückerlangt. Das Schlimmste war vorüber. Jetzt musste er nur noch warten... vielleicht für immer.
Sebastian riss das Mundstück weg. „Halts Maul, du verdammter Idiot!“
Im Radio kam „Supergirl“, gefolgt von Nachrichtenmeldung über irgendeinen Brand, dann ein Verkehrsunfall, dann wieder Musik. Diesmal „Daylight in your Eyes“ von den No Angels. Mein Gott, wie er die Tussen hasste.
Diese verdammte Mutprobe war doch im Grunde ein Kinderspiel. Sebastian stellte sich vor, wie der schüchterne Bernhard hier unten lag – und musste wieder lachen. Wenn unsere Eltern das wüssten... die würden in Ohnmacht fallen.
Wieder Lachen.
Scheißkomisch hier unten.
Sebastian rieb sich eine Träne aus dem Auge.
„... wissen wir jetzt Genaueres über den schrecklichen Verkehrsunfall. Auf einem unbeschränkten Bahnübergang erfasste der Güterzug den Laster. Die Polizei bestätigte, dass keiner der drei Jugendlichen den Unfall überlebt hat.“
Sebastian hörte auf zu gackern.
„Einen besonders makabren Beigeschmack erhält dieser Unfall durch die Tatsache, dass der Laster die Aufschrift "Höllenritt" trug. Da fragt man sich wirklich, ob nicht..."
Der Rest ging in Sebastians Schrei unter.
Die drei Leute, die wussten, dass er irgendwo im Wald lebendig begraben lag, waren tot.
Sein Verstand verließ ihn wie ein Verbrecher auf der Flucht. Dass er sich die Finger am Sargdeckel zu blutigen Stumpen rieb, registrierte er nicht mehr.
 

Gandl

Mitglied
schudder

Hi Empi,
eine schreckliche Geschichte, schudder.
Aber gut geschrieben.
Was ich für nicht glaubhaft halte, ist, daß die Polizei
die Namen an den Radiosender rausgibt.
Und die die dann auch sogar senden.
Also Bayern3 und die ganzen Lokalradios in München
und Hamburg (mehr kenn ich nicht) machen das nicht.
Vielleicht wäre gegen Ende weniger mehr gewesen?
Wie: verzweifelte Hoffnung auf Rettung, und doch ahnend,
daß da nix kommt.
Liebe Grüße
Gandl
 

Empi

Mitglied
Hi Gandl,

freut mich, dass dich "schuddert" ;-) war ja auch so gedacht...

Das mit dem Radio habe ich mir auch gedacht, aber mir fällt keine bessere Lösung ein, um Sebastian diese absolute Gewissheit zu geben, dass niemand mehr um sein Schicksal weiß. Ist schwierig sonst. Und eigentlich will ich diese schreckliche Gewissheit am Schluss lassen. Villeicht mit einem Lokalsender einer kleinen, abgeschnittenen Region, wo jeder jeden kennt? Hm...

Aber vielen Dank für deinen Kommentar

Empi
 

Rainer

Mitglied
hallo,

vielleicht kommt ja auch nur, dass es eine orangefarbener kleinlaster mit drei jungen leuten, erst trallala jahre alt, war, am bahnübergang von nach...? und die meldung wiederholt sich ein paar mal; bevor er anfängt zu kratzen?

nur so als vorschlag, der angesprochen punkt war auch mein einziger meckergrund - ansonsten: starker einstand!

viele grüße

rainer
 

Empi

Mitglied
Hi Rainer,

das mit dem Kleinlaster und der Farbe ist eine gute Idee. Das ist wahrscheinlicher, als dass die Radiostation die Namen der Toten preisgibt. Dann müsste ich aber einiges ändern. Hm, wenn ich nicht so schrecklich faul wäre...

Vielen Dank für deinen Comment.
 

DarkskiesOne

Mitglied
Nich` faul sein...

...sondern loslegen!
Hi Empi,
musste doch gleich mal nach deiner Geschichte schauen und gratuliere dir zu deinem Einstand! Die Geschichte gefällt mir gut! Beim Ende muss ich allerdings meinen Vorschreibern Recht geben. Den Änderungsvorschlag von Rainer finde ich prima. Orangefarbener Kleinlaster. Dann mit jeder Radiomeldung weitere winzige Details, die das Bild vervollständigen. Der grausige Verdacht kann für den Eingeschlossenen schleichend zur Gewissheit werden. Gruselig!
lg
DarkskiesOne
 
D

drachenfliege

Gast
Hi, MP,

wollte mal sehen, in welche Richtung Du schreibst.

Yeah, wirklich gute Geschichte!

Würde sagen, dass Du Taucher bist, so wie Du die Sauerstoffgeschichte schilderst. Sehr gut.

Und Du bist ein E. A. Poe - Fan.

Encora, MP,
lieber Gruß,

Dragon
 
E

Edgar Güttge

Gast
kaputte Fingernägel

Hallo Empi,

tolle Geschichte, gut geschrieben.
Ich meine, du solltest dich tatsächlich so schnell wie möglich daran machen, die Vorschläge mit dem Laster einzuarbeiten.
Mit gefiel der Schluss mit den Stumpen nicht. Das hinterließ bei mir einen unnötig schmerzhaften Nachgeschmack. Abgefeilte Fingernägel hätten es m.E. auch schon getan.

Gruß
Edgar
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

echt super, wenn das jetzt mit dem laster noch reinkommt. toll aufgebaut, spannend und gruselig.
ein kleiner tippfehler: "Wenn das unserer Eltern wüßten . . ." da is n r zuviel.
ganz lieb grüßt
 

Empi

Mitglied
Hi Leute,

also nach diesen ganzen Reaktionen - über die ich mich natürlich ungemein freue - werde ich mich in nächster zeit mal hinhocken und das mit dem laster abändern...
 
W

WindindenHaaren

Gast
Hi Empi, auch von mir Glückwunsch! Hast schön Spannung erzeugt und solltest weiterschreiben...

Kritisch-fragende Anmerkung: Ist unter der Erde Hörfunkempfang? Wenn ja.... dann ok, wenn aber nein, dann würde ich noch eine andere Wendung nehmen.... Denn es sollte ja auch "stimmig" und nicht nur allein spannend sein... Zu einer echt guten Geschichte müssen dann auch die Fakten passen, wenns auf Fakten aufgebaut ist. Aber es gibt auch die Alternative von "Gedankenexperimenten" wo Traum/Gedanke/Wirklichkeit eine andere Form von Symbiose eingeht und der Leser in ein Gespinnst von Verwirrung so geschickt verstrickt wird, dass er sich am Ende der spannenden Geschichte in einem Strudel fragloser Ratlosigkeit befindet. Das wiederum ist dann auch für den Leser spannend und gibt ihm viel Stoff zum nachdenken...

Aber trotz der Anmerkungen gefällt mir der Text gut... Kriegst ne Bewertung von mir!!!
gruß
chi
 

Empi

Mitglied
Sodele,

die sache mit dem laster und der radiomeldung ist nun bereinigt. das mit der farbe orange für den laster war mir etwas zu ungenau, deswegen der aufkleber mit der aufschrift "höllenritt"...
 
D

Dominik Klama

Gast
Extrem knappe Geschichte von einer Mutprobe unter Jungen, die zu einem Horrortrip vom Lebendig-begraben-Werden à la Edgar Allan Poe mutiert.

Hallo Empi, da gibt es nichts zu mäkeln. Das sitzt. Ich frage mich allerdings, ob die Geschichte immer noch so unangreifbar wäre, wenn sie etwas mehr Fleisch hätte, wenn du dich über etwas längere Distanz gewagt hättest. Hier bekommen wir wenig mehr als einen Einfall, bzw. einen Plot serviert. Personen kommen vor, über die wir so gut wie nichts erfahren. Dafür immerhin drei Stücke Popmusik! Gern erfahren hätte ich vor allem, warum die Burschen, die den Sebastian (ja, ein Märtyrername, Sterben in Schönheit) eingebuddelt haben, den Wald verlassen und mit dem Laster wegfahren. Sollte er da tatsächlich über Nacht liegen bleiben? Deshalb die Erwähnung des Mundstücks: Er muss viele Stunden lang Luft bekommen?

Wie eigentlich jeder Autor von Texten, deren Helden einerseits die Erzählerperspektive haben, andererseits aber irgendwann wahnsinnig werden und schließlich sterben, bekommst du formale Probleme mit dem Ende. Dem Horror zu Liebe hätte ein E. A. Poe hier bestimmt den Schrecken und die Verzweiflung und die absolute Verlassenheit heraufbeschworen. Du aber hast nur einen Satz dafür, den uns offenbar ein allwissender Autor schreibt, wie er zuvor im gesamten Text nicht vorgekommen war: „Dass er sich die Finger am Sargdeckel zu blutigen Stumpen rieb, registrierte er nicht mehr.“
 

Retep

Mitglied
Hi Empi,

deine Geschichte hat mich beeindruckt. Horror-Psycho liegen mir eigentlich überhaupt nicht, schon gar nicht, wenn es sich um "Übersinnliches" handelt.
Aber das ist Horror pur!
Ich konnte mir schon denken, dass da irgendetwas passieren würde, vermutete auch einen Unfall. Alles hat man schon irgendwann irgendwo gelesen, aber das spielt hier keine Rolle.
Man hätte die Geschichte sicherlich auch anders schreiben, die Erkenntnis der aussichtlose Situation im Sarg langsamer aufbauen können, aber es wäre dann eine andere Geschichte geworden. Sehr fraglich für mich, ob sie besser geworden wäre.

An deinem Text in der jetzigen Fassung habe ich nichts zu meckern.

Chapeau!

Gruß

Retep
 



 
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