„Ich bin ein Kind von Gestern
In meiner Mutter Kleid
In einem Meer von Tränen
vertreib ich mir die Zeit.“
(Marius Müller-Westernhagen)
„Hallo“, flüstere ich, obwohl ich weiß, du wirst mich nicht hören. Im Grunde wie immer.
Du bist nunmehr in deiner eigenen kleinen Welt - schwarz oder welche Farbe sie auch haben mag - die mir so fremd erscheint.
Die verlockenden Blumen um dich herum, all die Leute - das siehst du nicht. Du bist kalt.
Dein Gesichtsausdruck - eine Maske aus Gleichgültigkeit, die ich nicht zu durchbrechen vermag. Du bewegst dich nicht.
Dass sie alle wegen dir hier sind, scheint dir egal zu sein. „Du benimmst dich wie ein trotziges Kind“, rufe ich dir zu. „ Steh doch auf, mach etwas, beweg dich, verdammt!“
Wie oft ich das wohl schon zu dir gesagt habe?
Von den Anwesenden kommen komische Blicke, verhaltenes Getuschel.
Eine dunkle Haarsträhne hat sich aus der sorgfältigen Drapierung gelöst und kitzelt deine Nase. Du streichst sie nicht zurück.
Ich beobachte deine Hände. Ganz ruhig hast du sie auf dem Schoß liegen. Sie sind dunkel, dunkler als meine.
Lange Klavierspielerfinger, so zerbrechlich dennoch zärtlich; ich erinnere mich, wie sie über meinen Kopf und mein Wangen strichen, wie sie mich trugen und pflegten,wenn ich krank war. Auch wie sie mich schlugen und wie ich hämisch lachte, weil du nicht die Kraft aufbrachtest mir wehzutun.
Doch woher kommt der Kratzer über dem Ringfinger? Seit wann nur ziehen sich Falten wie ein feines Netz über deine Hand? Es ist lange her, seit ich sie das letzte Mal gehalten habe. Und auch jetzt habe ich Angst, dass du sie mir verwehrst. Ich greife zu.
Kühl und schwer liegt sie in meiner, …
Heftig und unkontrolliert schießen mir Bilder durch den Kopf. Du und ich, früher. Warme Sommerluft, orange Plastikschüsseln mit Tütennudelsuppe, du stößt meine Schaukel an, ich kämme dir die Haare.
Alles glänzt in der Sonne. Ich laufe in deine Arme und du fängst mich auf; drehst mich im Kreis, immer schneller und schneller. Habe ich es geträumt oder bist du damals wirklich freihändig mit dem Rad gefahren und hast Kaugummiblasen für mich gemacht?
Auf dem Kiesweg unseres Schrebergartens lerne ich Rollschuhfahren und schlage mir das Knie auf, wir fahren zur Apotheke und kaufen Käpt´n Blaubär-Pflaster. Extra für das Prinzesschen. Die Narbe bleibt dennoch, mein Andenken an einen wunderschönen Sommer.
Plötzlich realisiere ich, dass ich lächele.
„ Autosuggestion“ höre ich den tiefen Bass meines Therapeuten.Was hat er in meinem Kopf zu suchen?
„Hören Sie auf damit, Frau Manther. Sie wissen doch, wie es sich anfühlt, aus allen Wolken zu fallen. Illusionieren bringt sie nicht weiter. Stellen Sie sich den Fakten, schließen Sie damit ab.“
Im Grunde genommen, hat er Recht. Mit ihm zu diskutieren bringt nichts- ich fühle mich nur noch naiver, eine hilflose Fliege im Netz der Spinne die sadistisch das Gefressenwerden geniesst-
Ich horche auf. Aus der Küche höre ich Musik.
„Weiß man, wie oft ein Herz brechen kann? Wie viel Sinne hat der Wahn? Lohnen sich Gefühle?“ singt Herbert Grönemeyer. Wie erbärmlich, dass sie genau jetzt ihre CDs spielen.
Ich schwanke zwischen Melancholie und Wut.
Wenn ich von „ihr“ rede – und das tue ich nur widerstrebend - meine ich meine Mutter.
Ich habe sie vor drei Jahren verloren. Es war kein schneller Tod, sondern ein schleichender, langsamer – ebenso schmerzhaft wie unausweichlich.
Meine Mutter war eine ausgeglichene, freundliche Person. Sensibel, wunderbar komisch und liebevoll.
Als es begann war ich um die 12 Jahre alt und las Unmengen von Büchern.
Ich erinnere mich genau, wie wütend sie plötzlich wurde, wenn ich las.
„Du hast mich nicht mehr lieb“, schrie Mutter und warf einen Teller nach mir. Auch heute befindet sich in meinem ganzen beschissen leerem Kopf kein traurig-komischeres Bild als dieses.
Traurig-komisch ist nicht mal ein Wort, es gibt kein Wort für Empfindungen wie diese, schwarz, verdorben, verzweifelt, eine traurig-komische Gestalt, das trifft mich selbst ganz gut.
Ihre Ausbrüche, die mich anfangs furchtbar erschraken, wurde zum Alltag. Mutter klagte über Kopfschmerzen, das Wetter, dass ihre Hosen zu eng wurden, dass sie zu weit wurden, dass mein Vater sie nicht liebte.
Immer wenn sie sich unglücklich fühlte, kam sie in mein Zimmer -
verschloss die Tür, nahm den Schlüssel an sich, damit ich nicht fliehen konnte, setzte sich auf mein Bett.
Stundenlang breitete Mutter dann ihre Ängste und Sorgen vor mir aus, täglich.
Erzählte mir Dinge über meine Grosseltern, meinen Vater und meine Tante, die ich nicht wissen wollte.
Dass sie die Einzige sei, die mich mögen würde.
Nahm ich sie in den Arm, erdrückte sie mich fast, ließ mich nicht los.
Über die Jahre baute sie mehr und mehr ab.
Sie begann zu rauchen, ihr strahlendes Lächeln verwandelte sich nach und nach in ein gelbes Gebiss, ihre Haut und Augäpfel nahmen dieselbe Farbe an.
Zu jenem Zeitpunkt hätte mir ein weiteres Problem bewusst werden müssen, ich hatte genug über die menschliche Anatomie gelernt- aber ich verdrängte das mir Offensichtliche.
Ihr äußerer wurde zum Sinnbild für ihren inneren Verfall.
Panisch und unberechenbar kam meine Mutter eines Nachts in mein Zimmer gestürzt und erzählte mir, sie wolle sich umbringen. Ich hob meine Decke und sie kroch zu mir in das warme Bett. Sie zitterte epileptisch, ihre Kleidung war nass. Als ich sie in den Arm nehmen wollte, stieß sie mich weg und rannte aus meinem Zimmer.
Irgendwann kam sie nicht mehr von der Arbeit nachhause.
Oma holte mich und meine Geschwister ab, wir schliefen die Nacht bei ihr.
Als ich schon im Bett lag, kam Oma noch einmal zu mir, setzte sich neben mich – das Geräusch der quietschenden Bettfedern durch das Daunenkopfkissen, wie könnte ich nur das kleinste Detail vergessen – ich hielt mir die Ohren zu und begann laut zu summen.
„Mama hat ein Problem. Mit Alkohol. Das geht schon zwei, drei Jahre so“.Stille.
Dann, als sie mein gedämpftes Schluchzen hörte fügte sie etwas unsicher hinzu:
„...das kriegen wir schon hin.“
Stationäre Aufenthalte, Tageskliniken, Entzugsanstalten, Beratungsstellen, Psychologen, Psychiater und Psychopharmaka, Antidepressiva, alternative Methoden…meine Mutter konnte und wollte nicht mehr.
Fing eine Affäre an, gab uns auf und wurde nach wenigen Wochen verlassen. Kam zurück ins Haus und hasste uns für unsere Existenz.
Das war die Zeit, wo wir sie verloren.
Eines Morgens wachte ich auf und mir war klar, dass ich sie nie wieder sehen würde - meine Mutter.
Und von da an gab es nur noch dich.
Den ganzen Tag lagst du in ihrem Bett, ließt dich von ihrem Mann umwöhnen, gabst Befehle wie ein alter General.Du verlangtest, dass ich das Haus verlasse.Schnellstmöglich rausschmeißen sollte er mich, der alte Sack!
Warum er es nicht getan hat, war dir unbegreiflich.
Außer mir gaben dir stets alle Recht, wenn du deine infamen Ansichten zur Schau stelltest, nichts und niemand sollte auf dein empfindliches Gemüt schlagen.
Wenn du weintest, Anfälle bekamst, dich unter Drogen setztest, ein Krankenwagen kommen musste, war es immer meine Schuld. Niemals deine.
Ich verstehe nicht einmal, warum du mich so hasst.
Wer ist dieser Mensch der mir mit tränenüberströmten Gesicht: „Ich will dich zerstören, deine Seele in Stücke reißen...!“ entgegenbrüllt?
Ich sitze nicht wirklich wegen dir hier.
Habe dich kaum gekannt. Hätte man uns in der Wildnis ausgesetzt so wären wir zwei komplett verschiedene Richtungen gegangen, irgendwie sind wir das ja auch so.
Vielmehr hatte ich gehofft, dich endlich zu verstehen, die Distanz zwischen uns zu überwinden.
Endlich meinen Seelenfrieden zu finden.
Trotz aller Missverständlichkeiten zwischen uns, all den befremdlichen Situationen in denen ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte, in denen ich zwischen Stolz und Verletzlichkeit stand ;
warst du doch ein Mitglied unserer Familie.
In seltenen Momenten glitt das Lächeln vergangener Tage über dein Gesicht,
es war als ob du dich erinnerst,eine selige Erinnerung … nur woran?
Ein letztes Mal schaue ich dich an.
Du hast die Augen geschlossen, siehst unfassbar zart und verletzlich aus.
Wie lange habe ich dich so nicht gesehen.
Noch bevor ich nachdenken oder es verhindern kann, entfliehen die Worte meinen Lippen und hängen wie Nebelschleier in der Luft:
„Auf Wiedersehen, Mama. Ich hab dich lieb.“