Untiefen

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Lustlos rekelt sich Gerhard Melzer auf seinem neuen besonders bequemen Sofa unter dem Dachfenster. Müde sieht er hinauf, will er doch immer schon vor allem bequem liegen und hinaufsehen.
Das Sofa bedecken zwei braun-graue langhaarige Heidschnuckenfelle, die er im vorletzten Herbst bei einem Kurzurlaub in der Lüneburger Heide in einem Souvenir-Laden erwarb. Und obwohl die dazugehörigen Schafe vermutlich schon vor Jahren einem Schlachter zum Opfer fielen glaubt Melzer, wenn er mit gekrümmten Fingern durch die leicht fettigen Haare streicht, Leben unter den Fellen zu spüren.
Er fährt mit der rechten Hand durch die leicht verfilzten Haare, liegt besonders bequem und sieht hinauf.
Der föhnige Dezemberwind treibt graue Wolken vor sich her, die nur gelegentlich etwas Himmelblau durchschimmern lassen.
Ab und zu prasseln Graupeln auf die Scheibe und rutschen, nasse Bahnen hinter sich herziehend auf dem Glas abwärts.
Krähen, Tauben und eine Elster fliegen vorbei.
Schon lange gibt er sich Mühe, nicht einer von diesen müden abgebrühten Greisen zu werden. Staunen will er wie ein Kind, um sich nicht zu langweilen wie ein Erwachsener. Und auch wenn er Angst davor hat, möchte er noch Abenteuer erleben.
Mit gekrümmten Fingern streicht er durch die verfilzten Haare, liegt besonders bequem und sieht hinauf.
Alles fühlt sich flacher an. In letzter Zeit sehr viel flacher. Kaum einmal wühlt ihn etwas wirklich auf. Und begeistert hat ihn schon viel zu lange nichts mehr.
Natürlich könnte er diesen gefühlsarmen Zustand auch als Gelassenheit des Alters registrieren. Aber die passt weder zu seiner ständigen Anspannung noch zur Fantasie, die in seinem Hirn die alten Gedanken hinter neuen herjagt. Er hat keine Lust, sich selbst zu belügen und den vernünftigen Altersweisen zu geben.
Immer wieder glaubt er an fast jedem Morgen, wenn er zumeist lustlos aufsteht, noch Tiefe zu empfinden.
Nicht viel. Doch wenigstens für Momente.
Auch heute Morgen.
Aber schon beim Frühstück stellte sich dieses in den letzten Jahre so bekannte Empfinden ein. Fade war es wie Kaffee, der einmal mehr nicht stark genug sein durfte oder wie die aus Gründen leichter Verdaulichkeit seniorenfreundlich mäßig gewürzten Hähnchenschenkel, von denen er in letzter Zeit zu Abend häufig mindestens einen zu viel ißt.
Selbst wenn ein ordentlicher Verdauungsschnaps seine Speiseröhre hinabfließt, muss er sich nicht mehr – wie einst – kräftig schütteln. Immer öfter trinkt er ihn schon viel zu früh am Tag, auch, wenn er gerade gar nichts zu verdauen hat. Wenn er mit seinem Freund Heinz Werner Augstein einen trinkt, schüttelte der sich, offenbar ohne es zu müssen: Denn Hein, wie er seinen Freund nennt, ist noch in der Lage, sich spontan zu schütteln.
Gerhards erhöhter Blutdruck vertrage keine größere Aufregung mehr, behauptete vorgestern Doktor Brantel, sein inzwischen auch schon reichlich gealterter Hausarzt, der ihn ständig mit seinem geflügelten Wort nervte: „Wenn Ihr Herz noch klopft, leben sie, wenn es zu stark klopft, vielleicht nicht mehr lange.“ Und wie es denn mit dem Alkohol sei?
„Wenig“, erwiderte Gerhard wahrheitsgetreu.
„Besser gar nichts mehr,“ meinte der Arzt und ließ sein Haupt bedächtig hin- und herschwanken. „Viel besser, überhaupt gar nichts mehr.“

Gerade heult eine heftige Sturmböe um das Haus.
Gerhard schließt die Augen und sieht aufs Meer hinaus. Er hat sich immer gewünscht, ein Haus am Meer zu besitzen. Jetzt wohnt er mitten in einem Dorf im Bergischen Land. Das Meer wogt und schäumt. Krampfhaft hält er sich an der Reling fest. Gerade taucht das ziemlich große Fährschiff in ein weites Wellental, um kurz danach wieder daraus aufzutauchen.
Ein wenig übel ist ihm schon. Aber er weiß, so lange er an Deck in der frischen Luft bleibt, hat er keine Seekrankheit zu befürchten.
Kalter Regen prasselt ihm ins Gesicht. Er friert. Lacht laut. Und schreit ein triumphierendes „Jaaah“ in das Getöse.
Vorsichtig lässt er die Reling los und schwankt zum Vorschiff. Die Fähre ist älter. Überall wie Altersflecken auf der Haut kleine und größere Roststellen an den weiß-schmuddeligen Aufbauten.
Gerhard Melzer stemmt sich gegen den Wind, kommt schließlich nicht mehr voran und greift nach einer Stange, die neben mehreren anderen Stahlrohren ein klapperndes blaues Plastikdach trägt.
Schließlich dreht er um und tritt den Rückweg zum Heck an. Eine zerfledderte griechische Fahne knattert rückschiffs an ihrem Mast.
Das Oberdeck ist menschenleer. Ein paar Plastikstühle hat der Wind umgeworfen und an der hinteren Decksreling zusammen geschoben und ineinander verkeilt.
Melzer stellt sich einen Stuhl auf dessen Beine, setzt sich und atmet tief die salzige Luft ein.
Das Schiff hat den Kurs geändert. Es stampft nicht mehr sondern beginnt immer mehr zu rollen. Gischt spritzt von der Seite hoch und besprüht den grün gestrichenen Decksboden.
Melzer genießt es, nass zu werden.
Seine Augen will er nicht öffnen. Als er dennoch mühsam die verklebten Lider hebt, fliegen hinter der Dachfensterscheibe über ihm Regenwolken vorbei.
Keine Möwe sondern eine Krähe versucht gegen den Wind zu segeln. Rückwärts verschwindet sie aus seinem vom Fensterrahmen begrenzten Blickfeld.
Melzer hasst eingrenzende Fensterahmen und Ausblicke durch Glas. Kommt sich vor wie in einem Aquarium. Eingesperrt unsichtbaren Blicken ausgesetzt.
Angewidert schließt er die Augen erneut.
Das Schiff schwankt heftiger. Aus einem Lautsprecher krächzt eine Männerstimme: „Liebe Passagiere, hier spricht der Kapitän. Wegen des starken Seegangs und der Untiefen in diesem Gebiet müssen wir äußerst vorsichtig und langsam manövrieren. Daher werden wir mit erheblicher Verspätung im Hafen von Piräus einlaufen.“
Gerhard Melzer wundert sich, dass der Kapitän einer griechischen Fähre in deutscher und nicht wenigstens noch in griechischer und englischer Sprache seine Ansagen macht.
Was würde passieren, wenn das Schiff jetzt auf eine der Untiefen aufläuft? Würde es brechen? Umkippen? Gegen die Verspätung hat er nichts. Überhaupt nichts. Je länger er auf dem Schiff bleiben kann, desto lieber.
Er greift neben sich, fährt mit der rechten Hand durch leicht verfilzte Haare, liegt besonders bequem und sieht hinauf. Über ihm jagen sich immer noch dunkel- und hellgraue Wolken.
Sein Herz schlägt heftiger. Immer einmal hat er sich vorstellen wollen, Amok zu laufen, auf neugierige und entsetzte Gesichter zu schießen. Einfach so. Niemand würde einem harmlos, ja liebenswürdig aussehenden alten Weißhaarigen Morde zutrauen. Nicht einmal er selbst.
Das Schiff ist besonders geeignet. Kein Paasgier könnte auf offener See einfach abhauen. Und alle, die über Bord springen, braucht er nicht zu erschießen. Sie würden schnell in dem eiskalten Wasser ertrinken.
Zuerst wird er die Kommandobrücke stürmen, den Kapitän umlegen, dann in den Salon. Dort sitzen die arroganten Typen mit den teuren Tickets und trinken Sekt…
Ob es Waffen an Bord gibt?
Sein Herz schlägt heftiger. Wieder fährt mit der rechten Hand durch die leicht verfilzten Haare, liegt besonders bequem und spürt Leben unter dem fettigen Fell. Er verkrallt sich mit beiden Händen in langen Heidschnucken-Haaren, reißt die Augen auf, sieht zwei Krähen gegen den Sturm segeln.
Ein unerträglicher Schmerz zerrt von innen in seinem Brustkorb.
Er schließt die Augen. Das Schiff schwankt nur noch leicht. „Wir sind aufgelaufen!“ brüllt eine Stimme aus dem Lautsprecher „Bitte bewahren Sie Ruhe und befolgen Sie die Anweisungen der Mannschaft.“
Wieder fährt Gerhard Melzer mit den Fingern durch die verfilzten Haare, liegt besonders bequem und spürt kaum Leben unter dem fettigen Fell.
 
P

Pagina

Gast
Hallo Karl Feldkamp! Hatte weder Mühe, mich mit Lyrich nach Leben, Lieben, Lachen zu sehnen oder hinter seinen müden Augen mit in See zu stechen...aber die Passagiere abmezeln, weil das auch eine Art ist, sich mal wieder so richtig zu spüren? Hmmm.
Das muß ich nochmal wirken lassen.
 
Liebe Pagina,
danke für deine erste Rückmeldung und deine ausführliche Beschäftigung mit meinem Text.
Herzliche Grüße und alles Liebe zum Weihnachtsfest...
Karl
 



 
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