Unvernunft weiß weiter

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15 Jahre Gefängnis. Das ist für ihn in seinem Alter ja lebenslänglich, für ihn, der die Freiheit über alles liebte… . Mit einer so harten Strafe habe ich nicht gerechnet. Mit seiner Tat allerdings auch nicht.
Kopf schüttelnd hatte der vorsitzende Richter gesagt: „Andere in ihrem Alter wären froh, eine so liebevoll sorgende Frau um sich zu haben.
Max aber habe nur gegrinst und mit der Schulter gezuckt.
Ich lege die Zeitung mit dem Bericht beiseite und fühle mich mitschuldig.

„Meine Angst ist altmodisch. Vollkommen altmodisch wie ein Goldbronze-Rahmen mit neoromantischem Bild der Jungfrau Maria mit Kind.“ Ich sah ihm ins faltenreich grinsende Gesicht, zu dem die graugrünen, tief liegenden und von einer Milchglasschicht überzogenen Augen nicht recht passen wollten.
Eigentlich waren wir Schweiger. Sprachen wir dennoch, dann von unseren Gefühlen. Und ziemlich ungewöhnlich ist es doch, wenn Männer sich über ihre wahren Ängste unterhalten. Vor allem, wenn es verrückte Ängste sind.
„Ich bin gern altmodisch.“ Er schlug mit der Faust auf den Kneipentisch, nahm einen Stapel Bierdeckel, breitete Deckel für Deckel auf dem Tisch aus, zählte sie, legte einen zur Seite, sammelte die restlichen wieder ein und trank einen kleinen Schluck aus seinem Bierglas.
„Maria symbolisiert doch Geborgenheit“, wandte ich zögernd ein.
Hinter dem Milchglas seiner Augen blitzte es kurz auf. „Ich glaube weder an Maria noch an ihren göttlichen Sohn. Ich glaube an die Liebe und an Freiheit.“ Er wurde sonst nie pathetisch.
Von vielen unserer Kneipengespräche, die nie typische Kneipengespräch waren, wusste ich, dass er vor allem deswegen an die Liebe glaubte, weil sie schließlich in allen Religionen wichtig sei. Und sein geflügeltes Wort „Auch Christus hat gesagt, er sei die Liebe“, brachte er mindestens einmal am Abend, wenn wir uns in der „Ewigen Lampe“ trafen, obwohl er eigentlich nicht an Jesus glaubte.
Nachdem ihn eine Freundin verließ, habe er als Jugendlicher sogar überlegt, katholischer Mönch zu werden. Sehr lange sei das her. Und er begann an den Fingern die Jahre zu zählen, kam auf fünfundfünfzig und grinste.
Max, wie er sich bereits an unserem ersten gemeinsamen Kneipenabend vorstellte, kannte ich gut fünf Jahre. Wir trafen uns immer donnerstags, er trank nie mehr als zwei Bier und aß dazu immer eine Frikadelle.
Eigentlich war er eine imposante Erscheinung. Mit seiner schlohweißen vollen Mähne und seinem mächtigen Brustkorb, dessen Behaarung stets aus seinem Hemd quoll. Er trug es grundsätzlich offen.
Dennoch fiel es mir schwer, ihn ernst zu nehmen, nicht zuletzt, weil er jeden seiner Aussprüche mit unübersehbarem Grinsen kommentierte.
Wer könne denn uns überintelligente Affen schon ernst nehmen, wollte er häufig von mir wissen, und meinte damit nicht nur uns beide sondern die gesamte Menschheit. Meine Antwort war immer eine ehrliche: Ich zuckte mit den Schultern.
Max aber schlug wieder mit der rechten Faust auf den Kneipentisch, nahm den Stapel Bierdeckel zur Hand, breitete die Deckel auf dem Tisch aus, zählte sie, sammelte sie wieder ein, legte einen zur Seite und trank einen kleinen Schluck. „Manchmal habe ich die Angst, mich zu verzählen.“ Er grinste.
Ich nickte. „Die Anzahl der Bierdeckel ist doch vollkommen unwesentlich.“
„Genau. Unwesentlich wie wir und unsere Artgenossen. Versuche mal, denen was beizubringen. Sind doch alle zu selbstbewussten Zeitgenossen erzogen worden. Du etwa nicht?“
„Doch, die Absicht hatten meine Eltern.“
„Wer die Absicht hat, eine Ansicht zu haben, sollte davon absehen, sich anzusehen. Auch Christus hat gesagt, er sei die Liebe.“
„Wie meinst du das?“
Diesmal zuckte Max mit der Schulter, sah mir eine Zeit lang in die Augen, grinste und räusperte sich ausgiebig. „Ich seh Angst in deinen Augen. Du hast Angst, mir keine vernünftige Antwort geben zu können. Deine Angst ist nicht altmodisch. Aber meine. Ich habe Angst vor vernünftigen Antworten.“
Danach verstummte unser letztes Gespräch. Er verließ den Tisch, ging zum Klo und nahm, wie immer, den Hinterausgang neben den Toiletten.
Am nächsten Donnerstag wartete ich vergeblich auf ihn. An den darauf folgenden auch.
Da er mir weder erzählte, wo er wohnte, noch mir seinen Familiennamen verriet, ging ich davon aus, dass sein Privatleben tabu sei. Von seiner Frau wusste ich nur, dass sie Maria hieß, da er zum Abschied immer sagte: „Ich muss jetzt gehen, meine Maria wartet.“
Max fehlte mir, nicht nur donnerstags. Täglich dachte ich an ihn. Mehrmals täglich, selbst nachts.
Und immer wenn ich an ihn dachte, fielen mir seine Sprüche ein. „Alles hat kein Ende“, behauptete er grinsend. „Und nichts auch nicht, denn es ist das Ende.“
Manches sprach dafür, dass er gestorben sein, ja, sich umgebracht haben könnte. Über siebzig war er, neigte zu merkwürdigen Ängsten und sah nicht selten, trotz seines Grinsens, äußerst depressiv aus.
Dennoch behauptete er immer wieder, seine altmodische Angst würde ihn am Leben erhalten. Denn Vernunft, ausschließlich Vernunft sei tödlich. Und überintelligente Affen seien wilde Tiere, die sich nicht wirklich zähmen ließen. Auch nicht mit Vernunft.
 

Joh

Mitglied
Guten Morgen Karl,

eine leise melancholische Geschichte, in die Du sehr viel an zurückhaltender Männerfreundschaft hineingeschrieben hast, doch man spürt deutlich die Tiefe der Zuneigung. Der eine ein Mann, der an die Liebe und Freiheit glaubt und auf eine Art über das Menschsein (der intelligente Affe)philosophiert, die mir beim Lesen sehr gefallen hat, auch weil es meiner eigenen Lebenssicht sehr nahe kommt. Und der Freund, der sich mitschuldig fühlt, weil er keine vernünftige Antwort hat geben können. Sehr fein erzählt.

LG an Dich, Johanna
 
15 Jahre Gefängnis. Für ihn mit seinen siebzig Jahren ist das lebenslänglich, für ihn, der die Freiheit über alles liebte.
Kopfschüttelnd hatte der vorsitzende Richter gesagt: „Andere in ihrem Alter wären froh, eine so liebevoll sorgende Frau um sich zu haben.
Max aber habe nur verlegen gelächelt und mit der Schulter gezuckt.
„Mord nach goldener Hochzeit“. Eine alberne Schlagzeile. Ich lege die Zeitung beiseite und fühle mich mitschuldig. Natürlich werde ich ihn im Knast besuchen. Soll ja jetzt sogar schon Senioren-Knäste geben.

Wie ich ihn kenne, werden unsere Gespräche hinter Gittern nicht anders sein, als die in unserer Kneipe. An unser erstes erinnere ich mich noch genau:
„Meine Angst ist altmodisch. Vollkommen altmodisch wie ein Goldbronze-Rahmen mit neoromantischem Bild der Jungfrau Maria mit Kind.“ Ich sah ihm ins faltenreich zum Lächeln erstarrte Gesicht, zu dem seine graugrünen, tief liegenden und von einer Milchglasschicht überzogenen Augen nicht recht passen wollten.
Eigentlich waren wir Schweiger. Sprachen wir dennoch, dann von unseren Gefühlen. Immerhin ist es ziemlich ungewöhnlich, wenn Männer sich über ihre wahren Ängste unterhalten.
„Ich bin gern altmodisch.“ Er schlug mit der Faust auf den Kneipentisch, nahm einen Stapel Bierdeckel, breitete Deckel für Deckel auf dem Tisch aus, zählte sie, legte einen zur Seite, sammelte die restlichen wieder ein und trank einen kleinen Schluck aus seinem Bierglas.
„Maria symbolisiert doch Geborgenheit“, wandte ich zögernd ein.
Das Milchglas vor seinen Augen klarte kurz auf. „Ich glaube weder an Maria noch an ihren göttlichen Sohn. Ich glaube an die Liebe und an die Freiheit. Die gehören zusammen.“ Immer wenn es ihm um Freiheit und Liebe ging wurde er pathetisch. Ansonsten klang seine Stimme gelangweilt oder nüchtern. Und die beiden Klangarten konnte ich kaum voreinander unterscheiden.
Von vielen unserer Kneipengespräche, die nie typische Kneipengespräch waren, wusste ich, dass er vor allem deswegen an die Liebe glaubte, weil sie schließlich in allen Religionen wichtig sei. Und sein geflügeltes Wort „Auch Christus hat gesagt, er sei die Liebe“, brachte er mindestens einmal am Abend, wenn wir uns in der „Ewigen Lampe“ trafen.
Als seine Freundin ihn verließ, hatte er als Jugendlicher sogar überlegt, katholischer Mönch zu werden. Lange sei das her. Und er begann an den Fingern die Jahre zu zählen, kam auf fünfundfünfzig und winkte verächtlich ab.
Max, wie er sich bereits bei unserem ersten gemeinsamen Kneipenabend vorstellte, kenne ich gut fünf Jahre. Wir trafen uns immer donnerstags, er trank nie mehr als zwei Bier und aß dazu immer eine Frikadelle. Dabei strich er sich genüsslich über seinen Bauch, der, eingezwängt durch einen eng geschnallten breiten Ledergürtel, einigen Überhang hatte.
Eigentlich war Max eine imposante Erscheinung. Mit seiner schlohweißen vollen Mähne und seinem mächtigen Brustkorb, dessen graue Behaarung stets aus seinem Hemd quoll. Er trug es grundsätzlich mindestens zwei Knopf weit offen.
Ihn ernst zu nehmen, fiel mir nicht zuletzt deswegen nicht leicht, weil er jeden seiner Aussprüche mit verlegenem Lächeln kommentierte.
Wer könne denn uns überintelligente Affen schon ernst nehmen, wollte er häufig von mir wissen, und meinte damit nicht nur uns beide sondern die gesamte Menschheit. Meine Antwort war stets eine ehrliche: Ich lachte und zuckte mit den Schultern.
Max aber schlug mit der Faust auf den Kneipentisch, nahm den Stapel Bierdeckel zur Hand, breitete die Deckel auf dem Tisch aus, zählte sie, sammelte sie wieder ein, legte einen zur Seite und trank einen kleinen Schluck. „Manchmal habe ich die Angst, mich zu verzählen.“
Ich nickte. „Die Anzahl der Bierdeckel ist doch vollkommen unwesentlich.“
„Genau. Unwesentlich wie wir und unsere Artgenossen. Versuche mal, denen was beizubringen. Sind doch alle zu selbstbewussten Zeitgenossen erzogen worden. Du etwa nicht?“
„Doch, die Absicht hatten meine Eltern.“
„Wer die Absicht hat, eine Ansicht zu haben, sollte davon absehen, sich anzusehen. Auch Christus hat gesagt, er sei die Liebe.“
„Wie meinst du das?“
Diesmal zuckte Max mit der Schulter, sah mir eine Zeit lang in die Augen, lachte, verschluckte sich, rang nach Luft , musste sich anschließend lange räuspern, um mir dann zu antworten: „Ich seh Angst in deinen Augen. Du hast Angst, mir keine vernünftige Antwort geben zu können, weil ich Angst vor vernünftigen Antworten habe.“
Danach verstummte unser vorerst letztes Gespräch. Er verließ den Tisch, ging zum Klo und nahm, wie immer, den Hinterausgang neben den Toiletten.
Am nächsten Donnerstag wartete ich vergeblich auf ihn. An den darauf folgenden auch.
Da er mir weder erzählte, wo er wohnte, noch mir seinen Familiennamen verriet, ging ich davon aus, dass sein Privatleben für mich tabu sei. Von seiner Frau kannte ich nur den Vornamen, da er zum Abschied immer sagte: „Ich muss jetzt gehen, Maria wartet.“
Max fehlte mir, nicht nur donnerstags. Täglich dachte ich an ihn. Selbst nachts.
Und immer wenn ich an ihn dachte, fielen mir seine Sprüche ein. „Alles hat kein Ende“, behauptete er. „Und nichts auch nicht, denn es ist ja das Ende.“
Manches sprach dafür, dass er gestorben sein, ja, sich umgebracht haben könnte. Schließlich neigte er zu merkwürdigen Ängsten, lächelte zu viel und sah nicht selten äußerst depressiv aus.
Obwohl er immer wieder behauptete, seine altmodische Angst würde ihn am Leben erhalten. Vernunft, ausschließlich Vernunft sei tödlich. Und überintelligente Affen seien wilde Tiere, die sich nicht wirklich zähmen ließen. Auch nicht mit Vernunft.
 



 
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