Utopia

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Der Deal ging über die Bühne, ich hatte die beiden mächtig verarscht, sie grinsten trotzdem unbeeindruckt selbstgefällig in der Gegend umher, und das ging zu weit, gleich würde sich mein Gewissen einschalten, ich war einer von den Guten, nur leider verdammt noch mal pleite, mach dass du hier wegkommst, und draußen verlor jemand endgültig die Nerven, alles wilde Huperei…“Du Arschloch, fahr deine Scheißkarre aus dem Weg, ich habe Kunden hier drinsitzen, die vor zehn Minuten am Flughafen hätten sein müssen”…, gleich würden die Fäuste fliegen, oder auch nicht, wer konnte das schon abschätzen. Phil zuckte mit seinen Händen in der Gegend herum, glaubt es mir, das konnte einen stinknormalen Menschen innerhalb weniger Sekunden an den Rande des Wahnsinns treiben, zappel zappel, dazu dieses nervöse Flackern in seinen Augen, er pisste sich regelrecht in die Hose, witterte die große Bombe, die gleich hochgehen und alles in Schutt und Asche legen würde. Vielleicht hatte er recht, ich hatte es eindeutig übertrieben, die Summe, die ich den beiden genannt hatte, war ein Witz gewesen, kein besonders guter dazu. Ich hatte es probiert, mein Startangebot bewusst hoch gewählt, sollten sie mich doch runterhandeln. Ich hatte mich auf zähe Minuten des unnachgiebigen Feilschens eingestellt, Zigarette im Mundwinkel, ein bisschen Bogart ohne Trenchcoat, eine fein dosierte Note Hollywood-Mafiosi, und diese Scheisser, gerade achtzehn mussten sie sein, genoßen das zu meiner Verwunderung regelrecht. Ihre zusammengekniffenen Augen funkelten vor Erregung, so hatten sie sich das vorgestellt, hier “in der großen Stadt”, alles ein bisschen schwitzig und zwielichtig, eine elektrisierende Injektion Kleinkriminalität und Grenzgängertum in die von Monotonie und Ereignislosigkeit zerknautschte Hauptschlagader ihrer Kleinstadtexistenzen. Ich würde diese Wichser niederringen, soviel stand fest, und versteht mich nicht falsch, nicht weil mir das etwas “gab”, sondern weil ich die Knete dringend nötig hatte. Man muss sehen, dass der Kelch nicht ständig an einem vorbeiwandert, das Leben ist eine triste Angelegenheit, wenn die anderen feist grinsend auf der Sonnenseite wandeln und du dich in einem Morast aus unbezahlten Rechnungen und billigem Dosenbier auf der heimischen Couch versinken siehst. “Okay”, hatte der Dicke dann gesagt, ganz beiläufig, ein wenig enttäuscht vielleicht, seine Mundwinkel flappten ein Stück weit gen Erdboden, aber keineswegs verärgert, “Okay..so machen wir’s!”, und dann hatte er sich an seiner knorpeligen Provinznase gekratzt, seine wulstigen Finger waren in die linke Hosentasche seiner bedenklich eng anliegenden Jeans geflutscht und Sekunden darauf mit einem fraglos anbetungswürdigen Bündel bunter Scheine zurückgekehrt.

Und jetzt stand ich da, wir hatten getauscht, Ware (wenig) gegen Geld (viel), Phil perlte aus jeder Pore seiner heißgelaufenen Stirn, und ich wusste nicht warum, vielleicht der Alkohol, vielleicht das überbordende Glücksgefühl des schnellen Triumphes, vielleicht war ich auch doch einfach nur das Arschloch, für das mich jeder zweite hielt, ich wusste wirklich nicht warum, aber ich blieb und steckte mir noch eine Zigarette an, während ich dem Dicken galant mein Feuerzeug aushändigte.

Alles fieberte, hinter dem schweren Vorhang in unserem Rücken eine ekstatisch wogende Masse aus Losgelöstheit und Testosteron, die Tanzfläche war durchschaubar, transparent wie eine frisch polierte Glasscheibe und beherbergte doch all die todesmutigen Träumereien und gierigen Hoffnungen auf ein besseres “Morgen”, ein bisschen mehr Leben und eine neue Perspektive. Jeder wollte. Mehr. Noch viel mehr. Und wenn das schon nicht auf der Tageskarte stand, dann zumindest ein bisschen. Ein auf und ab springendes Paar wohlgeformter Titten würden schon reichen, vielleicht eine schnelle Nummer in der engen Toilettenkabine, um einen herum nur die graffitiverschmierten Wände, “Fuck Bush”…”Nazis Raus!”, und das Gefühl, sich endlich einmal freimachen zu können von dem ganzen Mist, da bist nur du Junge, dein Herz schlägt rhythmisch, leicht zerkratzt, aber noch ungebeugt, noch haben sie dich nicht, zumindest nicht ganz, die da oben mit ihren grauen Anzügen und ihrem blutleeren Gefasel von Gewinnbilanzen und neuen Absatzmärkten, da ist nur dieser Moment, wenn du in sie hineinrutscht und sie kurz einatmet, ganz so, als würde sie sich erschrecken, und wie ihre Augen dabei rollen, das ist viel wert. Mehr als das meiste, weil es klar ist wie blaugefrorenes Eis , weil du es fühlst, und was fühlst du sonst schon noch, vergiss alles andere, vielleicht ist das hier die Wende, noch ist der Deckel nicht drauf, alles kann gut werden oder wenigstens besser.

So dachten sie, all die umherirrenden Geister auf dem scherbenubersäeten Dancefloor, die Sehnsucht war allgegenwärtig und kroch einem aus jedem Winkel des Raumes entgegen, tief hinein in die Seele, in das, was noch vor sich hin zuckte. Die Verzweiflung war greifbar und vermischte sich mit einer unheilvollen Mixtur aus abwegigen Hoffnungen und naiven Träumereien zu einem übelriechenden Emotionscocktail, alle wollten sie an den Sternen lutschen und den Horizont einreißen. Bis die Morgendämmerung den modrigen Gestank der unvermeidlichen Niederlage an ihre Nasen tragen würde, so ist das mit dem Leben und den nicht verteilten Geschenken, lediglich der Vorhang trennte mich noch von ihnen und ich wusste, dass es nur wenige Drinks dauern würde, bis auch ich ihn zur Seite schieben und bis ins Zentrum ihres heuchlerischen Maskenballs vordringen würde. Mit prallgefüllten Taschen, das machte die Sache nicht unbedingt weniger kompliziert. Was hatte ich hier verloren? Was hatte mich zu einem von ihnen werden lassen? Ich durchschaute die ganze Sache, ich genoss die Vogelperspektive, da waren Abstand und Verachtung, ich träumte nicht mehr, sondern nahm mir, was zu holen war. Und doch stand ich dort und fühlte mich einbetoniert, unfähig ein kurzes “Bis dann” auszuhusten und einfach zu verschwinden. Noch ein tiefer Schluck aus meinem warm angelaufenen Glas, dieser Abend war noch nicht gelaufen, alle Abende sind noch nicht gelaufen. Bis sie dann gelaufen sind. Ich schloß die Augen, öffnete sie wieder und versuchte die Situation zu überblicken.


Der Dicke strotzte, alles platzte aus den Nähten, das war mehr als er erwartet hatte, jetzt rauchte er auch noch eine Zigarette mit dem “Dealer”, - ich musste ihm eine angeboten haben, während ich geistesabwesend vor mich hin gestarrt hatte - jeder konnte es sehen, es gab Zeugen, sie würden schön blöd glotzen, die milchgesichtigen Verlierer in seinem Heimatort, diese Geschichte konnten sie ihm nicht nehmen. Draussen stank die Welt wie sie nur im tiefsten Winter stinkt, es war eine schneeweiße Widerwärtigkeit gehobener Güteklasse, der Wind trieb die zitternden Flocken durch die Gassen, dass einem nur schlecht werden konnte, und ich beschloss zu bleiben, noch einen Drink, noch ein paar warme, eingelullte Momente im Schoß der hochschwangeren Nacht, während das flackernde Neonlicht über der Eingangstür in roten, brüchigen Lettern schrille Arien vom Niedergang einer Generation vor sich hin krähte. Vielleicht übertrieb ich aber auch bloß. Ich neigte dazu. Immer und fortwährend. Der Vorhang in meiner Hand fühlte sich rau an, anders als ich es erwartet hatte. Ich schob ihn zur Seite. Phil schwitzte ungläubig vor sich hin. Der Dicke paffte ovale Ringe in die klebrige Luft. Irgendetwas war schiefgelaufen, ich fühlte es. Ich war falsch abgebogen. Wieder mal. Draussen das Neonlicht.
 



 
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