Verdammt - Nach einer Zeitungsmeldung

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HFleiss

Gast
November, November. Die Pappel auf der anderen Straßenseite, unter der Sven Worgetzki seine Selbstgedrehte rauchte, hatte beinahe all ihr Blattwerk verloren, es lag, wunderbar sonnengelb, nun aber vom Regen verschmutzt, auf der Straße. Sven ärgerte sich, seit er das Haus verlassen hatte, regnete es. Er verabscheute Kopfbedeckungen, und der Schirm, den ihm Andrea aufdrängen wollte, kam erst recht nicht in Frage. Er fror ein wenig und stampfte auf dem nassen Laub herum, als wolle er nicht nur den November ungeschehen machen. Das Arbeitsamt war noch nicht geöffnet, dennoch hatten sich bereits Leute eingefunden. Rauchend und frierend standen sie beisammen, schweigend, jeder für sich, kaum sprachen zwei miteinander. Jetzt war es Punkt neun, aber die breite gläserne Eingangstür, durch die sich bald Ströme von Menschen ins Amt bewegen würden, war noch verschlossen.

Sven zertrat verärgert den Zigarettenstummel. Mit schnellem Schritt ging er über die Straße, und ohne einen Blick in die zugeknöpften Gesichter der Wartenden zu werfen, reihte er sich am Ende der Schlange ein. Es war drei Minuten nach neun, als ein hochgewachsener Mann mittleren Alters die Tür von innen aufschloss. Noch immer schweigend, ohne Murren, strömten die Wartenden ins Amt.

Sven zog eine Wartenummer. Er war gleich in den vierten Stock gestiegen, zu seiner Zuständigen, Frau Meyer-Kaske. Was dachte sich die Frau bei diesem Bescheid? Wovon sollte er denn mit Andrea und Murkel leben? Von den paar Piepen? Sie hatte etwas falsch verstanden, sicher hatte sie etwas falsch verstanden, etwas vergessen in den Computer einzugeben. Ja, jetzt war er in Hartz IV gefallen, aber mein Gott, doch nicht in die Gosse.

Frau Meyer-Kaske hatte auf ihren Computer gestarrt und nichts erwidert, als er sagte,
nichts sei ihm lieber als ein neuer Job, möglichst in seiner Branche, Metall, er sei gelernter Dreher und geeignet für alles, was so anfallen könnte, auch unter Tarif.

Im Warteraum fand er keinen Sitzplatz mehr. Ein paar Türkinnen, sehr jung, saßen am Fenster und tuschelten. Sie hatten Kinderwagen dabei, eines der Kinder greinte. Die meisten der Wartenden waren Frauen, nur wenige Männer seines Alters saßen in den unbequemen Stühlen an der Wand aufgereiht. Sven lehnte sich an eine Säule und sah auf die Armbanduhr, der erste Kunde, wie man jetzt die Arbeitslosen nannte, war schon hinter Frau Meyer-Kaskes Tür verschwunden.

Frau Meyer-Kaskes Tür öffnete sich überraschend schnell. Eine junge Frau trat heraus, an der Hand einen Dreijährigen. Mit unbewegtem Gesicht stand sie einen Moment, Sven kam es vor, als sei sie betäubt, dann bückte sie sich und zog den Anorakreißverschluss des Jungen zu. Der Apparat an der Wand rasselte und piepte. Sven sah hoch: Er war dran, die 18, Zimmer 14.

Frau Meyer-Kaske lächelte nicht, als sie Sven erkannte. „Guten Tag, Herr Worgetzki“, sagte sie reserviert. „Was führt Sie zu mir?“

Sven errötete, er merkte, dass ihm Schweiß ausbrach. „Der Bescheid“, stieß er hervor. „Da kann doch was nicht stimmen. Ich habe auch alle Papiere bei. Rechnen Sie doch noch mal nach.“ Er nestelte nach den Papieren in der Innentasche des Anoraks.

„Nicht nötig.“ Frau Meyer-Kraske wandte sich ihrem Computer zu. Minuten vergingen, schweigend, nur Straßengeräusche und Svens gespanntes Atmen waren zu hören.

Frau Meyer-Kraske öffnete den Mund. „Ich kann keinen Fehler feststellen. Ich habe alle Ihre Angaben berücksichtigt. In ein paar Monaten kann ich Ihnen eine Maßnahme anbieten.“

„Was für eine Maßnahme?“

„Das ergibt sich dann.“

Sven verstummte. Er hätte sich den heutigen Gang sparen können. Was für eine Maßnahme konnte sie ihm schon anbieten? Einen 1-Euro-Job? Darauf war geschissen. Er war qualifizierter Dreher und verkaufte sich nicht unter Wert. Ruckartig erhob er sich, ohne ein Wort ging er zur Tür.

Noch immer wie betäubt, nahm er den Weg durch eine Seitenstraße zum U-Bahnhof. Vor der Imbissbude blieb er stehen, las das Angebot auf dem Aufsteller: Grüne Bohnen mit Fleisch, Bockwurst, Currywurst mit Salat, Glasnudeln mit ausgesuchtem Gemüse. Entschlossen öffnete er die Tür. Er steuerte zum Tresen. „Pils und einen Kurzen“, sagte er. Der Verkäufer, ein junger Mann, wies auf einen freien Tisch. In der Ecke, an dem anderen Tisch, saßen zwei Mann, vor sich die halbleeren Biergläser. „Nicht am Tresen“, sagte der Verkäufer.

Sven sah nicht auf die Uhr. Er sah überhaupt nichts. Das einzige, was er wahrnahm, war, dass das Bier nicht gut genug gekühlt war. Trotzdem bestellte er eines nach dem anderen, dazu jedesmal einen Kurzen. Der Verkäufer runzelte die Stirn, schob aber das Bestellte über den Tresen.

Plötzlich erhob sich Sven, er hatte doch auf die Uhr gesehen, es war halb zwei, Andrea wartete. Heute würde sie sehr lange warten müssen. Er bezahlte am Tresen, gab großzügig Trinkgeld und verließ die Bude. Auf der Straße merkte er, dass er zuviel getrunken hatte.

Er torkelte. Das Straßenpflaster flutschte ihm unter den Füßen weg. Eine ältere Frau sah ihm empört nach, fühlte er im Rücken. Sven versuchte sich zusammenzunehmen, es gelang ihm nur halb. Vor dem Laden mit allerlei Werkzeugen in der Auslage blieb er stehen. Er gab sich einen Ruck und betrat das Geschäft. „Benzin? Führen Sie so was?“ Die junge Verkäuferin bongte den Kauf, Sven bezahlte und schnappte sich die Flasche.

Er verlief sich auf dem Weg zum Arbeitsamt, fand dann aber doch wieder die Hauptstraße.
Er stellte sich unter die Pappel, unter der er heute morgen auf das Öffnen der Tür gewartet und dabei die Leute beobachtet hatte. Es regnete nicht mehr, der Himmel hatte aufgeklart.
Die Leute waren verschwunden, nur ab und zu kamen ein paar Eilige und tauchten in die Dunkelheit des Gebäudes ein.

Sven wartete. Er tastete nach der Benzinflasche in der Anoraktasche. Er hatte einen Entschluss gefasst.

Langsam übergoss er sich mit dem Benzin, stoßweise. Er schauerte zusammen, als die Flüssigkeit ihm durch die Kleidung auf die Haut drang. Er nestelte das Feuerzeug heraus, noch immer ohne ein Wort. Ein Mann blieb stehen und beobachtete ihn. Dann sah er die leere Benzinflasche am Boden. Entgeistert las er die Aufschrift: Benzin. Er begann zu schreien und lief ins Arbeitsamt. Ein paar Leute stürzten heraus.

Zwei Männer umklammerten Sven von hinten, einer versuchte ihm das Feuerzeug zu entreißen. Eine Frau kreischte. Drei Polizeiautos hielten. Neugierige hatten sich gesammelt. Sven fühlte sich unsanft gepackt, ihm wurden Fesseln angelegt. Das Kreischen der Frau lag ihm in den Ohren. Sie filzten ihn. Ein Polizist zerrte seinen Ausweis aus der Anorakinnentasche.

Sie fuhren. Durch Straßen, die Sven nicht kannte, belebte Straßen. Der Polizist, der neben ihm auf der Rückbank saß, beobachtete ihn. „Wie fühlen Sie sich?“, fragte er. „Anständig gepichelt, was?“ Sven brummte irgendwas.

Das Polizeiauto stoppte, die beiden Polizisten sprangen heraus. „Aussteigen! Wir sind da.“

„Wo? Sagen Sie mir, wo ich hier bin! Meine Frau wartet.“ Sven machte Anstalten, die Fesseln loszuwerden. „Das lassen Sie mal schön sein.“ Ein Polizist schloss die Fesseln auf.

„Sie wird benachrichtigt. Nun nehmen Sie sich endlich zusammen! Herrgott nochmal. Wo Sie hier sind? Raten Sie mal. Wo Sie hingehören. In Ihrem Zustand.“

Sven ließ sich auf einen Stuhl fallen. Der Raum war ein Warteraum. Vor dem Fenster hörte er die Polizisten reden, sie gingen zu ihrem Wagen zurück. „Brüsewitz-Kopie! Es ist zum Lachen!“

Es roch, unangenehm, nach Krankenhaus. Sven stürzte in die Ecke am Fenster und übergab sich. Er tapste zu seinem Stuhl zurück und wischte sich mit dem Tempotaschentuch den Mund ab.

Eine Tür öffnete sich. Mit besorgtem Gesicht blickten zwei Krankenschwestern zu ihm herüber. Dahinter, einen Kopf größer, zeigte sich in der Tür ein kahlköpfiger Arzt. Sein Kittel war weiß. Weiß wie Svens Gesicht.

(2006)
 



 
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