Verdammt lang her

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Raniero

Textablader
Verdammt lang her


Zaghaft klopfte es an die Tür.

„Herein“ rief Ernst Jobst, der Sachbearbeiter des Straßenverkehrsamtes in jovialem Tonfall, „wenn’s kein Schneider ist.“
Vorsichtig öffnete sich die Tür und herein trat ein kleines hutzeliges Männlein, so Mitte Siebzig, gefolgt von einer ebenso kleinen hutzeligen Frau im gleichen Alter.
„Dürfen wir wirklich hinein?“ fragte die beiden und blieben mitten im Raum erst einmal stehen.
„Ja, selbstverständlich“ wunderte sich Ernst Jobst, „was für eine Frage. Sie sind doch schon hier drin. Treten Sie doch näher und nehmen Sie Platz.“
„Ich meine nur“ druckste der Mann, „na, ja, weil wir Schneider heißen. Robert und Ute Schneider, Ute, das ist meine Frau.“
Der Sachbearbeiter verstand nicht auf Anhieb; erst, nachdem die beiden Alten vor ihm saßen, ging ihm ein Licht auf und er musste lachen.
„Ach so“ drohte er Herrn Schneider scherzhaft mit dem Finger, Sie sind mir aber ein ganz Gewitzter, was?“
Der ganz Gewitzte errötete, und mit ihm seine Frau Ute.
„Was kann ich denn für Sie tun, meine Herrschaften?“ wollte der Sachbearbeiter wissen.
Herr Schneider räusperte sich verlegen.
„Na, ja, wir sind nicht von hier und wir kommen in einer recht ungewöhnlichen Angelegenheit. Eigentlich ist das ja eher eine Sache für die Polizei, und so dachten wir zuerst auch und waren dort schon vorstellig, doch die haben uns zu Ihnen geschickt, zuständigkeitshalber.“
„Donnerwetter, Sie waren sogar schon bei der Polizei. Was muss das denn für eine ungewöhnliche Sache sein, dass die Polizei die nicht selbst klären kann und Sie zu mir schickt. Die wissen doch sonst immer alles, die Burschen. Haben Sie etwa ein Auto gestohlen?“ lachte er.
„Das nicht, beeilte sich der Alte zu versichern, „eher das Gegenteil, nicht wahr Ute?“
Ute nickte.
„Das Gegenteil? Ist Ihnen etwa Ihr Auto gestohlen worden? Dafür ist dann doch die Polizei zuständig. Oh, diese Lümmel, immer wälzen sie alles ab.“
„Das auch nicht. Gestohlen worden ist unser Auto nicht gerade, doch es ist nicht mehr da.“
„Es ist nicht mehr da? Wie soll ich das verstehen?“
„Wir können es einfach nicht mehr wiederfinden, unser Auto. Wir haben gesucht und gesucht, in der ganzen Stadt, doch wir können es einfach nicht mehr wiederfinden.“


„Also ist es doch Sache der Polizei“ ärgerte sich der Sachbearbeiter, „wenn Sie Ihr Auto irgendwo geparkt haben und es nicht mehr wiederfinden, ist das in erster Linie eine Angelegenheit der Ordnungshüter und nicht meine. Sie sind hier auf dem Straßenverkehrsamt. Verdammt, ich könnte sie irgendwo hintreten. Nicht Sie, ich meine die Polizisten, die Sie hierher geschickt haben, aber so weinen Sie doch nicht!“
Die beiden Alten brachen tatsächlich in ein hemmungsloses Schluchzen aus, das Ernst Jobst, den knallharten Sachbearbeiter, nicht kalt ließ.
„Wissen Sie noch, auf welcher Polizeiwache Sie waren. Ich rufe da mal an.“
„Nein, nein“ flehten die beiden Alten unisono, „es ist ja unsere Schuld, und die Polizisten kamen uns ja schon sehr entgegen, doch sie sagten, da hätten wir uns einfach eher melden müssen, da könnten sie uns nun auch nicht mehr helfen. Die einzige Möglichkeit, die sie noch sahen, war das Straßenverkehrsamt, und deswegen sind wir jetzt bei Ihnen.“
„Ich verstehe nicht ganz. Was heißt, Sie hätten sich eher melden müssen? Wie lange suchen Sie Ihren Wagen denn schon?“
„Seit genau fünfzig Jahren.“
„Was???“
„Das ist es ja gerade“ , erklärte der Alte mit weinerlicher Stimme, „wir hätten uns sicher eher melden sollen, da hat die Polizei schon recht, deswegen haben sie uns ja hierhin geschickt, die einzige Stelle, haben sie gesagt, wo man vielleicht noch was rauskriegen kann.“
„Noch was rauskriegen kann?“ fasste sich Ernst Jobst mit beiden Händen an den Kopf. „Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie vor fünfzig Jahren Ihr Auto irgendwo in dieser Stadt geparkt haben und es seitdem suchen? Das gibt’s doch gar nicht! Was soll ich denn da Ihrer Meinung nach noch rauskriegen?“
Die beiden Alten standen vor dem nächsten Weinkrampf.
„Nicht weinen, ich bitte Sie“ flehte Ernst Jobst, „beruhigen Sie sich doch, erzählen Sie mal, ganz in Ruhe. Was ist denn damals genau passiert, vor fünfzig Jahren?“
Während dem Mann noch die Tränen über die Wangen liefen, ergriff seine Frau das Wort.
„Vor genau fünfzig Jahren haben wir unsere Hochzeitsreise angetreten, nach Paris, mit dem Auto, mein Robert hatte gerade frisch seinen Führerschein.“
Dankbar drückte Robert seiner Ute die Hand.
„Und auf unserer Hochzeitsreise damals“ fuhr die Frau fort, „auf dem Weg nach Paris, da haben wir einen kleinen Abstecher gemacht, in diese Stadt, die wollten wir immer schon einmal kennenlernen. Und da haben wir hier irgendwo geparkt, mitten in der Stadt, und uns leider die Straße nicht gemerkt, und als wir von unserem Rundgang zurückkamen, haben wir das Auto gesucht und gesucht, und nicht gefunden. Wir haben dann hier sogar übernachtet, obwohl wir längst schon in Paris erwartet wurden, und selbst am nächsten Tag haben wir noch ein Weilchen weiter gesucht, doch das Auto, wir haben es einfach nicht mehr gefunden. Da sind wir am Nachmittag schließlich mit dem Zug weitergefahren, zu unserem Hochzeitsquartier in das Pariser Hotel, wir waren doch auf Hochzeitsreise.“
Der Sachbearbeiter verstand die Welt nicht mehr.
„Sie sind einfach weitergefahren, mit dem Zug, ohne sich um den Verbleib Ihres Wagens zu kümmern?“
„Da hatten wir doch keine Zeit mehr zu. Wir hatten doch schon eine Nacht verplempert.“
„Und bei der Polizei haben Sie sich auch nicht gemeldet, damals?“
„Ehrlich gesagt“ meldete sich nun der Ehemann zu Wort, „wir haben uns damals so geschämt, vor allem ich, ich habe mich so geschämt. Gerade erst hatte ich den Führerschein, und dann finden wir plötzlich unser Auto nicht mehr, was meinen Sie, wie die Polizei sich da amüsiert hätte?“
„Und dann, wie ging’s dann weiter?“
„Dann haben wir zwei herrliche Wochen in Paris verbracht und ehrlich gesagt, nicht mehr so sehr an das Auto gedacht.“
„Nicht mehr so sehr an das Auto gedacht?!“
Der Sachbearbeiter des Straßenverkehrsamtes, Ernst Jobst, dessen berufliche Tätigkeit zu neunzig Prozent mit Autos zu tun hatte, verdrehte die Augen.
„Nun, ja, wir hatten halt etwas anderes im Sinn, auf unserer Hochzeitsreise, und dazumal noch in Paris.“
„Und dann, als die Flitterwochen vorbei waren; irgendwann mussten sie ja mal vorbeigehen. Haben Sie da wenigstens wieder an Ihren Wagen gedacht?“
„Gedacht schon, aber nichts mehr unternommen“ antwortete Herr Schneider.
„Nichts mehr unternommen? Was soll das heißen?“
„Wir sind mit dem Zug nach Hause gefahren und haben zuhause erzählt, der Wagen sei uns gestohlen worden, hier in dieser Stadt, doch wir hätten wenig Hoffnung, ihn jemals wiederzukriegen. Es war ja auch kein neuer, sondern ein ziemlich alter Wagen.“
„Sie haben zuhause erzählt, der Wagen sei gestohlen worden? Haben Sie das auch der Versicherung so erzählt?“
„Nein, nein, um Gottes Willen. Wir wollten doch keinen Versicherungsbetrug begehen. Außerdem hätten wir von denen sowieso nichts ersetzt gekriegt, das Auto war ja nicht mehr viel wert.“
Ernst Jobst wollte nicht glauben, was er da hörte.
„Wollen Sie damit sagen, dass Sie sich danach gar nicht mehr um Ihr Fahrzeug gekümmert haben?“
„Nicht die Bohne! Das hatten wir abgeschrieben.“
„Nicht die Bohne, das darf doch nicht wahr sein. Ja, und später. Haben Sie denn nie mehr etwas von dem Wagen gehört?“
„Nie mehr. Zuerst haben wir gedacht, er steht noch so da, wo wir ihn abgestellt haben, später dachten wir, dass man ihn wohl zwischenzeitlich gestohlen haben könnte, und dann haben wir aufgehört, an ihn zu denken. Ist ja auch schon so verdammt lang her!“


„Das können Sie laut sagen, ganz laut. Ich verstehe allerdings immer noch nicht, was Sie hier bei mir wollen, heute, wo das doch schon so verdammt lang her ist, wie Sie selbst sagen. Meinen Sie, der Wagen steht heute noch da, wo sie ihn einst vergessen haben?“
„Nun ja, wir sind jetzt auf einer Erinnerungsreise, wieder nach Paris, wie vor fünfzig Jahren, allerdings nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug, weil es so viel bequemer ist. Natürlich glauben wir im Grunde auch nicht mehr ernsthaft daran, unser altes Auto noch wiederzufinden, nach so langer Zeit, doch wie heißt das alte Sprichwort so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Der Sachbearbeiter konnte nicht mehr an sich halten; er prustete los vor Lachen.
„Das ist gut, das ist gut, das muss ich mir merken. So was gibt’s ja gar nicht. Sie sind mir aber ein herrliches Paar, wenn es Sie nicht gäbe, müsste man Sie erfinden.“

Die beiden Alten ließen sich von seinem Lachen anstecken, und bald ertönte ein Gelächter in dem Raum, wie man es seit Einrichtung des Straßenverkehrsamtes dort wohl noch nie vernommen hatte.
„Ja, meine Herrschaften“ zwinkerte Ernst Jobst schließlich dem Ehepaar Schneider zu, „Ihr Auto, das können Sie wohl wirklich mit Fug und Recht abschreiben, doch ich könnte etwas anderes für Sie tun.“
„So? Was denn, bitte?“
„Warten Sie’s ab“ erwiderte der Sachbearbeiter und griff zum Telefonhörer.
Sodann schilderte er einem befreundeten Redakteur der lokalen Presse das soeben Gehörte, mit allen Einzelheiten, wobei er immer wieder von heftigen Lachanfällen unterbrochen wurde.
„Na, wär’ das nichts für euch, Heinz Rudolf, ihr sucht doch immer nach solch skurrilen Begebenheiten?“ schloss er seine Erzählung.


Zwei Tage später stand in allen Zeitungen, lokal wie auch überregional, zu lesen:
‚Die Hoffnung stirbt zuletzt; Ehepaar sucht seit fünfzig Jahren sein Auto.’


Doch nicht nur in den Printmedien, auch in Funk und Fernsehen war man auf diese interessanten Eheleute aufmerksam geworden und reichte sie mit großem Erfolg von Talkshow zu Talkshow weiter.


Den Höhepunkt aber erreichte das ganze Spektakel in einer Galasendung einer Öffentlich Rechtlichen Fernsehanstalt an einem Samstagabend zur Hauptsendezeit, bei der dem mittlerweile berühmten wie beliebten Ehepaar die Schlüssel zu einem nagelneuen Kleinwagen überreicht wurden, gesponsert von einem großen Autohaus der Stadt, in der sie einst ihren alten Wagen stehen gelassen hatten.


Als die Eheleute Schneider sich am nächsten Morgen mit dem neuen Wagen unter dem Applaus zahlreicher Schaulustiger auf den Heimweg machten, kamen sie nicht weit.
Bereits nach zwei Straßenzügen wurde Robert, der den Wagen steuerte, dermaßen von einem Lachkrampf geschüttelt, dass er anhalten musste.
„Na, Schatz, wie haben wir das gemacht? Ein nagelneuer Wagen, ist das nichts? Das hat sich doch wohl gelohnt.“
„Und das Dollste daran ist“ pflichtete ihm Ute unter Tränen bei, Tränen des Lachens, „kein Mensch hat es für nötig gehalten, unsere Story zu prüfen oder sonst irgendwas zu recherchieren, die haben nichts, aber auch nichts nachgeprüft.“

Nach einer kleinen Pause stiegen sie wieder in den Wagen; die Frau schaltete das Radio ein.
Eine Rheinische Band spielte: Verdamp lang her;
und Robert und Ute Schneider sangen aus vollen Kehlen mit.
 



 
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